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Geheimnisse

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Potsdam und Stuttgart, Januar 1848

Prinz Wilhelm von Preußen wartete im Hotel Deutsches Haus in Potsdam auf seinen Gast. Er stand am Fenster, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und blickte hinunter auf die Straße. Die Kirchturmglocken der Stadt hatten schon vor einigen Minuten die volle Stunde geschlagen. Unglaublich! Sein Gast ließ ihn warten.

Endlich trat sein Adjutant ein. Er wandte sich ihm zu.

»Herr Euskirchen«, meldete er.

»Worauf warten Sie, lassen Sie ihn eintreten. Meine Geduld ist erschöpft«, befahl er.

Der Adjutant ging vor die Tür, kam aber sogleich mit dem Gast zurück. Der trat ein. Der Adjutant zog sich zurück und schloss leise die Tür.

Regentropfen perlten an Friedrich Euskirchens Umhang ab. Er verharrte einen Moment, verneigte sich und kam dann näher.

»Königliche Hoheit«, grüßte er.

Der Prinz nickte stumm.

In der Hand hielt Friedrich Euskirchen einen Zylinder. Wasser tropfte auf das Parkett. Sein schwarzes Haar, in dem sich erste graue Strähnen zeigten, glänzte feucht.

Als Portrait- und Landschaftsmaler hatte er es zu Ansehen gebracht, aber in seinem zweiten Metier, dem Geheimdienst, galt er als einer der Besten. Der Prinz traute ihm nicht über den Weg. Er fürchtete seine Verschlagenheit genauso wie dessen Netz an Spitzeln. Nichts blieb ihm verborgen, so hieß es. Deswegen wollte der König, sein Bruder, dass er Friedrich Euskirchen nach Paris entsandte.

Als der nähertrat, verharrte der Blick des Prinzen für einen Moment am linken Ärmel des Mannes, der lose herabhing. So hatte der Besucher wenigstens einen Makel, dachte er.

»Ihr Bruder kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt«, brach es aus ihm heraus und er verwarf damit all die schönen Worte, die er sich zurechtgelegt hatte.

»Er ist ein Geschenk des Himmels!«, widersprach Friedrich mit einem Schmelz in der Stimme, der laut Gerüchten bei Frauen wahre Wunder bewirkte. Der Prinz hob irritiert die Augenbrauen.

»Er ist mein Passierschein zu den Demokraten. Überall wo er ist, werden sie ihn umringen«, fuhr Friedrich fort. »Und ich werde dabei sein.«

»Das ist in der Tat ein Aspekt«, gab der Prinz widerwillig zu, dem die Selbstsicherheit seines Besuchers erheblich gegen den Strich ging. »Doch ist er Ihr Bruder.«

»Nicht nur das«, frohlockte Friedrich. »Er soll ein Spiegelbild meiner selbst sein, so berichten meine Agenten. Wer ihm vertraut, kann mir nicht misstrauen.«

»Am Ende könnte man glauben, Sie hätten alles so geplant«, sagte der Prinz.

»Ich plane auf alle Fälle, ihn mit Bettina von Arnim bekanntzumachen«, sagte Friedrich. »Immerzu schreibt sie Briefe an den König, bittet um Vergebung für Verbrecher, appelliert an seine liberale Gesinnung. Seine Majestät lässt sich blenden und reicht jenen die Hand, die nur Böses im Schilde führen.«

»Sie ist eine Plage an Gutmütigkeit«, stimmte der Prinz zu. Was sagte er da? Er räusperte sich und wandte seinem Gast den Rücken zu. Wähnte sich Euskirchen auf einer Stufe mit ihm? Nur gut, dass es der König ihm übertragen hatte, mit diesem verschlagenen Agenten zu reden. »Es steht Ihnen nicht zu, über den König zu richten«, sagte er.

»Das würde ich mir niemals anmaßen. Aber ich werde Ihren Bruder, den König, dazu bringen, dass er ihre Briefe nicht einmal mehr mit der Zange anfasst«, versprach Friedrich.

Der Prinz wollte nicken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Bettina von Arnim, diese Ausgeburt einer herzensguten Frau! Mit ihrem Armenbuch hatte sie Öl ins Feuer gegossen, hatte die unteren Schichten zum Aufbegehren ermutigt. Und dann dieser Titel: »Dies Buch gehört dem König«. Noch heute schwollen ihm die Adern an, dass dies sein Bruder nicht unterbunden hatte. Wie schwach er doch war.

Der Prinz drehte sich wieder zu seinem Besucher um. So falsch schien es ihm auf einmal gar nicht, jemanden wie Friedrich Euskirchen bei der Hand zu haben. Der besaß allem Anschein nach Tatkraft. Man sollte nicht alles Metternich und seinen Gefolgsleuten in Wien überlassen.

»Wegen Ihres Bruders kann ich Sie nicht mit der Angelegenheit betrauen, die dem König so wichtig ist. Mein Bruder möchte wissen, was in Paris los ist. Die Franzosen sollen uns nicht ein weiteres Mal überraschen, wie anno 1789 oder anno 1830. Jemand muss sich vor Ort ein Bild machen.«

»Beides lässt sich miteinander verbinden«, entgegnete Friedrich völlig ungerührt.

Der Prinz hob ein weiteres Mal die Brauen.

»Seine Majestät hat mit mir darüber gesprochen, als ich ihn heute traf«, sagte Friedrich Euskirchen.

Dem Prinzen verschlug es die Sprache und er fragte sich, welche Rolle er überhaupt spielte? Seine Hände begannen zu zucken. Schnell verschränkte er sie hinter seinem Rücken. Er wollte dem Agenten gegenüber keine Schwäche zeigen.

»Seit ich seinen Brief erhielt, habe ich jemanden auf meinen Bruder angesetzt«, berichtete Friedrich. »Keiner seiner Schritte bleibt mir verborgen.«

Offenbar war das Netz an Spitzeln, das Friedrich Euskirchen unterhielt, noch größer und dichter als er vermutet hatte. Da galt es aufmerksam zu sein.

»Doch bleibt er Ihr Bruder.«

»Was nicht sein Schaden sein muss.« Friedrich lächelte. »Ich lasse ihm alle Freiheiten. Er soll ruhig Kontakte knüpfen. Die werden mir später nützlich sein.«

»Mein Adjutant wird Ihnen Informationen zukommen lassen«, antwortete der Prinz knapp. Und ich werde dafür Sorge tragen, dass man dich im Auge behält, dachte er im Stillen. Skrupel gehörte offenbar nicht zu Friedrichs Schwächen. Das galt es zu berücksichtigen. Dem Wunsch des Königs wurde also entsprochen, oder war es mehr der Wunsch Friedrich Euskirchens? Der Prinz war jedenfalls froh, als alles gesagt war und er seinen Gast verabschieden konnte. Sein Adjutant trat ein.

Eine Weile blickte der Prinz nachdenklich aus dem Fenster. Ihm missfiel die vertraute Umgangsweise seines Bruders mit Friedrich. Der blieb ein Spitzel. Da kam ihm ein Gedanke. Er eilte an seinem Adjutanten vorbei zur Tür. Linker Hand lag der Korridor verlassen. Aber zur Rechten, nur wenige Schritte entfernt, stand Friedrich Euskirchen und blickte in einen Wandspiegel. Eben richtete er sich zur vollen Größe auf. Er lächelte sein Spiegelbild an, und als er ihn sah, nickte er ihm zu. Erst dann machte er kehrt und ging davon. Der Prinz von Preußen sah ihm nach.

»Gebe Gott, dass er stets auf unserer Seite steht«, murmelte er.

***

Eleonore legte ihre Stickerei zur Seite und blickte aus dem Fenster hinunter in Richtung der Stadt. Sie liebte die Aussicht. Besonders am Abend, wenn die Dämmerung einsetzte, der Himmel sich erst dunkelblau und dann schwarz verfärbte. Ganz Stuttgart breitete sich vor ihr aus. Gaslichter beleuchteten matt die Pflastersteine und markierten den Verlauf der Straßen.

Am Vorgarten vorbei marschierte eine Abteilung Infanterie im Gleichschritt. Das Stampfen ihrer Stiefel durchbrach die Stille. Als Kind hatte sie gerne den Soldaten zugeschaut, war ihnen nachgerannt und hatte ihre Uniformen bewundert. Da hatten sie noch in der Stadt nahe der Rotebühlkaserne gewohnt.

Vor fünf Jahren waren sie in das neue Haus gezogen, das auf der Anhöhe oberhalb der Stadt lag. Die Straße war damals noch ein besserer Feldweg gewesen. Seither waren weitere Häuser entstanden, doch noch immer gab es größere Baulücken. Den Umstand, dass sie hierher ziehen durften, verdankten sie der geheimnisvollen Freundschaft ihres Vaters zum König. Ich werde ihm das Warum noch entlocken, dachte sie zum wiederholten Male.

Eleonore hörte die Uhr im Bücherzimmer, die zur vollen Stunde schlug. Um sieben Uhr abends begann ihre Stunde. Ihre Zeit für sich allein, für ihre Träume, ihr Buch. Im Haus war es still. Die Pferde hinten im Stall waren versorgt. Eugen, ihr Kutscher und Hausknecht, polierte den Wagen oder rauchte hinterm Haus genüsslich eine Zigarre. Die Hausarbeit ruhte. Maria saß in ihrer Kammer an irgendeiner Stickerei. Mutters Schlafzimmer war verwaist, ebenso wie die beiden Gästezimmer und noch zwei weitere Kammern im Dachgeschoss für Bedienstete. Weiße Bettlaken deckten dort die Möbel ab.

Im Garten stand der gemauerte Ofen. Den hatte ihre Mutter bauen lassen, und seitdem hatten sie einmal im Monat dort Sauerteigbrote gebacken, die sie dann an Ärmere verteilten. Eleonore hatte mit Maria ausgemacht, diese Tradition beizubehalten. So wollten sie in zwei Tagen den Ofen schüren lassen. Das würde wieder ein Stück Alltag zurückbringen. Ganz abgesehen davon, dass viele der Armen den Tag herbeisehnten. Für die war das Sauerteigbrot jedes Mal ein Festessen.

Eleonore zog den am Boden stehenden Nähkorb heran, um ihre Handarbeit aufzuräumen. Der Korb diente ihr auch als Versteck eines Buches von Bettina von Arnim. Sie hatte Bedenken, ob Vater die Lektüre für gut befand, denn ihre Mutter hatte es offenbar ebenfalls vor ihm in ihrer Wäschekommode verborgen. Dort hatte es Eleonore gefunden.

Insbesondere der Anhang des Buches, in dem die Autorin Schicksale der Arbeiter und ihrer Familien in den Elendsvierteln Berlins beklagte, hatte es Eleonore angetan. Wie das der Familie des Tischlers Krellenberg, die von allem zu wenig besaß. Hatte das Kind seine Gehirnentzündung auskuriert? Wie sah ihr Speiseplan heute aus? Gab es mehr zu essen als die Armensuppe?

Wo die einen alles im Überfluss hatten, kämpften andere tagtäglich ums nackte Überleben.

Bettina von Arnim, die ihre Stimme für die Armen erhob und auf Abhilfe drängte, stand ständig in der Kritik der Minister und Adeligen. In Bayern hatte die Regierung das Königsbuch verboten. In Preußen warf man ihr vor, das Buch habe die Grundlage für den Aufstand der schlesischen Weber geschaffen. Nur weil sie mit dem preußischen König im Briefkontakt stand, war ihr Buch durch die Zensur gekommen.

Vor Wochen hatte sie zum ersten Mal im Königsbuch gelesen und gleich einen Brief an Frau von Arnim geschrieben.

»Ich will gegen die Ungerechtigkeit angehen, wenn ich auch unbedeutend sein mag.«

Die Antwort kam schnell. Maria hatte ihr den Brief heimlich zugesteckt.

»Niemand ist unscheinbar«, hatte Frau von Arnim ihr geschrieben. Jeder könne zu einer besseren Welt beitragen.

Eleonore erfüllte es mit Stolz, dass sie, wie der preußische König, mit Frau von Arnim im Briefkontakt stand. Und auch in Mutters Nachlass hatte sie Briefe von ihr gefunden.

Eleonore seufzte.

Immer diese Heimlichtuerei!

Dabei konnte sie mit Vater über vieles reden. Sprach sie aber über Politik, hob er eine Augenbraue. Ein Zeichen der Missbilligung.

Sie schloss den Nähkorb, stand auf und trat an ihre Frisierkommode. Mit der Hand strich sie über das Furnier des Möbels. Sie dachte an den mit Briefen und Zeitungen vollgepackten Schreibtisch in Vaters Arbeitszimmer.

Sie öffnete die obere Schublade, griff unter den Stapel ihrer Unterwäsche und zog eine rechteckige Mappe mit stabilem Einband hervor. Vorsichtig schlug sie sie auf. Links steckten, von einem Stoffband gehalten, die Briefe der Frau von Arnim. Dahinter, fein zusammengefaltet, ein Zeitungsblatt. Rechts lagen lose Blätter, die Heimat ihrer Gedanken. Warum verweigerte man den Frauen die Scheidung? Einmal verheiratet bestimmte der Ehemann über Wohl und Wehe seiner Gattin. Wer arm geboren wurde, der blieb ein Leben lang arm. Fehlende Bildung verdammte Menschen dazu, dumm zu sterben. Eleonore zog den Artikel heraus, glättete ihn und begann zu lesen:

»Bekanntlich hat die geniale Frau Bettina von Arnim den schönen und rühmlichen Entschluss gefasst, dem Armenwesen in Deutschland ihre besondere Tätigkeit zu widmen. Die Ergebnisse will sie in einem besonders ausführlichen Werk der Öffentlichkeit übergeben. Zur Förderung dieses Werkes der Menschlichkeit ergeht ein Aufruf an alle, der Frau von Arnim getreue Berichte über den Zustand der Armut in ihrem Kreis, ihrer Stadt, oder in ihrem Dorf zukommen zu lassen.«

Mit Bleistift hatte ihre Mutter »18. Mai 1844« an die Seite gekritzelt. Eleonore hatte den Zeitungsausschnitt in Bettina von Arnims Buch gefunden. An den folgenden Tagen hatte Eleonore vergebens nach dem angekündigten Buch gesucht und zuletzt Frau von Arnim in einem Brief danach gefragt. Es gäbe kein zweites Armenbuch, hatte die geantwortet. Was mochte der Grund sein?

Dabei herrschte allerorten Armut. Viele wussten nicht, wie sie ihren Hunger stillen sollten, trugen sommers wie winters die gleiche Kleidung. Ständiger Mangel zehrte sie aus, sodass sie krank darniederlagen. Zur Linderung hatten sie nur das Gebet, denn einen Arzt konnte sich nicht jeder leisten. Dagegen besaßen andere ein Vielfaches dessen, was sie zum Leben benötigten. Lag es da nicht nahe, dass diejenigen, denen es gut ging, denen halfen, die zu wenig hatten? War das nicht sogar ihre moralische Verpflichtung?

Eleonore fühlte wieder diese innere Unruhe. Am liebsten würde sie jetzt in die Stadt gehen, die Häuser der Reichen besuchen und ihnen von ihrer Idee erzählen. Von den Patenschaften, die ein jeder übernehmen sollte, der es sich leisten konnte. Würde sie Gehör finden?

Sie steckte das Papier zurück zu den Briefen und überflog ihre letzten Einträge in den Blättern.

Warum hatte Mutter nicht mit ihr über Frau von Arnims Buch gesprochen? Verpasste Gelegenheiten.

Sie fühlte sich wie in einem Elfenbeinturm gefangen, ohne Ansprache, allein gelassen. Wie gerne würde sie Bettina von Arnim persönlich kennenlernen. Die würde sie bestimmt verstehen und ihre Idee mit den Patenschaften für gutheißen, sie sogar unterstützen.

Unter anderen Frauen kam sich Eleonore fremd vor. Sie fand keinen Bezug zu deren Problemen, die zumeist von ihren Frisuren oder Modefragen geprägt waren. Sie selbst trug gerne schöne Kleider, und auch sie achtete auf ihre Frisur. Aber das waren für sie Nebensächlichkeiten.

Gab es einen Mann, der sie verstand, der sie akzeptierte, der sie achtete als Mensch, nicht nur als Schönheit? Der ihr beistehen würde? Bei Leutnant August von Engel hatte sie ihre Bedenken. Ein paar Mal hatte sie miterlebt, wie unwirsch er seinen Burschen oder andere Soldaten behandelte. Das gehörte wohl zum Alltag einer Armee.

Wieder schlug die Uhr zur vollen Stunde. Zeit für den abendlichen Besuch bei ihrem Vater. Wie schnell Rituale weitergereicht werden, wenn jemand nicht mehr da ist, dachte Eleonore. Früher hatte ihre Mutter Vater abends ein Glas Milch gebracht. Heute war das ihre Aufgabe.

Sie verstaute die Mappe sorgfältig, nahm die Lampe und trat in den Flur hinaus. Am entgegengesetzten Ende lag das Zimmer ihres Vaters. Eleonores Kleid streifte den Läufer am Boden. Auf der Kommode im Gang stand bereits das Glas Milch, dass Maria dort abgestellt hatte.

Als Kind waren die Bibliothek und Vaters Arbeitszimmer für sie tabu gewesen. Dabei hatten diese Räume sie magisch angezogen. Verborgen hinter Mutters Rock konnte sie hin und wieder einen Blick hineinwerfen. Bücherstapel, aufgeschlagene Zeitungen hatten ihre Fantasie angeregt. In ihrer Vorstellung wuchsen die verbotenen Räume zu riesigen Sälen an, vollgestopft mit dem Wissen der Welt. Ein Paradies für ihren Vater und seine Gedanken. An ihrem 18. Geburtstag hatte Vater ihr dann erlaubt, dieses Zimmer zu betreten. Ob er ahnte, was er damit bei ihr ausgelöst hatte?

Eleonore klopfte an.

»Ja«, hörte sie ihren Vater.

Sie trat ein. Die Tür quietschte. Papiere und Zeitungen lagen durcheinander auf dem Schreibtisch. Ihre Blicke streiften einen Brief. Sie erkannte die geschwungene Handschrift ihres Vaters, die sie so gut nachmachen konnte. Ein weiteres Geheimnis, das auf ihr lastete.

Ihr Vater wandte ihr den Rücken zu. Die Mitte des Tisches hatte er freigeräumt. Gebeugt saß er über einem

Briefbogen. Sie trat an Vater heran, stellte die Milch ab und blickte ihm über die Schulter.

Das Blatt war leer.

»Fehlen dir die Worte?«, fragte sie. Sie roch die Tinte.

»Es ist nur, bis ich den Anfang gefunden habe«, sagte er und legte seinen Stift zur Seite.

»Wem willst du schreiben?«

»Ludwig Uhland. Ich finde, es wäre an der Zeit, ihn zu besuchen.«

Eleonore lächelte. Uhland hatte früher mit ihrem Vater zusammen in einer Stuttgarter Anwaltskanzlei gearbeitet. Als der Dichter nach Tübingen gezogen war, hatte das ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan.

»Eine Reise wäre schön«, sagte sie. Eine Abwechslung obendrein, dachte sie weiter.

Vater war Mitglied der Museumsgesellschaft, dem Klub des gehobenen Bürgertums in Stuttgart. Dort gab es festliche Bälle, und Eleonore hatte es genossen, von jungen Männern umgarnt zu werden, bis eines Tages Leutnant von Engel erschien und offen um sie warb. Danach hatte keiner mehr gewagt, sie anzusprechen.

Im Klub redeten die Männer über Politik. Wann immer es ging, belauschte Eleonore ihre Gespräche. Dazu reichte es, einen verknacksten Knöchel zu simulieren. Seit Mutters Tod waren sie nicht mehr dort gewesen.

»Es scheinen mir unruhige Zeiten anzubrechen«, sagte ihr Vater und deutete auf eine Zeitung, die neben dem Briefpapier lag.

»Paris ein Pulverfass«, las Eleonore.

»Die Zeit hält nicht stille«, fuhr ihr Vater fort.

Eleonore legte ihre Hand auf seine Schulter. »Wenn die Menschen hungern, begehren sie auf«, sagte sie. Einen Moment wartete sie ab, ob er sie unterbrechen würde.

Er sagte nichts, hob nur eine Augenbraue.

Junge Frauen durften mit ihrer Schönheit kokettieren, aber aus der Politik hatten sie sich herauszuhalten. Dachte Vater ebenso?

»Wäre ich dein Sohn, nicht deine Tochter, würden wir die halbe Nacht über Politik diskutieren«, sagte Eleonore.

Ihr Vater lächelte. »Du bist so gebildet wie es ein Sohn nicht besser sein könnte.« Er deutete auf die Tür ins Bücherzimmer. »Dort stehen deine Lehrmeister. Sie haben aus dir eine erstaunliche junge Frau gemacht. Du bist mir als Tochter so wertvoll, als seist du ein Sohn.«

Eleonore hätte gerne von ihrem Buch erzählt, von Frau von Arnim. Aber sie verließ der Mut.

»Geh nicht zu spät zu Bett«, sagte sie stattdessen.

»Du bist wie deine Mutter. Fürsorge gepaart mit Charme. Wer könnte da widersprechen?«, antwortete ihr Vater.

Nicht für alle Zeit

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