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Herzlich Willkommen
ОглавлениеBremerhaven, Januar 1848
Das Paketschiff glitt durch die Hafeneinfahrt Bremerhavens. William Garrison Euskirchen kletterte behände die Sprossen der Wanten hinauf und hielt sich an den Tauen fest, die von einer dünnen Eisschicht überzogen waren. Schemenhaft tauchten zwischen einzelnen Nebelschwaden die Umrisse der Häuser auf.
William beugte sich weit vor, packte das Tau fester und ignorierte den aufkommenden Schmerz. Kälte kroch durch das Leder seiner Handschuhe. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Land. Dreizehn Jahre waren vergangen, seitdem er die Heimat als Kind verlassen hatte. Zurück kam er als Korrespondent. Würde es ihm gelingen, an seine Erfolge anzuknüpfen?
Um besser sehen zu können, kniff William die Augen zusammen. An der Kaje warteten Fuhrwerke, daneben standen ein paar Männer, in dicke Mäntel gehüllt. Über den Rücken der Pferde lagen grobe Decken, Atemwolken stiegen aus den Nüstern der Tiere. Keine der Gestalten kam ihm bekannt vor. Erwartete er allen Ernstes, dass Friedrich ihn hier bereits begrüßte? Würde er ihn überhaupt erkennen? Vor vierzehn Jahren hatten sie einander zuletzt gesehen, und da war er noch ein Knabe gewesen. Es gab so viele Fragen. Warum hatte sein Bruder nie mit ihm Kontakt aufgenommen? Hatte Friedrich ebenfalls angenommen, er sei tot? Hatten sie ihn ebenso belogen?
Möwen kreischten oben im Nichts. Gleich Lotsen geleiteten sie die Boston. Ihr Erscheinen war allgemein begrüßt worden, versprachen sie doch eine baldige Ankunft. Unter William drängten die Passagiere an die Reling, schwatzten in allerlei Sprachen und Dialekten durcheinander. Matrosen verrichteten fluchend ihren Dienst inmitten dieses gestikulierenden Menschenknäuels.
Das Schiff glitt langsam der Hafenmauer entgegen und die Wasserfläche dazwischen schrumpfte mehr und mehr zusammen, bis nur noch ein schmaler, dunkler Streifen verblieb. Wellen klatschten gegen die Bordwand, Kommandos ertönten. Die Matrosen holten Segel um Segel ein. Die Taljen quietschten, Füße t auf dem Deck und ließen die Planken erzittern. Alle Geräusche verwoben zu einer Melodie, die vom Ende einer langen Reise kündete. Taue flogen an Land und dienstbare Geister griffen die wassertriefenden Hanfseile auf, zurrten sie an dicken Pollern fest. Die letzten Wasserreste zwischen Rumpf und Befestigungsmauer gurgelten davon und polternd schlug der Holzsteg auf die Kaje. Das Schiff kam zur Ruhe.
Die Passagiere wurden umso lebendiger. William sprang auf die Planken, mitten hinein in das Durcheinander. Seine Hände waren steif vor Kälte. Mehrmals ballte er sie zu Fäusten, bis schmerzhaft sein Blut wieder zu zirkulieren begann.
»So haben Sie das Ziel Ihrer Reise erreicht«, riss ihn die schnatternde Stimme von Blasius aus seinen Gedanken. Der stand dicht hinter ihm. William roch den nach altem Käse stinkenden Atem des Stoffhändlers. Wie ein Schatten hatte ihn der Mann verfolgt. Ihm aus dem Weg zu gehen war schlichtweg unmöglich gewesen, zumal Stürme sie tagelang unter Deck festgehalten hatten.
Demonstrativ wandte er ihm den Rücken zu. Blasius zeigte sich wenig beeindruckt, rückte noch näher heran und zupfte ihn am Ärmel.
»Ein Wort im Vertrauen«, raunzte er.
William drehte sich um. »Was denn?« Er schob die Hand des anderen beiseite.
»Es ist gefährlich, Briefe einzuschmuggeln«, flüsterte Blasius.
William erstarrte. »Woher wisst Ihr …?« Er brach ab. Blasius musste ihn beobachtet haben.
Der nickte. Seine listigen Augen blitzten.
»Das geht Euch nichts an«, blaffte William, der sich wieder gefangen hatte. Er sah dem Händler in die Augen. »Es ist auch gefährlich, sich in anderer Leute Angelegenheiten zu mischen.«
Blasius wich von ihm ab. Zum ersten Mal.
Der Sog der übrigen Passagiere trennte sie. William schob die dicht beieinander wogenden Menschen zur Seite und erreichte den Holzsteg. Nur mit Mühe fand er Halt am Seil des Steges. Immer wieder stießen ihm Mitreisende ihre Ellenbogen in die Seiten, traten ihm fremde Füße auf seine. Endlich war er durch.
William ging wenige Schritte auf den Pflastersteinen und blieb stehen. Nun lag es an ihm, Erfolg zu haben, gelesen zu werden. In Gedanken sah er die Artikel, die er in die Staaten senden würde, sah den Hinweis:
Von unserem Korrespondenten William Garrison Euskirchen.
Seine Artikel gegen die Sklaverei hatten in Boston für Aufsehen gesorgt. Dazu war Blut geflossen. Nicht nur sein Blut. William presste seine Lippen zusammen. Er glaubte an die Kraft des geschriebenen Wortes, daran, dass Änderungen möglich waren.
In einem großen Netz hievten Matrosen das Gepäck der Passagiere von Bord. Koffer und Taschen purzelten auf den Boden wie ein Fang frischer Fische. Gleich darauf folgten die ersten Frachtkisten. Ein Schatten trat in Williams Blickfeld. Vollmatrose Moore. Er trug Williams Seekiste. Auf seinen Schultern glich sie einem Spielzeug. Der Seemann blickte umher und winkte einem Mann, der ein paar Meter entfernt mit seinem Leiterwagen stand. Der Dienstmann trottete heran und nahm seine Mütze ab.
»Wenn’s recht ist, werde ich Ihr Gepäck zum Gasthof bringen«, bot Moore William an und knallte die Kiste auf den Leiterwagen.
»Sagt dem Wirt, ich komme nach.« Er fischte aus seiner Jacke ein paar Münzen und reichte sie Moore. »Das Amtshaus …«
»Ist gleich dort oben«, fiel ihm der Matrose ins Wort. »Sie kommen direkt darauf zu.«
»Und den Goldenen Schlüssel finde ich in einer der Nebenstraßen?«
»In der Mittelstraße«, sagte Moore. »Bereits die zweite Abzweigung. Die Stadt ist noch recht klein.«
»Dann sehen wir uns später zu einem Bier«, sagte William.
Moore war ihm im Laufe der vierzigtägigen Überfahrt stets eine Hilfe gewesen. Der Seemann grinste breit, tippte an seine Stirn, als salutiere er, und marschierte los. Der Leiterwagenmann folgte. Die beiden Männer verschwanden im Nebel. William hörte noch eine Zeit lang die Holzräder über das Pflaster rumpeln.
Die meisten Passagiere hatten die Kaje verlassen. Blasius stand wenige Meter entfernt und sprach mit einem glatzköpfigen Mann, den William nicht kannte. Im Gegensatz zu ihm wurde der Stoffhändler also empfangen. Er sah, wie der Mann Blasius eine Münze reichte. Der beäugte das Geld, als sei es ein Schmuckstück, wendete es ein paar Mal und gab es mit einem Kopfnicken zurück. Dann legte er eine Hand auf die Schulter des Glatzköpfigen, ging mit diesem ein paar Schritte und überreichte ihm einen Umschlag. Was mochte Blasius dem Fremden überreicht haben?, überlegte William. Er wusste von diesem kaum etwas, hatte aber das Gefühl, dass der nahezu alles von ihm wusste.
Der Glatzköpfige klemmte den Umschlag unter seinen Arm und stakste die Straße hoch. Blasius sah ihm nach, entdeckte William und trat auf ihn zu.
»Eine dringende Sache, nichts für die Schneckenpost«, erklärte er. Dann rief er eine nahestehende Kutsche heran. »Ihnen eine glückliche Heimkehr«, murmelte Blasius noch, dann wandte er ihm den Rücken zu.
William deutete eine Verbeugung an. Ihm sollte es recht sein, dass der Mann kein Interesse mehr an ihm hatte. Leb wohl, du Klette, dachte er. Auf dass wir uns nie mehr wiedersehen.
Vorsichtig ging er über das nass glänzende Pflaster weiter. An den Rändern lagen schmutziggraue Schneereste. Nach einer Weile sah er ein Haus, dessen Front von vier Säulen dominiert wurde. Das musste das Amtshaus sein. William blickte zum Anlegeplatz. Weitere Passagiere folgten ihm. Er wollte die Formalitäten schnell hinter sich bringen.
Friedrich hatte ihm geschrieben, wie er mit den Behörden umgehen sollte. Einen Satz hatte er unterstrichen: »Achte die Interessen der Behörden, und sie werden bald jedwedes Interesse an Dir verlieren.« Dazu gehörte nun einmal die polizeiliche Meldung.
William betrat das Gebäude und stand bald einem streng dreinblickenden Mann in Uniform und mit Backenbart gegenüber. Er dachte an Blasius und die Papiere, die er unter dem Hemd verbarg. Wie Feuer lagen sie auf seiner Brust. Es war seine Idee gewesen, Briefe von Auswanderern mitzunehmen und sie direkt den Verwandten in Deutschland zu übergeben. Dabei ging es William nicht darum, die Briefe an der Zensur vorbei zu schmuggeln, mehr um den direkten Kontakt mit den »Daheimgebliebenen«, über die er berichten sollte.
William unterdrückte den Impuls, zu schlucken. Stattdessen lächelte er und händigte seinen Ausweis aus. Der Beamte schrieb Notizen in ein Buch, sah von Zeit zu Zeit auf, fixierte William eindringlich und vertiefte sich wieder in das Papier.
»Sie sind amerikanischer Staatsbürger«, brummte der Beamte. War das eine Frage oder eine Feststellung? »Die Angaben Ihrer Statur entsprechen den Tatsachen. Sogar die Narbe ist vermerkt.«
Die Narbe!
Sie verlief in gerader Linie, wie eine Rinne, vom Haaransatz hinunter bis zu seiner linken Augenbraue. Eine stete Mahnung an William, besonnener zu handeln.
Der Beamte las weiter: »Hier steht, Sie wollen Deutschland bereisen.« Er hob seine Stimme: »Das ist sehr ungenau. So geht das nicht. Sie sind mit ihren dreiundzwanzig recht jung. Man hört so viel von herumziehenden, Unruhe stiftenden Studenten.«
»Ich bin Korrespondent«, sagte William.
»Und weiter?« Der Beamte sah ihn erwartungsvoll an. Wie ein Lehrer, der auf die Antwort seines Schülers wartete, insgeheim aber schon ahnte, dass dieser nichts wusste.
William wollte Zeit gewinnen und betrachtete die große Landkarte, die an der Wand hing. Sie zeigte die Staaten des Deutschen Bundes. Da jeder Staat anders eingefärbt war, ähnelte sie einem bunten Flickenteppich. Alle sechsunddreißig Staaten, mochten sie noch so klein sein, regierte jeweils ein Fürst. Dessen Angehörige, Prinzen und Prinzessinnen, lebten auf Kosten des Volkes.
William tippte auf die Karte. »Zunächst nach Berlin«, sagte er.
Wie mochte es Friedrich ergehen?
»Und weiter?« fragte der Beamte.
Pochte seine Narbe? Die Briefe würden seine Reiseroute bestimmen, doch davon konnte er nicht erzählen. Williams Finger strich über die Karte nach unten und schwenkte nach links.
»Natürlich werde ich Stuttgart besuchen, meine alte Heimat.«
Die Augen des Beamten folgten seinem Finger. Wie eine Hyäne, die Blut gerochen hatte. William überlegte, wie er den Beamten befriedigen konnte. Würde Geld helfen? Ihm kam eine bessere Idee. William trat von der Karte zurück und nestelte an seinem Mantel herum. Papier raschelte unter dem Stoff.
Die Augen des Beamten wurden groß. »Was verbergen Sie da?«
William zog die Zeitung hervor, die er eingesteckt hatte.
»Es ist verboten, deutschsprachiges Schriftgut aus dem Auslande einzuführen«, belehrte ihn der Beamte.
»Dies ist mehr eine Heimkehr.« William strich das Titelblatt glatt. Es war eine Ausgabe der »Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung« vom Sommer des letzten Jahres. Zwischen den Anzeigen für Bandwurmkuren und einem Café, das zum Tanzabend einlud, hatte er eine Annonce seines Bruders entdeckt.
»Also Preußen!«, stellte der Beamte fest. »Und wohin in Berlin? Kennen Sie denn jemanden dort?«
William blickte auf. »Mein Bruder ist Portraitmaler am Hof des Königs.«
Der Beamte nahm schlagartig Haltung an. Als sei der König in diesem Moment selbst eingetreten. William unterdrückte ein Schmunzeln. In Wahrheit wusste er nicht, ob sein Bruder tatsächlich am Hof des Königs verkehrte. In der Anzeige hatte nur gestanden, dass der am Hofe bekannte Portraitmaler Friedrich Euskirchen seine Dienste anbot.
Der Beamte vergrub seine dicke Nase erneut in Williams Ausweis, murmelte ein paar unverständliche Worte und kritzelte etwas hinein. Zum Schluss stempelte er ihn lautstark ab und gab ihn endlich zurück. »Heute werden Sie kaum weiterreisen. Wo gedenken Sie zu nächtigen?«
»Im Goldenen Schlüssel«, antwortete William, der froh war, dass er sich an den Namen der Gastwirtschaft erinnerte, die ihm Moore empfohlen hatte.
Der Beamte notierte dies in seinem Buch. Die weiteren Formalitäten waren schnell erledigt. Nein, zu verzollen habe er nichts. Sein Gepäck, ein paar Kleider, Schreibzeug und Bücher, seien bereits im Gasthof.
Wieder vor dem Haus atmete William tief durch. Und jetzt zur Post. Die lag in unmittelbarer Nähe. Es gab zwei Eingänge. Einer war für die Hannoverische Post, der andere für die Bremische. Da der ganze Postverkehr in die Vereinigten Staaten über Bremerhaven abgewickelt wurde, wählte William den bremischen Eingang. Wieder stand ihm ein Mann mit Backenbart gegenüber.
»Ich bin Korrespondent aus Amerika und möchte immer wieder Briefe in die Vereinigten Staaten senden«, erklärte William.
»So, so, aus Amerika«, bemerkte der Postbeamte. »Wenn Sie mir Ihren Namen eintragen wollen.« Der Mann reichte ihm Papier und Bleistift.
Anstelle einer Landkarte hing hier ein Plakat, das die feierliche Ankunft des Raddampfers Washington zeigte. Darunter stand ein Datum: 19. Juni 1847. Das lag gerade mal ein halbes Jahr zurück.
»Ein großer Tag für Bremerhaven. In nur achtzehn Tagen über das große Meer«, sagte der Beamte stolz, nachdem er Williams Blick zum Plakat bemerkt hatte. William füllte den Zettel aus und reichte ihn zurück. Er hatte wegen des billigeren Preises das Segelschiff vorgezogen.
»Ah!«, entfuhr es dem Postbeamten. »Herr Euskirchen.« Damit verschwand er durch eine Tür, kam aber gleich darauf zurück und gab ihm einen Umschlag.
»Der wurde für Sie angeliefert.«
Ein verblasstes Blau, wie bei den beiden anderen Briefen, die ihm Friedrich geschrieben hatte. William erkannte die Handschrift seines Bruders: »An Herrn Wilhelm Euskirchen, eintreffend aus Amerika«. Ohne Rücksicht auf den Beamten riss er den Brief auf und überflog die wenigen Zeilen.
»Schlechte Nachrichten?«, fragte der Postbeamte.
William schüttelte den Kopf. Es fiel ihm schwer, seine Enttäuschung zu verbergen. Berlin lag nahe, aber das Wiedersehen mit seinem Bruder schien erst einmal auf unbestimmte Zeit verschoben.
Auf einer separaten Karte hatte Friedrich eine Berliner Adresse notiert und dazu geschrieben, hier könne er fürs Erste unterkommen. William faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seine Manteltasche.
»Ich reise bis in den Süden Deutschlands und werde Ihnen immer wieder Briefe senden, die mit dem nächsten Postschiff nach New York gehen sollen.«
Der Backenbärtige leierte die Tarife herunter. Je Brief seien das fünfzehn Silbergroschen oder nach amerikanischer Währung sechsundvierzig Cent.
»Ich zahle einen größeren Betrag im Voraus«, sagte William, griff in seine Tasche und legte Geld auf den Tisch. Die Augenbrauen des Beamten hoben sich.
»Ich bitte Sie, Buch zu führen«, fuhr William fort. »Wenn ich wiederkomme, können wir dann abrechnen.«
So schwierig, wie Friedrich ihm den Umgang mit der Obrigkeit geschildert hatte, empfand William das gar nicht. Er griff erneut in seine Tasche und fischte weitere Münzen hervor.
»Für Ihre Mühe«, sagte er.
Der Postmeister strahlte. Mit einem Mal war er zuvorkommend und höflich. Ja, natürlich, eingehende Briefe für ihn könne man ihm nachsenden, egal, wohin er in Deutschland reisen würde. Wenn er nur immer schön seine Adresse weitermeldete.
William trat aus dem Postgebäude. Der Nebel hatte sich verzogen, dafür schneite es. Er lief am Hafenbecken entlang. Dicht an dicht vertäut lagen dort die Segelschiffe. Gedämpft drangen Stimmen an Land. Packhäuser und Handelskontore säumten die Straße. Er begegnete nur wenig Passanten.
Gegenüber einem Frachtsegler nahm er auf einen Poller Platz. Über ihm wirbelten dicke Schneeflocken vom dunkelgrauen Himmel herab. Monoton klatschten die Wellen gegen die Mauer. Er schlang den Mantel um sich, stellte den Kragen hoch und neigte den Kopf nach vorne. Seine Gedanken wanderten zurück, zu längst vergangenen Tagen, zu längst vergessenen Orten. Sie waren damals über Le Havre ausgewandert. Dort hatte Vater ihm gesagt, Friedrich sei gestorben. Warum hatte er gelogen? Er hoffte, von Friedrich darauf eine Antwort zu erhalten. War es nicht seltsam, wieder einen Bruder zu haben? Jemanden, mit dem er vertrauensvoll reden konnte. Wenn sie doch nur bereits einander gegenüberstehen würden.
Irgendwo hinter William erklang eine einzelne Schiffsglocke, der bald weitere folgten. Sie verkündeten die Zeit und holten ihn zurück in das Hier und Heute, brachten sein Gemüt in Gleichklang. Er stand auf. Genug geträumt, mahnte er sich und klopfte den Schnee von seiner Kleidung.
Gleich in der ersten Seitenstraße sah er das Wirtshausschild Zum Goldenen Schlüssel. Mit großen Schritten eilte er die Straße entlang. Schwungvoll betrat er die schummrige Gaststube und übersah dabei den tiefhängenden Türbalken. Es gab einen dumpfen Laut. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Kopf. Er taumelte vorwärts, griff nach dem Rahmen und schnappte nach Luft. Keiner nahm von ihm Notiz, alle waren sie in Gespräche vertieft. Ein von der Gestalt her rundlicher Wirt versorgte die zahlreichen Gäste emsig mit Bierkrügen. Ein Mädchen ging ihm zur Hand. Sie entdeckte William, der orientierungslos an der Tür lehnte und deutete mit dem Kopf auf einen freien Tisch, der vor dem offenen Kamin stand. Noch etwas benommen ging William durch umherwabernde Rauchschwaden zu dem angewiesenen Platz. Seufzend plumpste er auf einen Stuhl. Der Gastraum war dunkel und gedrungen. Es roch nach Tabak, Schweiß und muffigen Kleidern. William streckte seine Beine aus. Wasser rann seine Stiefel hinunter auf die Holzdielen und verschmolz mit den Pfützen, die bereits den Boden bedeckten. Offenbar war er nicht der erste Gast, der sich hier aufwärmte.
Er strich die rebellische Locke über seinem linken Auge zur Seite und zuckte vor Schmerzen zusammen. Neben der Narbe fühlte er deutlich eine Beule.
Das Mädchen trat an seinen Tisch. »Was darf es sein?«, fragte sie.
William blickte umher.
»Ein Bier und das gleiche wie der Herr dort drüben«, bestellte er und zeigte zu einem Nebentisch.
Ein Holzscheit knackte im Feuer, Funken stoben in die Höhe. Die letzten Schneeflocken in Williams dunklen Haaren schmolzen dahin. Er öffnete die Knöpfe seines Mantels, zog ihn aus und legte ihn über die Stuhllehne. Die satte Wärme schläferte ihn ein. Hin und wieder betraten neue Gäste die Schankstube und brachten eine kühle Brise mit.
Ein weiterer Gast trat ein. William erkannte den Glatzköpfigen, runzelte die Stirn und richtete sich auf. Der hatte ihn nicht gesehen, ging zu einem Tisch in der Ecke, hob eine Zeitung auf und begann zu lesen. Vor ihm lag der Umschlag, den ihm Blasius übergeben hatte. Dessen Dringlichkeit schien den Boten nicht zu kümmern.
Das Mädchen brachte Williams Essen. Erbsenbrei mit verkochten Kartoffeln und einer Scheibe trockenen Schwarzbrots. William aß mit wachsendem Appetit. Kein Festmahl, aber allemal besser als die karge Kost auf dem Segelschiff. Erst als er die letzten Reste des Breis mit dem Brot aufgetunkt hatte, blickte er wieder hoch.
Der Glatzköpfige legte gerade die Zeitung beiseite, nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas und entdeckte dabei William. Einen Moment verharrte er in der Bewegung. Dann stellte er das Glas ab. Zitterte dabei seine Hand oder war es nur eine Sinnestäuschung? Der Mann wich seinem Blick aus, stand auf, legte ein paar Münzen auf den Tisch und eilte zum Ausgang. Dort erschien Moores massige Gestalt. Der Glatzköpfige drückte sich an dem Seemann vorbei. Moore strahlte William an.
»Lausiges Wetter.«
»Kann man sagen«, murmelte William abwesend. Dann wuchs in ihm die Vorfreude auf einen langen Abend mit Moore. Bei einem Bier würde es nicht bleiben.
»Sieh sich das einer an«, rief der Wirt im Hintergrund. Er hielt eines der Geldstücke des Glatzköpfigen in die Höhe.
»Eine Münze mit zwei identischen Seiten«, sagte er in die Runde und reichte sie weiter. Sie gelangte zu William. Der staunte ebenfalls. Es war ein Silbergroschen. Beide Seiten zeigten den Kopf Friedrich Wilhelm IV, des preußischen Königs. Wohl eine Fehlpressung, überlegte er. Dann sah er wieder den Stoffhändler, wie der eben von diesem Mann eine Münze erhalten und eingehend geprüft hatte. Besaß der Glatzköpfige noch mehr dieser Fehlprägungen? Was mochte der Grund sein?
»Ich würde Ihnen gerne die Münze abkaufen«, sagte William zum Wirt. »Für den doppelten Wert. Es sind ja auch zwei Könige drauf.«
Die übrigen Gäste lachten schallend.
Der Wirt nickte. »Warum nicht?«