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Was für ein Glück
ОглавлениеBerlin und Stuttgart, März 1848
Die Eisenbahn zog mit ratternden Rädern durch die Landschaft. Eleonores Vater erwachte, reckte die Arme und gähnte. Er hatte die halbe Fahrt verschlafen, sie mit ihren Gedanken alleingelassen. Außer ihnen saß niemand im Abteil.
»Wusstest du, dass die alten Ägypter mithilfe von Brieftauben Nachrichten versendet haben?«, fragte ihn Eleonore.
»Ich bin gespannt, wie Otto darauf reagiert«, brummte ihr Vater.
»Es wird ihn freuen.« Eleonore beugte sich zu ihrem Vater vor und legte ihm beide Hände auf die Knie. »Was ist das immer für eine Aufregung, wenn du einen Brief von Onkel Otto erhalten hast? Man sieht dich dann stundenlang nicht.«
»Du weißt doch, mein Kind, in Frankfurt tagen die Vertreter aller deutschen Staaten, beraten und entscheiden wichtige Angelegenheiten.«
»Die auch Württemberg betreffen«, ergänzte Eleonore. »Darum führt dich dein erster Weg stets zum König, wenn du Ottos Briefe gelesen hast. Wie lange werden wir in Berlin bleiben?«, fragte sie und wechselte das Thema.
»Das wird sich weisen. Wir werden dir auf alle Fälle ein paar Kleider kaufen müssen.«
Eleonore dachte an die Tauben, die im Gepäckwagen mitfuhren.
»Auf der Rückreise nehmen wir die jungen Tauben mit. Die haben dann Ottos Haus als ihre Heimat angenommen, sodass, wenn wir sie in Stuttgart fliegen lassen, sie schnurstracks zu ihm fliegen.«
»Und die älteren Tauben, die Otto behält, fliegen nach Stuttgart, wenn er sie freilässt. Ich bin gespannt, ob das klappt.«
Eleonore beeindruckten die Zweifel ihres Vaters nicht. »Du kannst Otto mit jeder Taube eine Frage zukommen lassen. Acht Tiere, acht Fragen?«
»Hmmh«, machte ihr Vater und räusperte sich zweimal.
»Du hast dich bestimmt gefragt, was mich nach Berlin treibt?«, wechselte ihr Vater seinerseits das Thema.
»Eine Mission«, mutmaßte Eleonore. Sie lehnte sich zurück. »Der König kann sich glücklich schätzen, in dir einen Vertrauten zu haben.«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann blickte er wieder ernst.
»Die zwei Hohenzollernschen Fürsten sind amtsmüde. Angeblich streckt der badische Großherzog seine Finger aus und will ihre Länder haben. Sie mögen zwar klein sein, haben zusammen nicht halb so viel Einwohner wie Stuttgart, dennoch würde das unserem König nicht gefallen.«
»Will er die beiden Fürstentümer für Württemberg?«, fragte Eleonore. »Und du sollst in Berlin erkunden, was die Preußen davon halten? In Sigmaringen steht doch ihre Stammburg. Sind sie nicht mit den Fürsten verwandt?«
»Offiziell bin ich in Bankangelegenheiten des Königs unterwegs«, erzählte ihr Vater weiter. »Von all dem hast du natürlich keine Ahnung.«
Sie nickte.
»Wäre es nicht von Vorteil, wir würden die Tauben bis Berlin mitnehmen?« fragte Eleonore. »So würde der König schnell erfahren, was du erkundet hast.«
Ihr Vater hob seine Augenbrauen.
»Wusstest du, dass die Sportler bei den antiken Spielen in Olympia bereits Brieftauben mitnahmen? Gewannen sie einen Lauf, dann sandten sie mithilfe der Tauben einen Teil des Zielbandes als Zeichen ihres Sieges zurück in ihren Heimatort.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte ihr Vater, setzte aber gleich hinterher: »Natürlich, die Bücher.«
Sie ereiferte sich: »Du wirst sehen, die Brieftaubenverbindung ist ideal. Du müsstest nicht mehr selbst nach Frankfurt fahren. Die Tauben können freilich nicht Ottos dicke Briefe transportieren, ein paar Schlagzeilen, auf Seidenpapier geschrieben und ihnen ans Bein gebunden, das wird gehen.«
»Du hast Ideen«, wunderte ihr Vater sich.
»Es würde obendrein gut für deine Gesundheit sein, wenn du weniger reisen würdest«, sagte Eleonore. »Und wer weiß, vielleicht adelt dich der König wegen der Tauben und den Diensten, die sie ihm bringen.«
Er lächelte. »Adeln wollte er mich schon lange.«
»Weil er große Stücke auf dich hält«, sagte Eleonore, »und weil du ihm das Leben gerettet hast.«
»Lassen wir die alten Geschichten ruhen«, entgegnete ihr Vater.
Eleonore nickte. Das Band, das sie mit ihrem Vater verband, war stärker geworden. Er sprach mit ihr über Politik, hörte ihr geduldig zu. Er akzeptierte sie, sprach mit ihr wie mit anderen Männern. Sie sah wohl, wie er zuweilen über sie staunte. Sie dachte an Mutter. Ich kann die Lücke ein wenig ausgleichen, die sie hinterlassen hat.
»Ich bin froh, dir das Lesen meiner Bücher erlaubt zu haben«, stellte er sachlich fest. »Es hat dir zumindest nicht geschadet.«
Wie nah er wieder ihren Gedanken kam. Sie wollte etwas erwidern, aber dann versagte ihr die Stimme. Stattdessen täuschte sie ein Gähnen vor.
***
In Frankfurt kamen sie am Mittag an. Die Stunden flogen dahin. Erst unterwies Eleonore Onkel Otto in der Pflege der Tauben. Die Tiere schienen die Strapazen der Reise bisher gut zu vertragen. Ihr Onkel staunte, als sie ihm von der Taube und ihrem Flug von Tübingen nach Stuttgart erzählte. Er freute sich über die Tiere, doch wurde sein Gesicht ein wenig länger, als sie ihm die vielseitigen Anweisungen Vogts überreichte. Gemeinsam suchten sie einen Platz für den Käfig. Eleonore warf den Tauben noch eine Kusshand zu.
Am Abend sprachen die Männer ausgiebig über Politik. Eleonore saß abseits mit ihrer Stickerei und lauschte.
Früh am nächsten Morgen brachen sie auf. Immer wieder wechselten sie von einer Kutsche zu einer Eisenbahn und andersherum.
»Du wirst es erleben«, sagte ihr Vater, »dass Züge alle Städte miteinander verbinden.«
Meist schwieg er und hing ebenso wie sie seinen Gedanken nach. Endlich saßen sie in einem Zug, der sie vollends nach Berlin bringen würde. Eleonore blickte aus dem Fenster. Lange war nichts von Häusern zu sehen, geschweige denn von einer großen Stadt. Wiesen und Felder, dahinter ausufernde Wälder, säumten ihren Weg. Und doch bin ich bald Bettina von Arnim nahe.
Eleonore wurde der Mund trocken. Ein paar ihrer Notizen hatte sie eingesteckt. Es gab so vieles, was sie unbedingt Frau von Arnim zeigen, worüber sie mit ihr reden wollte. Über die Armut und die Gleichberechtigung für Frauen. Es musste ihr irgendwie gelingen, Frau von Arnim zu treffen. In der Eile des Aufbruchs hatte sie ihr nur ein paar Zeilen schreiben können: »Denken Sie nur, ich komme nach Berlin.« Würde der Brief überhaupt vor ihnen eintreffen? Über diesen Gedanken schlief sie ein.
»Kindchen, du musst aufwachen«, weckte sie die Stimme ihres Vaters.
Der Zug stand. Sie blickte verschlafen aus dem Fenster, an dem Passanten vorbeischlenderten und erschrak.
»Sind wir da?«, fragte sie.
»Eben angekommen«, antwortete ihr Vater. »Ich habe bereits einen Gepäckträger beauftragt, uns einen Wagen zu holen. Komm!«
Eleonore reichte ihrem Vater die Hand. Auf dem Bahnsteig blickte sie umher. Überall wuselten Reisende, Gepäckträger und Eisenbahnmitarbeiter in Uniformen herum. Schnaubend und zischend fuhr ein Zug aus der großen Halle. Dampfwolken wälzten sich unterhalb des hohen Daches.
Sie gingen nebeneinander in Richtung des Ausgangs. Warme Sonnenstrahlen nahmen sie in Empfang.
Ein Gepäckträger winkte ihnen zu. Hinter ihm stand eine Kutsche.
»Sie wird uns ins Hotel bringen«, sagte ihr Vater. »Das liegt an der Straße Unter den Linden, der Prachtpromenade der Stadt.«
Sie konnte nur nicken. Der Kutscher half ihr beim Einsteigen. Ihr Vater bezahlte den Gepäckträger und folgte ihr.
»Es ist lange her, dass ich in Berlin war«, erzählte ihr Vater. »Ich kann mich gut an meine Eindrücke beim ersten Mal erinnern. Ich habe den Kutscher gebeten, für dich einen kleinen Umweg zu fahren.«
Eleonore saß mit nach vorne gebeugtem Oberkörper am Fenster und sah hinaus. Ihre Kutsche fuhr schnell, überholte andere Wagen. Zwischendurch musste sie stehenbleiben, weil andere Fuhrwerke die Straße blockierten.
»Gleich fahren wir durch das Brandenburger Tor«, sagte ihr Vater.
Eleonore öffnete das Fenster und streckte ihren Kopf hinaus. Da sah sie die hohen Aufbauten des Tores. Oben thronte die Figur der Viktoria in ihrer Quadriga. Sie kannte den Anblick bisher nur aus Büchern. Als sie durch das Tor fuhren, legte sie ihren Kopf in den Nacken. Die Hufschläge der Pferde hallten wider.
Nach der Durchfahrt blickte sie zurück.
»Ich habe gelesen, dass der Siegeswagen 1806 von den Franzosen geraubt wurde. Nach der Niederlage Napoleons fanden preußische Soldaten die Skulptur unversehrt in Paris und so gelangte sie 1814 zurück an ihren angestammten Platz.«
»Manche Schätze wechseln in Kriegszeiten ihren Besitzer«, stimmte ihr Vater zu.
»Warum hassen die Deutschen die Franzosen?«, fragte Eleonore.
»Ich denke, die Franzosen haben zu viele Kriege geführt. Wie du weißt, haben sie Stuttgart mehrfach eingenommen und sich nicht immer als gute Gäste erwiesen.«
Eleonore blickte nach vorne. Die Kutsche war rechts abgebogen. Die Strahlen der Sonne brachten die Schneereste zum Schmelzen. Rinnsale zogen quer über die Straße.
Kein Zweifel, der Frühling nahte. Eleonore lockerte ihren Schal. Sie sah auf der linken Seite Dampf aus den Rinnsteinen hochsteigen. Was mochte der Grund dafür sein? Entlang der Häuser verlief ein Kanal, den starke Bohlenbretter vor den Eingängen bedeckten. Von dort floss in beide Richtungen eine rötliche, dampfende Brühe. Auf einem Schild pries ein Schlachter seine Waren an.
Mit einem Mal umfing sie ein ätzender Gestank, kroch ihre Nase hinauf. Schnell schloss sie das Fenster. Zu spät. Ihr Vater brummte, sagte aber nichts. Erst nach etlichen Metern wagte es Eleonore, das Fenster wieder zu öffnen. Die frische Luft tat gut.
Mehrgeschossige Häuser säumten die Straßen. Markisen zierten die Fenster. Links und rechts der Fahrwege lagen breite, mit Granitplatten ausgelegte Fußwege. Paare spazierten umher, die Männer mit Gehstock und Zylinder, die Frauen mit Sonnenschirmen. Sie trugen farbenprächtige Kleider. Eleonore kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Cafés und Hotels lockten Gäste, Schuhmacher, Schneider und Hutmacher priesen in Schaufenstern ihre Waren an. Viele warben damit, Lieferant eines Prinzen oder einer Prinzessin zu sein oder nannten sich einfach Hoflieferant. Halb Berlin trieb offenbar mit dem Königshaus Handel.
Die Großstadt entfaltete ihr Treiben. Sie überholten Frachtwagen, die rumpelnd ihres Weges zogen, sahen Dienstboten mit Körben vorbeieilen und Kinder, die umherrannten. Der Chor an menschlichen Stimmen beeindruckte Eleonore besonders. Als sei sie in einen Bienenschwarm geraten. So viele Menschen kannte sie von Stuttgart nur an besonderen Markttagen, etwa dem Weihnachtsmarkt.
Es ging noch einmal links herum, dann blieb die Kutsche vor einem mehrstöckigen Gebäude stehen. Hotel de Russie, las Eleonore.
»Wir sind da«, sagte ihr Vater. Aus dem Hotel traten Pagen. Sie luden ihr Gepäck auf eine Handkarre.
Eleonore sah die Straße entlang. Eine Soldatenkolonne marschierte heran. Ein sie begleitender Offizier gab laute Kommandos, die beinahe im monotonen Stampfen der Stiefel untergingen. August von Engel hätte seine Freude gehabt. Die Soldaten passierten die Kutsche und liefen weiter in Richtung Schloss. Eleonore blickte ihnen nach. Viele neue Eindrücke waren auf sie hereingeprasselt, seit sie den Zug verlassen hatten, und sie ahnte, dass die nächsten Tage weitere neue Erfahrungen für sie parat hielten. So fühlt sich das Leben an, ging es ihr durch den Kopf. Sie atmete befreit auf, wandte sich an ihren Vater.
»Ich danke dir für die Reise.«
***
August zog seine Schultern hoch, reckte seinen Oberkörper über den Tisch, angriffslustig wie ein Stier, und fixierte den Weinhändler. Die Konturen der übrigen Gäste, die um den Tisch herumstanden, sowie die der anderen Mitspieler, verschwammen vor seinen Augen.
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, sagte August und legte den kümmerlichen Rest seines Geldes auf den Tisch.
Sein Gegenüber wich zurück. August hasste ihn in diesem Moment, hasste ihn, weil er für ihn die neureichen Bürger verkörperte. Für einen Moment kehrten seine Gedanken an den Morgen zurück. An die Demütigung. Wie ein Aasgeier war der Fabrikant durch das elterliche Haus gegangen, hatte mit ihm um die Preise für die Möbel gefeilscht. Wohl wissend, dass er auf das Geld angewiesen war. Nun standen etliche Räume leer und seine Kasse war wieder ein wenig mehr gefüllt. Wie lange würde das Vorhalten? Diese Großbürger und Fabrikanten wurden reicher und reicher. Im Gegensatz zu ihm. Das musste nicht so bleiben. Das durfte nicht so bleiben.
Er grinste böse, fletschte seine Zähne. Der Weinhändler runzelte die Stirn. Der denkt wohl, ich habe ein gutes Blatt. Denk was du willst. Ich werde dich kleinkriegen.
Es war kein gutes Blatt.
Es war kein guter Abend.
Aber er durfte dieses Spiel nicht verlieren. Lass ihn aufgeben, betete August.
Der schmächtige Junge, der dem Wirt zur Hand ging, huschte vorbei.
»He, komm her und schenk nach«, schnauzte er ihn an und setzte sich wieder aufrecht. Der Junge blieb stehen, wandte sich um und trat an den Tisch. Mit zitternden Händen goss er Rotwein in seinen Becher, starrte dabei gebannt auf das Geld, das in der Mitte des Tisches lag.
»Glotz nicht so blöde«, fuhr ihn August an und nahm einen kräftigen Schluck. »Schenk lieber nach.« Verstohlen schielte er zu dem Weinhändler.
Dessen Mundwinkel zuckten.
»Ich steige aus«, grunzte der und schmiss seine Karten hin.
August verzog keine Miene. Das war knapp gewesen. Der Weinbauer stand auf und brabbelte im Davongehen ein paar Flüche. Die klangen wie Musik in seinen Ohren.
»Ich will die Karten sehen«, forderte der Metzgermeister, der links von ihm saß.
»Das Spiel ist aus«, knurrte August. Er warf seine Karten auf die des Weinhändlers und vermischte sie sogleich.
Der Metzger stand auf, schüttelte seinen Kopf und schlurfte davon. Die anderen Zuschauer gingen zurück an ihre Plätze. Nur Leutnant Mühlitz blieb stehen, trat sogar näher und setzte sich zu ihm.
»Heute mal gewonnen?«, sagte er in einem Ton, der August nicht gefiel.
»Ach sei ruhig«, fuhr er ihn an.
Aus seiner Innentasche fischte er seine Börse hervor, öffnete sie und wischte die Münzen hinein. Eine holte er zurück und legte sie vor sich.
»Junge, die Flasche! Ich will die ganze Flasche«, rief er über seine Schulter in den Schankraum.
Er sah wie der Wirt näherkam, nervös an seiner Schürze herumspielte.
»Hier«, sagte August und reichte dem Mann die Münze. »Das wird wohl reichen.«
»Los, los, bediene den Herrn Leutnant«, rief der Wirt sogleich zu dem Jungen. Der eilte herbei und stellte eine halbvolle Weinflasche ab.
»An deiner Stelle wäre ich freundlicher«, sagte Mühlitz. »Wie wäre es, wenn du einen Teil deiner Schulden abbezahlen würdest?«
August kniff seine Lippen zusammen. Er hasste diesen bürgerlichen Offizier. Die Welt geriet aus den Fugen. Der Adel verlor seine Privilegien. Auf dem Land zogen die Bauern mit Dreschflegeln bewaffnet vor die Schlösser und forderten die Befreiung von allen Lasten und freie Wahlen der Gemeinderäte. Manche Adelsfamilie war in den letzten Tagen und Wochen nach Stuttgart umgezogen. Dort sorgte das Militär für Ruhe und Ordnung. Aber wie lange noch? Die Armee sollte demnächst auf die Verfassung vereidigt werden, nicht mehr auf den König. Was mochte als nächstes kommen?
»Ja, ja, du bekommst dein Geld«, beruhigte er ihn. »Ich werde heiraten«, brach es dann aus ihm heraus. »Hörst du!«
»Die angedachte Braut soll sich zieren wie man hört«, sagte Mühlitz.
August sprang auf. Sein Stuhl krachte polternd auf den Boden. Die Gäste hoben ihre Köpfe. Mühlitz stand ebenfalls auf. Sein Stuhl blieb stehen. Er sah ihn mitleidig an.
»Ich werde mich nicht mit dir duellieren. Ich will mein Patent behalten«, sagte Mühlitz. »Und nicht einer Frau wegen verlieren.«
August hob den Stuhl auf, nahm wieder Platz. Sein Kamerad tat es ihm gleich.
»Die Mutter hat schon ihren eigenen Kopf gehabt«, fuhr Mühlitz in versöhnlichem Ton fort. »Ständig war sie wohltätig unterwegs.«
»Wenn sie erst einmal meine Frau ist, werde ich sie lehren, was sie darf.«
»Worauf wartest du?«
»Ihr Vater ist einverstanden, aber sie sagt, sie sei noch zu jung.« Von Engel verschwieg einen weiteren Grund, den Eleonore genannt hatte. »Viele möchten heiraten«, hatte sie gesagt, »und erhalten keine Genehmigung, weil kein Geld da ist.«
»Das ist nur zu ihrem Wohle«, hatte er entgegnet. »Das verhindert die Ausbreitung von Elend.«
»Und so werden immer mehr uneheliche Kinder geboren, die in unsicheren Verhältnissen aufwachsen, ausgesetzt werden und am Ende im Waisenhaus landen.«
Was für verwerfliche Ansichten! Was für unschickliche Aussagen aus dem Munde einer Frau.
»Dann musst du sie zu ihrem Glück zwingen«, sagte Mühlitz in seine Gedanken hinein. »Mach ihr ein Kind.«
August von Engel hob die Augenbrauen. »Da müsste ich zuvor ihren Vater erschlagen und die Haushälterin gleich mit.«
»Ist ein Küken erst einmal aus dem Nest gefallen, dann gehört es dem Stärkeren«, sagte Mühlitz, stand auf und verabschiedete sich.
August blieb sitzen, leerte den Becher in einem Zug und schenkte nach. Wein schwappte auf den Tisch. Was wollte Mühlitz andeuten, mit diesem »aus dem Nest gefallen«? Er ballte eine Faust und brütete weiter. Ich werde sie bändigen, oh ja. Wenn sie nur erst wieder zurückkommen würde aus Berlin. Drei Briefe hatte er Eleonore Herbst geschrieben, hatte ihr versichert, wie sehr er sie vermisste. Nur einen Brief hatte er als Antwort erhalten. Sie schrieb nichts davon, dass sie ihn vermisste. Wieder war der Becher leer. Er hob erneut die Flasche. Die war leer. Mit glasigen Augen suchte er nach dem Jungen.