Читать книгу Nicht für alle Zeit - Michael Kress - Страница 5

Оглавление

Abschied

Stuttgart, Januar 1848

Der eisige Januarwind schlug Eleonore Herbst entgegen, als sie aus der Kutsche stieg, und ließ sie frösteln. Gedankenverloren griff sie nach ihrem Hut, um ihn festzuhalten. Ihre schlanken Finger bekamen die Hutnadel zu fassen. Natürlich, sie hatte ihn an ihrem braunen Haar fixiert, das im Nacken zu einem Knoten geschlungen war. Das war ihr entfallen, wie so vieles in den letzten Tagen. Sie ließ ihre Hand sinken, blieb stehen und wartete, bis ihr Vater ausgestiegen war.

Vor dem Eingang zum Stuttgarter Hoppenlaufriedhof standen die Trauergäste. Zur Linken die einfachen Leute. Eleonore erkannte den Böttcher Vogt, von dem alle Fässer im Haus stammten, vom Butterfässchen bis hin zu den großen Tonnen, worin sie die Äpfel aufbewahrten. Gib den Menschen Arbeit, niemals Almosen, war die Maxime ihrer Mutter gewesen. Sie wollte das fortführen. Darum hatte Eleonore ihn gebeten, ein paar Kränze zu flechten. Das handwerkliche Geschick dazu hatte er. Ein Anfang. Sie musste später daran denken, ihm seinen Lohn auszuzahlen.

Zur Rechten warteten die Honoratioren Stuttgarts in ihren dunklen Anzügen. Darunter Bürgermeister Gutbrod, weitere Stadträte, Fabrikanten und Rechtsgelehrte, Kollegen ihres Vaters. Dabei stand auch Leutnant August von Engel, der alle um einen Kopf überragte. Er war ihr bereits in der Kirche aufgefallen. Nie, so schien es ihr, verlor er sie aus den Augen. Leutnant von Engel, eine gute Partie, wie alle sagten. Er war der Letze einer alten Adelsfamilie, besaß ein Landgut und diente in der Garde des Königs. Sein Tschako saß ihm akkurat ausgerichtet auf dem Kopf. Die silberfarbenen Pompons blitzten jedes Mal auf, wenn die tiefstehende Sonne hinter einer Wolke zum Vorschein kam. »Ich bin für dich da«, hatte er gesagt. Sie spürte seinen eindringlichen Blick.

Eleonore hörte Hufe auf das Pflaster schlagen und wandte sich um. Ein Mann im dunklen Anzug führte den Leichenwagen in den Friedhof hinein, der Pfarrer folgte. Ihr Vater hielt ihr seinen angewinkelten Arm hin und sie trat neben ihn, hakte sich ein. Die Geste weckte eine Erinnerung an ihre Mutter, wie sie neben ihrem Vater einherging. Stolz und gütig gleichermaßen. Und heute? Vor drei Tagen war ihre Mutter gestorben. Erst vor drei Tagen? Sie besaß kein Zeitgefühl mehr und der Alltag war ihr entglitten. Ihre Welt stand still. Wann hatte sie das letzte Mal gegessen? Und was? In Gedanken sah sie nur den verwaisten Stuhl mit der hohen Lehne am Tisch.

Eleonore blickte auf den dicken Hals des Geistlichen. Wohlgenährt wie alle Pfarrer, die sie kannte. Sollten die Nachfolger von Jesus nicht teilen, wie er es getan hatte? War sie mit solchen Gedanken allein, jetzt, da ihre Mutter gestorben war?

Immer wenn der Wagen über eine Bodenunebenheit rollte, klapperten die Messinggriffe des Sarges gegen das Holz und die Kränze rutschten hin und her. Hinter Eleonore schniefte Maria unablässig in ihr Taschentuch. Für Eleonore war sie wie eine zweite Mutter. Sie führte seit zwanzig Jahren ihren Haushalt und gehörte längst zur Familie.

Schnee knirschte unter den Rädern des Wagens und unter den zahlreichen Stiefeln. Der Wagen stockte kurz und fuhr dann auf die linke Seite neben einen Grabstein. Eleonore nutzte die Gelegenheit und betrachtete den Trauerzug, der sich gleich einer riesengroßen Raupe den Weg bis hinunter zur Friedhofsmauer hinzog. Die Gassenjungen bildeten den Schluss. Sie sprangen weder wie Flöhe umher, noch lärmten sie, was sie sonst taten. Mancher der Jungen hatte bestimmt heimlich eine Träne vergossen und sich an die großen, rotgelben, saftigen Äpfel erinnert, die ihre Mutter immer aus einem Fass zauberte, wenn es galt, einen Dienst zu belohnen, und sei er noch so klein gewesen.

Sie wandte ihr Gesicht ihrem Vater zu. Seine grauen Augen blickten leer geradeaus, seine Haltung glich der einer Marionette mit durchgetrennten Schnüren. Keine Spur mehr von der Kraft, die sonst von ihm ausging. Sein Anzug schlotterte um seine dürren Beine. Und sie, würde sie je wieder lachen können?

Der Zug erreichte die Grube, die sich schwarz von der Umgebung abhob. Eleonore roch die frisch ausgehobene Erde, sah den Totengräber. Der lehnte sich an ein steinernes Rondell, das im Hintergrund in die Höhe ragte. Dieses Grabmal gehörte dem Geheimrat Johann Daniel Sick und Eleonore hoffte, dass ihr Vater bei Mutters Ruhestätte auf derlei Pomp verzichten würde.

Männer traten vor, nahmen die Kränze herab und hoben den Sarg vom Wagen herunter. Gemessenen Schrittes trugen sie ihn zum Grab. Der Pfarrer ging mit gesenktem Kopf an die Stirnseite.

Die Träger nahmen links und rechts Aufstellung und ließen den Sarg an Tauen hinabgleiten. Stoßweise stieg der Atem der Männer in kleinen Wölkchen auf. Eleonore schluckte. Vor wenigen Tagen hatten sie noch gemeinsam das Jahr 1848 begrüßt, hatten miteinander gelacht. Nun blieben ihr nur liebevolle Erinnerungen an ihre Mutter. »Ach Kind!«, hatte diese oft zu ihr gesagt.

Sie trugen nicht nur ihre Mutter zu Grabe, Eleonore verlor eine Verbündete. Sie spürte, wie ihr Vater neben ihr bebte.

»Asche zu Asche, Staub zu Staub«, sagte der Pfarrer.

Ihr Vater warf als Erster mit einer kleinen Schaufel Erde ins Grab. Die Klumpen schlugen polternd auf den Sarg. Eleonore tat es ihm gleich und reichte die Schaufel an Maria weiter. Keiner der höhergestellten Männer drängte sich vor. Ihre Mutter hatte keine Standesunterschiede gekannt und das wurde heute stillschweigend akzeptiert. Würde auch sie den Spagat hinbekommen, bei allen Anerkennung finden?

Leutnant von Engel wollte sie heiraten, obwohl sie nur eine Bürgerliche war, nicht dem Adel angehörte. Liebte er sie so sehr? Oder lag es daran, dass er der Letzte seiner Familie war, dass er niemanden um Erlaubnis fragen musste?

Einer nach dem anderen beugten die Trauergäste ihr Haupt vor der Toten, verharrten einen Augenblick und bekundeten ihr Beileid.

»Sie war eine herzensgute Frau«, murmelte einer.

Eleonore klammerte ihre Hände um den Arm ihres Vaters und zog ihn ein Stück zurück. Er war der Grube immer näher gerückt.

August von Engel trat vor, nahm seinen Tschako und grüßte steif. Wie auf dem Kasernenhof. Der Wind fuhr in seine blonden Haare. Ich bin für dich da, hallten seine Worte in ihrem Kopf. Wollte sie das?

Von der Straße her ertönte heftiges Hufgeklapper, sodass sich alle umwandten. Eleonore sah uniformierte Reiter in Zweierreihen herantraben. Ihnen folgte eine große Kutsche. Als sie anhielt, stob eine Schneewolke um sie herum auf. Eleonore erkannte das königliche Wappen.

»Der König«, raunten die Leute.

Von Engel stand direkt neben ihr. Sie hörte, wie er scharf die Luft einsog und seine Hacken zusammenschlugen. Der König stieg aus der Kutsche in ein Spalier seiner Garde, bedeutete ihnen zu warten und ging allein weiter. Die Trauergäste bildeten eine Gasse, die Frauen knicksten, die Männer hoben ihren Zylinder und neigten ihren Kopf. Von Engel salutierte.

»Es tut mir ja so leid«, sagte der König an Eleonores Vater gewandt. »Ich bin so schnell gekommen, wie es die Straßen zuließen. Ein großer Verlust.«

Ihr Vater nickte stumm. Er hatte dem König während der Befreiungskriege, so besagten Gerüchte, das Leben gerettet. Ihr Vater schwieg darüber oder nannte es Phantastereien. So oder so, aus gegenseitigem Respekt war eine Freundschaft entstanden. Seit Jahren beriet er den König in Rechtsfragen.

König Wilhelm trat ans Grab, machte das Kreuzzeichen und verharrte für einen Augenblick. Als er sich umdrehte, blickte er Eleonore in die Augen. Sanft legte er eine Hand auf ihren Arm.

»Nun seid Ihr die Dame des Hauses.«

Ich bin erst neunzehn, dachte Eleonore.

»Ihr werdet Eurem Vater zur Seite stehen, wie sie es getan hat«, fuhr der König fort.

Ihr wurde heiß. Sie sah ihn an, öffnete den Mund und brachte doch kein Wort heraus.

Der König wechselte ein paar Worte mit ihrem Vater, umarmte ihn zum Abschied und nickte Eleonore zu, als wolle er seine Worte bekräftigen. Leutnant von Engel salutierte erneut. Wieder öffneten die Trauergäste eine Gasse.

Ein paar Männer schwenkten ihren Zylinder, als die königliche Kutsche davonfuhr. Die Trauergemeinde folgte schweigend. Eleonore blieb mit ihrem Vater am Grab zurück.

»Er ist eigens gekommen«, sagte ihr Vater, »um mir beizustehen.« Er blickte nach oben. Die Bewölkung hatte zugenommen und es begann zu schneien. Er streckte seine Hand aus und eine Schneeflocke landete auf seinem Wildlederhandschuh. Eleonore sah zu, wie sie langsam schmolz.

»Selbst der Himmel zollt Henrietta Respekt. Dich versorgt zu sehen, das ist mein größter Wunsch. Der Schlüssel zu einer angesehenen Stellung in der Gesellschaft ist die Ehe. Und Leutnant von Engel …« Er hielt inne, als Eleonore seinen Arm losließ. Sie hatte noch nie ihre Gefühle vor ihm verbergen können.

»Ich …« Ihre Lippen bebten. Wie sollte sie in Worte fassen, was sie bewegte? Ohne ihn damit zu enttäuschen? Sie wollte nicht aus Vernunft heiraten, sondern aus Liebe. Sie wollte lieben. Danach sehnte sie sich. Die Blicke der jungen Männer hatten ihr gefallen. Seitdem August von Engel um sie warb, hielten sich andere zurück. Sein Werben schmeichelte ihr, aber sie empfand keine Liebe für ihn. Ob sich das ändern würde?

Der Druck auf ihrer Brust wurde stärker. Als habe jemand ein Seil um sie gespannt und zöge die Schlinge fester zu. Sie presste ihre Lippen zusammen. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie jetzt nicht schweigen durfte. Sie atmete tief ein.

»Ich habe dich, Vater.«

Du musst stark sein, ging es ihr durch den Kopf. Sie nahm seine Hände, spürte, wie sie zitterten. Noch fester drückte sie, bis das Zittern nachließ, ganz endete.

»Wir haben uns«, sagte sie.

Er löste sich von ihr, tätschelte zärtlich ihren Arm und nickte. Sein Gesicht war ernst.

»Lass uns gehen.«

Schweigend gingen sie den Weg entlang. Der König hatte Recht, dachte sie. Ihr Vater würde sie brauchen und sie wollte ihm eine gute Gefährtin sein.

Am Ausgang des Friedhofs erwartete sie August von Engel und sah ihnen entgegen. Nein, er schien wieder ganz auf sie fixiert zu sein. Hinter ihm stand sein Bursche und hielt sein Pferd am Zügel.

»Ich muss zum Dienst«, bedauerte von Engel, griff nach ihrer Hand und deutete einen Handkuss an.

Durch ihre Handschuhe hindurch spürte sie seinen Atem.

»Ich werde Sie bald besuchen kommen«, sagte von Engel. Sie nickte, wandte sich um und schritt, Arm in Arm, mit ihrem Vater davon, froh darüber, mit ihm allein sein zu können.

Nicht für alle Zeit

Подняться наверх