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Ein Besuch und eine Überraschung
ОглавлениеStuttgart, Februar 1848
August von Engel lief mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor dem Eingang des Hoppenlaufriedhofes hin und her. Seine Handschuhe hatte er ausgezogen und schlug sie im Takt seiner Schritte gegen seinen Rücken.
Bei jeder Kehrtwende blieb er kurz stehen und blickte in Richtung der Straße. Wo blieb der Bursche? Es hatte längst fünf Uhr geschlagen.
Noch einmal lief er fünf Meter hin und zurück. Da sah er eine Gestalt die Straße hochkommen.
»Wird langsam Zeit«, knurrte August. Das Gesicht seines Burschen glänzte nass. Schwer atmend trat der ihm entgegen.
»In wie vielen Häusern war sie?«, fragte August.
»In sieben«, gab der zur Antwort. »Sie kam stets gutgelaunt heraus.«
Er strafte den Burschen mit einem bösen Blick.
»Du sollst nicht beurteilen, nur beobachten«, fuhr er ihn an.
Dass Eleonore Herbst gerne den Samariter spielte, wusste er. Aber so häufig? Das war ungeheuerlich!
»Andere Häuser als gestern?«, fragte er.
»Ja«, antwortete sein Bursche einsilbig. Ein Anschnauzen reichte ihm wohl, was ihm nur recht war.
»Was hat sie getragen?«
»Ein schlichtes blaues Kleid. Wie eine Dienstmagd.«
»Du kannst gehen«, sagte August, machte kehrt und ging die Straße voran.
Das musste ein Ende finden, überlegte er. So verteilt sie ihr Vermögen unters Volk. Kannte sie keine Standesunterschiede? Ganz ihre Mutter. Die war ebenfalls aus der Reihe getanzt.
Die Schuld lag bei Konrad Herbst. Er hatte seine Frau gewähren lassen, nun ließ er Eleonore freie Hand. Wobei er die Möglichkeit in Betracht ziehen musste, dass der Anwalt nichts wusste vom Treiben seiner Tochter. Die schlich jedes Mal davon, wenn der nicht Zuhause war. Sollte er ihn einweihen? Was würde das bringen? Es konnte gewaltig schiefgehen. Im Geiste sah er den Anwalt milde lächeln. Besser er selbst unternahm etwas. Das musste aufhören.
In Gedanken war er in Richtung des Katharinenhospitals gegangen, in die Richtung, in der Eleonore wohnte. Wenn er sie gleich besuchen würde, träfe er sie vielleicht noch in den Kleidern einer Magd an. Das konnte er dann nicht ignorieren und sie musste ihm Rede und Antwort stehen. Ja, das wollte er tun.
Mit energischen Schritten eilte er weiter. Irgendwann würde sie ihm gehören und dann musste sie seinen Anweisungen folgen. Am Eingang schlug er den Türklöppel zweimal kräftig gegen die Tür. Er trat von einem Fuß auf den anderen.
»Der Herr Anwalt isch ned Dahoim«, sagte ihm die dicke Haushälterin, als sie die Türe öffnete.
Trotzdem trat August einen Schritt vor.
»Wer ist es?«, hörte er Eleonores Stimme von oben. Und gleich danach: »Der Herr Leutnant kann hochkommen. In den Salon.«
Die Haushälterin trat zurück. Polternd stieg er die Stufen hoch. Die Tür zum Salon stand offen und er trat ein. Eleonore wandte ihm den Rücken zu und blickte auf die Straße. Sie trug ein rotes Seidenkleid. Er unterdrückte den Impuls, ihr sofort eine Standpauke zu halten und hüstelte stattdessen. Endlich drehte sie sich ihm zu, kam ihm einen Schritt entgegen. Er schloss die Lücke, trat nahe an sie heran, nahm ihre Hand und hob diese an seinen Mund.
»Bei der Kälte machen Sie den weiten Weg?«, fragte sie.
»Kein Weg zu Ihnen ist mir zu weit.« Er hielt ihre Hand fest.
»Nehmen Sie Platz. Sie sind ja halb erfroren.« Eleonore lächelte. Immerhin schien sie sein Besuch zu freuen. Er ließ ihre Hand los.
»Es ist zu kalt für ausgedehnte Spaziergänge, wie Sie einen unternommen haben«, sagte er. Nachdenklich betrachtete er ihr Kleid. Das saß makellos. Nichts verriet, dass sie vor kurzem die einfachen Kleider einer Dienstmagd getragen hatte.
Sie sah auf seine Hände.
»Haben Sie ihre Handschuhe nur spazieren getragen? Ihr habt verfrorene Hände.«
»Mir ist nicht kalt«, sagte er. »Nicht kälter als es Ihnen sein muss.«
»Da haben Sie mich ertappt«, sagte sie. »Oder besser ihr Bursche.« Klang da Ironie mit? Hatten ihre Augenbrauen missbilligend gezuckt?
August räusperte sich. »Er sollte nur aufpassen. Es ist nicht ungefährlich, als junge Frau allein durch die Straßen zu gehen. Schon gar nicht in den Gegenden, wo Sie hingehen.«
Eleonore lachte von Herzen. »Wir Frauen sind keineswegs so hilflos, wie ihr Männer denkt. Sehen Sie, meine Mutter hat das all die Jahre überlebt.«
Er öffnete den Mund, da sprach sie bereits weiter.
»Sind Sie auch der Meinung, dass arme Menschen von Natur aus böse sind, dass sie nur danach trachten, die Besitzenden zu bestehlen?«
Worauf wollte sie hinaus?
»Ich bin nur um Ihr Wohl besorgt«, sagte er.
»Habt Dank für die Sorge, die Sie um mich hegen«, gab sie zur Antwort. Genauso gut hätte sie sagen können, es gehe ihn nichts an.
Er schluckte eine Bemerkung herunter. Bald ist es vorbei mit diesen Besuchen, dachte er. Vorbei mit der Maskerade als Magd.
»Gern geschehen.« Er rückte ein Stück an sie heran.
Eleonore wich zurück.
»Sie sind nur beleidigt, weil ich Sie nicht bat, mich zu begleiten«, sagte sie. »Wenn Sie wollen, können Sie morgen mit mir spazieren gehen.«
»Leider bin ich verhindert«, sagte er zerknirscht und beobachtete ihr Gesicht, achtete auf irgendwelche Regungen, auf ein Zeichen des Bedauerns.
Nichts.
»Der König reist nach Heilbronn, und ich habe die Ehre, zu seiner Eskorte zu gehören«, erklärte er.
»Oh, das wusste ich nicht. Dann holen wir den Spaziergang nach, wenn Sie zurück sind«, sagte Eleonore.
Ihre Stimme klang teilnahmslos, als spräche sie über das Wetter. Da kam ihm ein Gedanke. Konnte es sein, dass sie von seiner bevorstehenden Abreise erfahren hatte? Der König stand ja in Kontakt mit Konrad Herbst. Zum Teufel mit dem herumlamentieren! Warum gehe ich die Sache nicht direkt an?
»Ihre verehrte Frau Mutter ist nun sechs Wochen tot. Eine lange Zeit.« Er stockte, nahm ihre Hände, hielt sie fest. »Ich bin immer für Sie da, und was Eure Zukunft angeht, Fräulein Eleonore …« Erneut hielt er inne, spürte, dass sie ihre Hände zurückziehen wollte. Wie ein Aal, dachte er. Ein Katz-und-Maus-Spiel. Wenn er einen Schritt auf sie zuging, wich sie zurück. Ihre Lippen blieben verschlossen.
Von unten erklangen aufgeregte Stimmen. Türen wurden auf- und zugeschlagen. Eleonore löste sich von ihm, stand auf und trat in den Flur hinaus.
»Was ist das für ein Tumult?«, rief sie. Klang ihre Stimme erleichtert? Er folgte ihr, trat direkt hinter sie, roch ihren lieblichen Duft und starrte den Flaum ihrer
Nackenhaare an. Mit aller Anstrengung riss er sich zusammen. Das musste warten. Erst einmal musste er für klare Verhältnisse sorgen.
»Maria? Maria?«, hörte er unten Konrad Herbst rufen.
Er folgte Eleonore, die die Treppe hinunterging. Der Anwalt eilte von Tür zu Tür, riss jede auf und rief erneut nach der Haushälterin. Die Haustür stand offen.
»Ah! Du bist wenigstens Zuhause«, sprach er Eleonore an und strahlte. »Du musst packen, Liebes. «
Jetzt erschien die Haushälterin.
»Maria, wo stecken Sie?«, fragte Konrad Herbst. »Wir verreisen. Helfen Sie Eleonore beim Packen.«
Die Haushälterin wischte ihre Hände an der Schürze ab. »Des Essa isch gloi ferdich«, sagte sie ungerührt.
August hüstelte. Der Anwalt nahm von ihm Notiz, trat vor, reichte ihm die Hand und murmelte ein paar Worte.
»Morgen früh geht es los«, redete Konrad Herbst an Maria gewandt weiter, die jedoch längst in die Küche entschwunden war. Respekt kannte hier niemand.
»Begleiten Sie ebenfalls den König?«, fragte August den Anwalt.
»Nein«. Konrad Herbst schüttelte den Kopf. Eleonore stand ebenso überrumpelt da, drang aber nicht in ihren Vater ein und wartete geduldig.
»Es wird eine längere Reise«, fuhr Herbst fort und zwinkerte seiner Tochter zu. Was sollte das bedeuten? So aufgekratzt hatte er den Anwalt noch nie erlebt.
»Wir reisen nach Berlin«, sagte Konrad Herbst.
Eleonore hob erschrocken eine Hand vor den Mund. »Nach Berlin!«
»Oder möchtest du zuhause bleiben? Du müsstest freilich eine Weile ohne mich auskommen«, scherzte ihr Vater.
August sah abwechselnd zu Eleonore und ihrem Vater. Sie zeigte jetzt die Reaktion, die er zuvor erwünscht hatte, als er ihre gemeinsame Zukunft erwähnte. Ihre Augen strahlten unbändige Freude aus.
»Berlin.« Sie hauchte es beinahe.
»Bleiben Sie zum Essen, Herr von Engel?«, fragte der Anwalt. »Verzeihen Sie, Herr Leutnant, dass ich ein schlechter Gastgeber bin.«
»Nein, ich muss in die Kaserne«, antwortete er.
»Dann achtet mir gut auf seine Majestät«, bat Eleonores Vater. »Ich verspreche Ihnen, gut auf Eleonore aufzupassen.«
Er schluckte. Seine Pläne schienen ihm auf Wochen hinaus verschoben. Zeit, die er nicht mehr hatte.
»Ich könnte Ihnen meinen Burschen mitgeben«, bot er an.
August sah, dass Eleonore den Atem anhielt und versuchte, mit ihrem Vater Blickkontakt aufzunehmen. Der wandte ihr die Seite zu. Er legte eine Hand auf seine Schulter.
»Danke, das wird nicht nötig sein«, sprach er ihn an. »Ihr Bursche könnte Maria ein wenig zur Hand gehen, vielleicht ein paar Botengänge übernehmen.«
Er kochte innerlich. Nun musste er seinem Burschen beibringen, dass er Hilfsdienste ausführen sollte. Wie konnte er ihm gegenüber sein Gesicht wahren? Sein Ärger wuchs weiter an, als er sah wie Eleonore strahlte.
August zuckte zusammen, als ihm Eleonore eine Hand auf den Arm legte.
»Ich wünsche Ihnen eine gute Reise«, sagte sie.
»Essen isch ferdich«, rief die Haushälterin aus der Küche. Sie erschien in der Tür und sah ihn an.
»Bleibet Sie ned?«, fragte sie.
In Augusts Kopf brauste es. »Nein«, antwortete er lahm.
Der Anwalt reichte ihm die Hand. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass Eleonore zur Haushälterin trat und ihr etwas ins Ohr tuschelte.
»Was gibt es für Geheimnisse?«, fragte Konrad Herbst. »Lasst uns essen, damit wir bald packen können. Wir werden nur das Nötigste mitnehmen. Alles weitere kaufen wir unterwegs. Die Sache duldet keinen Aufschub.«
August hätte gerne gewusst, was Eleonore da gesagt hatte. Und ihn interessierte, was den Anwalt nach Berlin trieb. Was keinen Aufschub duldete.
»Ich habe Maria nur instruiert, welche deiner Arzneien sie uns einpacken soll«, sagte Eleonore. Eine billige Ausrede, dachte er. Ihrem Vater reichte die Erklärung.
Der gab ihm flüchtig die Hand und eilte davon.
»Ich wollte …«, begann er. Eleonore legte einen Zeigefinger auf ihre Lippen.
»Ein andermal«, sagte sie.
Bevor sie ihm endgültig entglitt, gab er ihr zum Abschied seine Hand. Ihre schien ihm heiß, als habe sie plötzlich Fieber bekommen. Ihr strahlendes Gesicht passte nicht dazu.
»Auf bald«, sagte er. Im nächsten Moment stand er auf der Straße.
***
Eleonore aß nur wenige Bissen des Abendessens, obwohl gebratene Hühnerschlegel eine ihrer Leibspeisen war. Sie ignorierte den tadelnden Blick Marias, die noch ihre Schürze trug. Ganz war die Aufregung an ihr nicht vorbeigegangen, dachte Eleonore. Wo sie doch sonst darauf achtete, nicht ungepflegt am Tisch Platz zu nehmen.
Arme Maria. Obwohl sie ihre Vertraute war, konnte sie nicht ahnen, welcher Aufruhr in ihr tobte.
Berlin!
Eleonore schielte zu ihrem Vater. Was mochte in Berlin so dringend sein? Bestimmt ein Auftrag des Königs, das stand fest. Das erklärte die Eile. Königliche Angelegenheiten waren stets dringend.
Sie seufzte. Ihr konnte der Grund gleich sein. Es ging in die weite Welt hinaus, quer durch Deutschland. Wie lange fuhr man bis Berlin? Bestimmt gab es für einen Großteil der Strecke Züge.
Berlin!
Sie kannte Esslingen, Tübingen und Stuttgart. Weiter als bis Frankfurt war sie nie gekommen. Dörfer im Vergleich zur preußischen Hauptstadt.
Sie legte ihr Besteck zur Seite.
»Es ist viel zu tun«, sagte sie.
Ihr Vater nickte, Maria schüttelte den Kopf.
Eleonore rannte die Treppe hoch. In ihrem Zimmer fiel sie rücklings auf ihr Bett.
Berlin!
Würde sie Frau von Arnim treffen? Es musste ihr irgendwie gelingen. Vater würde bestimmt Besuche machen. Gab nicht Frau von Arnim einen Salon in Berlin? Auf alle Fälle würde sie die Wohnhäuser der Armen anschauen.
Eleonore sprang hoch und ging zu ihrem Kleiderschrank. Sie wählte ihr blaues Seidenkleid und nahm auch das Bündel, in dem sie ihr schlichtes Kleid verwahrte.
Bald lagen Kleider, Hüte und feine Schals wild durcheinander. Sie musste zwischendurch innehalten. Eleonore trat an die Kommode und lächelte ihr Spiegelbild an.
Ich muss Maria fragen, ob sie das mit den Tauben verstanden hat. Gut, dass sie daran gedacht hatte. Würde das wirklich gehen, würde es so sein, wie sie erhoffte? Ihre Haut glühte, als heizten ihre Gedanken ihren Körper auf.
Auf der Kommode stand ihr Waschwasser. Hatte ihr August heute einen Antrag machen wollen? Sie schlüpfte aus ihrem Kleid, ließ es zu Boden sinken.
Sie atmete ein paar Mal tief durch, sah ihre Brust jedes Mal anwachsen unter dem Mieder. Eleonore nahm den Waschlappen, tränkte ihn in der Waschschüssel und blickte ihr Spiegelbild an. Habe ich zu große Brüste, überlegte sie kritisch? Oder waren sie zu klein? Marias Busen stellte den ihren auf jeden Fall in den Schatten.
Mit einem Mal wurde sie ernst. In Berlin traf sie bestimmt auf junge Männer, die ihr den Hof machen würden. Von Engel war weit weg. Gott sei Dank hatte Vater dessen Burschen als Begleitung abgelehnt.
Eleonore wischte über ihre Wangen, den Hals, tränkte den Lappen erneut im Wasser und fuhr ihre nackten Schultern entlang. Das kühle Wasser tat gut. Sie legte den Lappen zur Seite, löste das Mieder und nahm ihn wieder auf. Langsam fuhr sie in ihren Ausschnitt, rutschte tiefer und spürte, wie ihre Brustwarzen hart wurden. Sie schloss die Augen. Wenn das die Hand eines geliebten Mannes wäre. Ein vages Bild entstand in ihrem Kopf. Es war nicht das Gesicht August von Engels …