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Schöne Aussichten
ОглавлениеBerlin, Februar 1848
William trat auf die Straße hinaus. Eisiger Wind schlug ihm entgegen. Schnell schlüpfte er in die Handschuhe, kontrollierte dann den Sitz seines Schals und zog die Mütze fest. Mit vor der Brust verschränkten Armen ging er los.
Heute wollte er den einzigen Brief mit einer Berliner Adresse zustellen. Die anderen Briefe, die er ebenfalls aus den Staaten mitgebracht hatte, waren an Adressaten im übrigen Deutschland gerichtet. Er hatte sie auf die Post gebracht, da er nicht abschätzen konnte, wann er weiterreisen würde. Auf keinen Fall bevor er Friedrich getroffen hatte.
William las die Adresse auf dem Umschlag: »Julius Fröbel, Neuer Markt, Kirchendiener der Marienkirche.« Auf dem Stadtplan Reichenbachs hatte er den Neuen Markt gefunden, der nur drei Daumenbreiten vom Schloss entfernt lag. Gleich dahinter, nur durch eine Häuserzeile getrennt, stand die Marienkirche.
William überquerte die Spree und erreichte bald darauf den Markt. Händler boten trotz der Kälte ihre Waren an. Auf Höhe eines Standes, wo es heiße Maronen gab, blieb er stehen und orientierte sich. Gegenüber ragte der Turm der Marienkirche über die Häuser.
»Verzeihen Sie«, fragte William den Mann am Maronenstand. »Kennen Sie einen Herrn Fröbel?«
»Nicht, wenn ich ihm Ärger bringe.«
»Ich habe Nachrichten für ihn. Aus Amerika.«
»Det is‘n Ding«, sagte der Mann und kratzte sich am Hinterkopf. »Gleich dort drüben, im Haus der Papierhandlung, unterm Dach.«
William bedankte sich und ging in die angewiesene Richtung, kehrte aber noch einmal um.
»Bitte zwei Mal«, bestellte er.
Mit den beiden heißen Papiertüten in seinen Manteltaschen ging er weiter. Im Treppenhaus des angewiesenen Hauses herrschte Zwielicht. Die Stufen knarrten bei jedem Schritt. Ganz oben gab es nur noch eine dunkle Tür zur Linken. Licht schimmerte durch die Ritzen. Auf einem Messingschild stand der Name J. Fröbel. William zog an der Kordel, die herabhing. Innen erklang eine Glocke.
»Ja, bitte?«, fragte eine Stimme.
»Ich habe Nachrichten von Ihrem Sohn«, sagte William.
Sofort riss der Mann die Tür auf. Er war von schmächtiger Statur.
»Treten Sie ein«, bat er.
Der Mann ging voraus und William folgte.
»Nachrichten von unserem Sohn«, rief der Mann. Zitterte seine Stimme? Aus der Küche vermeinte William einen Seufzer zu hören. Da trat ihm eine Frau entgegen.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, bat sie und wies auf einen Sessel, der in der Ecke stand. In der Mitte saß ein Junge über ein Schreibheft gebeugt an einem Esstisch. Er trug einen Schal und Halbhandschuhe. Daneben stand ein Ofen. Kalt.
»Ich habe etwas mitgebracht«, sagte William und übergab der Frau die Maronen. Die blickte unschlüssig zu ihrem Mann.
»Soll ich schnell ein Feuer anschüren?«, fragte sie. »Möchten Sie eine Tasse Zichorien-Kaffee?«
»Ich möchte, dass wir die Maronen gleich essen«, sagte William. »Sie sind noch warm. Wenn Ihr Sohn solange seine Arbeit unterbrechen darf.«
Der Junge blickte auf, sah ihn mit großen Augen an und steckte seine Nase sogleich wieder in sein Schreibheft.
»Das lässt sich machen«, sagte Julius Fröbel.
Die Frau schüttelte eine der Tüten auf einen Teller. Der Junge legte seine Schreibfeder zur Seite, griff nach einer Marone und steckte sie in den Mund. Ungläubig starrte er auf den Tisch. William griff ebenfalls zu, da nahm der Junge die nächste Frucht.
William stand immer noch.
»Das wollte ich Ihnen überreichen.« Aus seinem Mantel holte er den Brief hervor und gab ihn dem Kirchendiener. Der öffnete den Brief und begann stumm zu lesen. Gebannt blickte die Frau auf ihren Mann, als könne sie seiner Miene entnehmen, was da stand. Der Junge hielt mit kauen inne, blickte ebenfalls zu seinem Vater.
Nach einer Weile hob Fröbel den Kopf. »Es geht allen gut«, sagte er.
»Gott sei Dank!«, seufzte die Frau.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen.
»Er fragt, wie es der kleinen Lisa geht«, sagte Fröbel mit erstickter Stimme. »Wir sollen nachkommen. Er würde Sorge für uns tragen, und das Klima würde Lisa schnell gesunden lassen.« Die Frau ergriff die Hand ihres Mannes.
Vor zwei Jahren sei ihr Sohn ausgewandert, berichteten die Eheleute William. Die arme Lisa sei bald darauf an Schwindsucht gestorben. Sie brachten es nicht übers Herz, ihm davon zu schreiben.
»Er soll nicht von den Schatten der Vergangenheit geplagt werden«, sagte Fröbel.
»Wir haben ein bescheidenes Auskommen. Der Junge ist ein fleißiger Schüler, und wir hoffen, ihn bald bei einem Kaufmann in die Lehre geben zu können. Drüben hieße es, alles neu aufzubauen.«
William kramte in seiner Manteltasche nach Geld. Er legte fünf Taler auf den Tisch. »Das ist von Ihrem Sohn.«
Der Junge sprang auf. Den Eheleuten hatte es die Sprache verschlagen.
»Ich gehe jetzt«, sagte William und reichte den beiden Eheleuten die Hand. Dem Kind nickte er zu. Der Junge widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Maronen und stopfte gerade zwei auf einmal in seinen Mund.
»Ich werde in ein paar Tagen vorbeischauen. Wenn Sie einen Brief an Ihren Sohn schreiben möchten, kann ich diesen gerne mitnehmen. Ich sende regelmäßig Post in die Staaten.«
»Wir haben lange nichts von ihm gehört«, sagte die Frau, die immer noch das Geld anstarrte. »Da ist immer diese Angst, ihm könne etwas zugestoßen sein.«
»Bevor Sie gehen, möchte ich Ihren Dienst vergüten«, sagte Fröbel mit leuchtenden Augen.
»Sie müssen mir nichts geben«, sagte William.
»Er will Ihnen was zeigen«, sagte die Frau. Sie lächelte.
Ihr Mann verschwand in einem Nebenraum. Als er zurückkam, trug er Mantel und Schal. In der Hand hielt er einen Eisenring, an dem mehrere große Schlüssel befestigt waren.
»Kommen Sie mit«, bat er. Dann wandte er sich an seine Frau: »Und du schürst ein Feuer. Der Junge soll ein paar Kohlen kaufen.«
William folgte Fröbel irritiert auf die Straße. Der bog um die Ecke. Schon ragte vor ihnen der Kirchturm majestätisch in die Höhe. Fröbel schloss eine Tür auf und sie betraten einen Vorraum. Links führte eine aus Backsteinen gemauerte Wendeltreppe nach oben. William folgte Fröbel, der leichtfüßig die Stufen erklomm. Immer wieder legte der eine Pause ein, wartete geduldig, bis er nachkam. Weiter ging es grob gehauene Holzstufen hinauf. Die Balken knarrten.
»Der Rest ist nichts für Ungeübte.« Fröbel deutete auf den Fuß einer steilen Holzleiter. »Die erspare ich Ihnen.«
William, der schwer atmete, war froh darüber, dass es nicht weiter hochging. Sie erreichten eine Tür, die der Kirchendiener mit einem weiteren Schlüssel öffnete. William folgte ihm nach draußen, wo ihnen kalter Wind entgegenschlug.
Das Treiben auf dem Markt breitete sich vor William aus, nur zum Teil verdeckt durch die Dächer der angrenzenden Häuser. Er vermeinte den Jungen der Fröbels zu erkennen, wie dieser einen Blecheimer schwenkend über den Markt lief. Doch war er zu klein, als dass er sich sicher sein konnte.
Wenige hundert Meter entfernt wuchs wuchtig das Schloss in die Höhe, dahinter sah er die beiden Türme am Gendarmenmarkt. In der Ferne entdeckte er einen winzig anmutenden Zug, der qualmend seine Bahn zog.
»Der Turm ist das höchste Bauwerk der Stadt«, erklärte Fröbel. »Die Kirche selbst stammt aus dem 13. Jahrhundert. Da war Berlin fast noch ein Dorf.«
William achtete kaum auf die Ausführungen Fröbels. Berlin lag zu seinen Füßen. Zahlreiche Kutschen und Frachtwagen fuhren die Straßen entlang. In der Allee Unter den Linden muteten sie wie Käfer an. Er ging die Balustrade weiter. Vereinzelt ragten Kirchtürme aus dem Häusermeer.
Als er einmal herum war stand er auf der Höhe einer Reihe Schornsteine, die Zigarren gleich in die Höhe wuchsen. Nur vereinzelt quoll dunkler Rauch aus ihnen empor. Hatte Reichenbach nicht gesagt, dass die Geschäfte schlecht gingen? Rechts der Schornsteine standen nur wenige Häuser, noch weiter draußen schienen es mehr Baracken zu sein, bis schließlich Äcker und Wiesen kamen.
Der Kirchendiener in seinem Rücken musste eben heftig niesen und schnäuzte in ein Taschentuch. William tränten die Augen.
»Zeit zu gehen«, sagte er an Fröbel gewandt, »bevor wir uns hier oben eine Lungenentzündung holen.«
Sie stiegen schweigend hinunter.
»Sie dürfen jederzeit kommen, wenn sie wieder hoch möchten«, sagte Fröbel als sie unten anlangten.
»Vielen Dank!«, entgegnete William. »Ich werde in meinen Berichten diesen unvergesslichen Anblick schildern.« Er reichte Fröbel zum Abschied seine Hand.
In Gedanken versunken schlenderte William zurück Richtung Jägerstraße. Erst vor dem Schloss blieb er stehen, betrachtete es ausgiebig.
»So was habt Ihr nicht in den Staaten?«, fragte jemand hinter ihm.
Es war das rothaarige Dienstmädchen der Reichenbachs. In den Händen hielt sie einen Korb mit Kartoffeln.
»Nein, Schlösser habe ich in den Staaten nicht gesehen.«
»Ist es wirklich wahr, dass es bei euch keinen König gibt?« fragte sie, als sie weitergingen.
»Das ist wahr«, sagte William. »Und keinen Grafen oder dergleichen. Niemand verbeugt sich vor jemandem.«
»Das glaube ich nicht!«, zweifelte sie.
»Dennoch ist es so. Wobei …« Er blieb stehen und kratzte theatralisch sein Kinn.
»Wusste ich es doch!«, triumphierte das Mädchen.
Er fuhr fort: »In den Vereinigten Staaten wählen alle erwachsenen Männer einen Präsidenten. Der regiert dann fünf Jahre, und wenn er seine Arbeit gut macht, dann wird er für weitere fünf Jahre gewählt. Danach darf ein anderer sein Geschick unter Beweis stellen. Jeder kann Präsident werden. Sogar ein, ein … ein Dienstbote.«
Sie lachte lauthals los. Die Passanten sahen sie an.
»Wie heißt du?«, fragte er. Die vertrauliche Ansprache schien ihm gerechtfertigt. Im Umgang mit dem Dienstmädchen fühlte er sich wohler als bei den Reichenbachs am Esstisch.
»Clara«, antwortete sie, immer noch glucksend.
»Ein Dienstmädchen muss nicht ein Dienstmädchen bleiben. Jeder kann etwas aus seinem Leben machen. Man muss es nur wollen«, beharrte William.
»Och, wollen täte ich schon«, sagte Clara. »Jedoch, das ist gegen jede Ordnung! Wer soll dann dienen? Es muss ein Oben und Unten geben. Nee! Ich werde einen Handwerksmann heiraten, Kinder großziehen, aber immer jemandem zu Diensten sein.«
»Ich will den Menschen die Wahrheit nahebringen«, sagte er.
Sie nickte. »Ich lese kaum Zeitung, weil da nichts über unsereiner drinsteht. Außer jemand hat geraubt oder gemordet.«
»In den Staaten kommen alle zu Wort. Natürlich ist es kein Paradies, denn noch gibt es die Sklaverei.«
»Ich habe mal ein Bild eines Sklavenschiffs gesehen«, sagte Clara. »Da lagen die Schwarzen wie Vieh aneinander gekettet.«
»Es gibt viele, die Sklaverei für Unrecht halten. So wie ich. Leider gibt es beinahe ebenso viele, die das anders sehen.«
»Unsereiner liegt zumindest nicht in Ketten«, sagte Clara.
»Wie kommst du nach Berlin?«, fragte er. Ihm war aufgefallen, dass sie kein Berlinerisch sprach.
»Mein Vater ist mit Herrn Reichenbach bekannt. Als er ihn fragte, ob er mich nicht in Dienst nehmen könne, tat er das gern. So bin ich in Berlin, und nicht mehr in meinem kleinen Heimatdorf. Nächsten Monat werde ich achtzehn.«
Sie gingen weiter.
»Darf ich den Korb tragen?«, fragte William.
»Nee, das können wir nicht machen«, lehnte sie sein Angebot ab.
Sie erreichten den weitläufigen Gendarmenmarkt. Auf Höhe des Theaters blieb Clara stehen. William folgte ihrem Blick und sah einen Mann, der ein Plakat an eine Hauswand klebte. Immer wieder blickte er über die Schulter. So entdeckte er rechtzeitig die beiden Gendarmen, die um die Ecke bogen.
»Halt!«, rief der eine.
»Gleich haben sie ihn«, mutmaßte Clara.
Der Mann ließ eine Dose fallen, die scheppernd auf das Pflaster fiel. Ein kleiner Pinsel ragte heraus. Der Flüchtende stieß die Passanten zur Seite, kam direkt auf sie zu, die beiden Beamten im Nacken. Kurz bevor er sie erreichte, verlor der Mann seine Mütze und ein Papier. William schob Clara zur Seite, öffnete eine Gasse und verschloss diese, kaum dass der Mann durch war, indem er sich beugte und Papier und Mütze aufhob. Damit verstellte er den Beamten den Weg. Der eine streifte ihn an der Schulter, der andere lief von hinten auf seinen Partner auf. Sie verloren den Plakatkleber aus den Augen. Einer der Beamten funkelte William böse an. Der zuckte mit den Schultern. Papier und Mütze hatte er unter seiner Jacke verborgen.
Die Beamten gingen zurück an die Hauswand und rissen dort das Plakat herunter.
»Das ging noch einmal gut«, murmelte Clara.
William zog das Papier heraus und las:
Diese Woche im Arbeitshaus verhungert
Jan F. 7 Jahre alt
Sophie M. 26 Jahre alt
Charlotte B. 64 Jahre alt
Wir danken Seiner Majestät
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte er zu Clara. »Frau Reichenbach wird ohne meine Gesellschaft auskommen. Ich will mir die Familienhäuser anschauen.«
Er dachte an das Buch, das ihm Reichenbach gegeben hatte. Heute musste es dort bestimmt besser sein.
»Da gibt es reichlich Gesindel«, sagte Clara.
»Und vielleicht die, die das hier geschrieben haben.« Er tippte auf das Papier.
»In jeder Spelunke stecken sie ihre Köpfe zusammen und debattieren«, erzählte Clara. »Alle träumen von der großen Revolution. Sogar …«
»Sogar …?«, fragte William.
»Ich muss weiter, bevor die Dame mich vermisst«, wich sie aus.
»Ob ich da etwas zum Essen bekomme?«
Clara blickte auf seine Narbe.
»Ich war mal im Bierkeller. In der Ackerstraße. Da verkehren hauptsächlich Maschinenarbeiter. Raufereien sind dir nicht fremd, du wirst dich zu wehren wissen.«
***
William überquerte erneut die Spree und bog nach links ab. Die Häuser verloren mehr und mehr an Glanz, die Auslagen der Schaufenster wurden schlichter. Vor einer Toreinfahrt saß ein älterer Mann auf einem Schemel, vor ihm stand ein hölzernes Gestell. Er nickte William zu.
»Saubere Schuhe, der Herr?«
»Warum nicht.«
»So zeigen Se mal her, wat Se haben.«
William stellte einen Fuß auf das Gestell.
»Das sind prächtige Stiefel«, lobte der Mann. »Ick mach die fein.«
Der Mann schrubbte und polierte erst den einen, dann den anderen Stiefel.
»So, jetzt brauchen Se keinen Spiegel mehr«, lobte der Schuhputzer selbst seine Arbeit.
Er gab ihm ein paar Münzen.
»Danke, herzlichen Dank«, rief ihm der Mann hinterher.
Kaum dass er weiterging, traf William auf einen
Zeitungsjungen. Er winkte ihn heran und gab ihm ebenfalls ein paar Münzen.
»Wollen Sie zwei Exemplare?«, fragte der.
»Nein, der Rest ist für dich.«
Mit einer Ausgabe der Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung unter dem Arm ging er weiter. Einem entgegenkommenden Lumpensammler wich er aus. Dessen Leiterwagen rumpelte über die Schlaglöcher der Straße. Der Mann trug nur Lumpen. Hier führte keine feine Dame ihren Sonnenschirm aus. Herrenlose Hunde streunten umher und beschnüffelten den Unrat an den Rändern. Männer saßen vor Hauseingängen und glotzten ihn stumm an. Andere saßen zusammen mit Frauen, lachten oder stritten.
Er erreichte das Hamburger Tor. Dahinter, so meinte William, roch es anders. Das mochte an den Schornsteinen liegen, die unweit davon dunkle Schwaden in den Himmel bliesen. Gleich zur Linken stand ein langgestrecktes Gebäude. Das musste eines der Familienhäuser sein, von denen er im Königsbuch der Bettina von Arnim gelesen hatte. Dort hausten Familien in kleinen, etwa zwanzig Quadratmeter großen Kammern.
William knurrte der Magen. Er suchte jemanden, den er nach dem Bierkeller fragen konnte. Da trat ein Mann in einfacher Kleidung aus dem Haus.
»Verzeihen Sie«, sprach William ihn an. »Kennen Sie den Bierkeller?«
Der Mann musterte ihn argwöhnisch.
»Habense Durst oder wat?«
»Spielt das eine Rolle?«
Der Mann zuckte die Schultern. »Sie haben Glück. Mich dürstet und ich will dorthin.«
Sie gingen nebeneinander schweigend die Straße entlang und passierten eine andere Schankwirtschaft. Eine Frau stand davor und gerade als William auf ihrer Höhe ankam, öffnete sie ihren Mantel. Darunter trug sie eine fleckige Bluse mit tiefem Ausschnitt.
»Willste mit mir nach oben gehen?«, fragte sie mit rauchiger Stimme.
Er verneinte und eilte dem Mann nach, der weitergegangen war. Der bog nach rechts ab und blieb nach wenigen Metern stehen.
»Lassense mir einen Vorsprung«, bestimmte der Mann vor dem Eingang zum Bierkeller. »Ich kenne Sie nicht und will keine Scherereien, sollten Sie welche machen.«
Bevor der Mann eintrat, blickte er sich um. William schien, als ob er einem Mann, der gegenüber an eine Hauswand gelehnt stand, zunickte. Der Fremde trug eine schwarz-weiß karierte Schirmmütze. Als er sich wieder umdrehte, war sein Führer bereits verschwunden.
William folgte. In der Gaststube blieb er einen Moment stehen, um sich an das Zwielicht zu gewöhnen. Durch die schmalen, länglichen Fenster drang wenig Tageslicht herein. Links und rechts standen ein paar Tische. Am entgegengesetzten Ende füllte ein Mann hinter einer Theke Bierkrüge. Neben der Theke gab es eine zweite Tür. Die meisten Tische waren besetzt. Stimmen erfüllten den niedrigen Raum. Der Mann, dem William gefolgt war, saß neben einem blonden Mann an einem langestreckten Tisch und flüsterte diesem etwas zu. Neben ihnen saßen weitere Männer. William nahm am anderen Ende Platz und schlug die Zeitung auf.
»Was darf es sein?«, fragte ihn ein junges Mädchen. Sie hatte eine weiße Schürze umgebunden.
»Ein Bier und etwas zu essen.«
»Bohneneintopf oder Brühe mit Schwarzbrot?«
Er bestellte Brühe. William überflog die Schlagzeilen. Seine Majestät, der König, habe allergnädigst geruht, dem verdienten Richter sowieso einen Orden zu verleihen. Seine Königliche Hoheit, der Prinz von Preußen, sei nach Weimar abgereist. Er blätterte bis zu den Anzeigen weiter. Da zeigte ein Vater glücklich die Entbindung seiner Frau an, eine Anzeige warb für ein neu erfundenes Frostheilwasser. Er legte die Zeitung beiseite.
Ein weiterer Gast betrat die Wirtsstube und setzte sich zwei Plätze von ihm entfernt hin. Ihm folgte der Mann mit der schwarz-weiß karierten Schirmmütze, der ihm vorher aufgefallen war. Der ging schnurstracks auf den Blonden zu und flüsterte dem etwas ins Ohr. Der Blonde musterte abwechselnd William und den neuen Gast.
William sah aus den Augenwinkeln heraus das Mädchen zurückkommen. Sie stolperte und schrie erschrocken auf. Bier schwappte aus den Krügen, die sie in den Händen hielt, und spritzte auf den Fußboden.
»Herrgott, Judith, das wirst du mir bezahlen«, rief der Wirt grob hinter der Theke. Das Mädchen stellte zitternd einen Krug vor William auf den Tisch, ohne ihn anzusehen, und ging in Richtung des Wirtes. William blickte ihr nach. Der Wirt trat vor und erwartete sie mit erhobener Hand. Die Konturen des Wirtes verwandelten sich in Williams Wahrnehmung zu Blackburn, den Aufseher im Waisenhaus. Wie der ihn anstarrte, nachdem ihm der Teller mit dem wässrigen Erbsenbrei aus der Hand gerutscht war. »Das wirst du mir büßen!«, hatte Blackburn geknurrt und war mit einem Rohrstock auf ihn zugekommen. William vertrieb die Schatten der Vergangenheit und sprang zwischen Wirt und Mädchen. Die Gespräche ringsherum verstummten.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte William mit Bestimmtheit.
Der Wirt blickte ihn streitlustig an und lächelte verächtlich.
»Was willst du halbe …« Er hielt abrupt inne, als William seine Locke zur Seite wischte.
»Wenn Sie zuschlagen, wird es ein kurzer Kampf«, sagte William. Geht das wieder los mit der Gewalt? Konnte er nicht friedlich auskommen? Seine Nasenflügel bebten.
»Schon gut«, murmelte der Wirt, wich ein Stück zurück, sah zu seinem Schankmädchen und trat hinter die Theke.
William senkte seine Hand und ging zurück in Richtung seines Platzes.
»Donnerwetter«, sagte der blonde Mann. Er war aufgestanden, trat ihm entgegen und reichte ihm die Hand. Er überragte William um einen Kopf.
»Willst du nicht näher zu uns rücken?« Er deutete auf einen Stuhl neben seinem Platz. »Rück zur Seite«, knurrte er den an, der noch dasaß.
»Mein Name ist Rudolf Danner«, nannte der Hüne seinen Namen. »Ehemals Gießer bei Borsig. Die anderen Männer sind Leidensgenossen aus anderen Fabriken.
Johann haben sie ebenso gekündigt wie Paul, Christopher und Heinrich.«
William nahm Platz. Das Mädchen brachte sein Essen und holte ihm auch seinen Bierkrug. Dabei warf sie ihm heimlich dankbare Blicke zu. Das mahnte William daran, dass er mit dem Wirt reden musste. Nicht dass der auf die Idee kam, seine Wut später an ihr auszulassen.
»Mir hat die Eisenbahn die Arbeit geklaut«, sagte einer der Männer. Er trug eine blaue, uniformähnliche Jacke. »Ich arbeitete als Fuhrmann. Seitdem die Eisenbahn nach Potsdam fährt, hänge ich hier rum.«
»Er übertreibt etwas«, warf Danner ein. »Da würde er seit Jahren herumsitzen. Er war zuletzt Werksfahrer und transportierte Teile in der Fabrik von einer Halle zur anderen. Nachdem weniger produziert wird, brauchen die feinen Herren seine Dienste nicht mehr. Wir lassen uns das nicht länger bieten.«
William sah die Männer der Reihe nach an.
»Du scheinst mir ein rechter Kerl zu sein«, fuhr Danner fort. »So wie du dich für Judith eingesetzt hast. Ich dachte erst, du seist ein Spitzel.«
»Wie kommst du da drauf?«, fragte William.
»Weil der dir da gefolgt ist.« Er deutete auf den Gast, der sich zu ihm gesetzt hatte. Der las in seiner Zeitung.
Danner stand auf, ging schnurstracks auf den Mann zu und riss ihm die Zeitung aus der Hand.
»Du elender Spitzel«, dröhnte der Blonde.
»Ich bin kein …«
»Raus!«, brüllte Danner und stieß ihn zu Boden.
Der Mann stand auf, hob seine Mütze auf und eilte hinaus.
Der Blonde kam zurück. »Er ist dir gefolgt, Schach hat es gesehen.« Dabei deutete er auf den Mann mit der karierten Schirmmütze.
»Hast du einen Namen?«, fragte er William, als er wieder Platz nahm.
»Ich heiße William Garrison Euskirchen.«
»Hast ‘nen komischen Namen«, meinte einer. »Arbeitest du hier?«
»Ich habe ein paar Jahre drüben in Amerika gelebt.«
Die Erwähnung Amerikas löste bei den Männern ein Raunen aus. Sie rückten näher.
»Gibt es drüben anständigen Lohn?« fragte einer. Weitere Fragen prasselten auf William ein. Stimmte das mit dem Essen? Gab es wirklich jeden Tag ein saftiges Stück Fleisch? Auch für Arbeiter? Konnte man heiraten wen und wann man wollte? William beantwortete geduldig Frage um Frage, währenddessen er seine Brühe aß.
Danner presste seine Lippen zusammen.
»Herrgott nochmal!«, brach es aus ihm heraus. »Ich habe euch alles über Amerika erzählt. Was glotzt ihr alle auf unseren neuen Freund?«
»Er war wirklich drüben«, sagte der ehemalige Kutscher. »Du kennst das Land nur vom Hörensagen.«
Danner lief rot an. »Unsereinem geht es überall besser. In Preußen nähren wir die Pfaffen, Fürsten und Fabrikbesitzer. Sie werden fetter und fetter.«
Vielstimmiges Gemurmel antwortete ihm.
Danner hob die Hände. »Ich sage euch, es dauert nicht mehr lange und wir holen, was uns zusteht.«
»Wie soll das gehen?«, fragte der, den Danner als Jan vorgestellt hatte. »Sobald wir aufmucken, sorgen sie mit dem Bajonett für Ruhe.«
»Wenn du meinen Plan kennen würdest, wärst du zuversichtlicher«, antworte Danner.
»Wir taugen nicht zum Kämpfen. Du hast ja gedient«, wandte ein anderer ein.
Der Blonde packte den Redner am Kragen.
»Erwähne nie wieder, dass ich gedient habe. Das ist vorbei!«, knurrte er ihn an. Dann ließ er ihn los und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Waschweiber!«, dröhnte er. »Wartet ab! Bald erfahrt ihr, was ich vorhabe. Ihr werdet staunen.«
William hätte Danner nur zu gerne nach seinem Plan gefragt. Aber dieser hielt offenbar nichts davon, andere einzuweihen. Rudolf Danner gab zweifelsohne den Wortführer dieser seltsamen Gruppe.
»Nachdem, was ich bisher gesehen habe, geht es den meisten in den Vereinigten Staaten besser«, begann William. »Aber gebratene Tauben fliegen einem dort ebenso wenig in den Mund.« Die Männer brachen in schallendes Gelächter aus.
»Du bist wohl ein Schlauer«, sagte Danner. »Ich kann lesen.«
»Er bestimmt auch.«
William fuhr herum. Da stand Clara am Tisch, direkt neben ihr ein junger, bleichgesichtiger Mann in Arbeitskleidung. Er hatte die beiden nicht hereinkommen sehen.
»Er ist Journalist.«
»Hört, hört«, sagte Danner. »Und wer bist du?«
»Ein einfaches Dienstmädchen«, antwortete Clara. Sie ging mit ihrem Begleiter an das Ende des Tisches und nahm dort Platz.
Danner wandte sich wieder an William. »Was spült dich hier herein? Und wie kommst du zu deinem Namen?«
»Ich soll berichten, wie es den Menschen hier geht. Früher hieß ich Wilhelm Euskirchen.«
Er sah wieder das Plakat vor sich, wo für den Auftritt William Lloyd Garrisons geworben wurde. An diesem Abend hatte alles angefangen.
»Garrison hat mich dazu gebracht, für die Freiheit der Sklaven einzutreten. Ihm zu Ehren trage ich den Namen«, fuhr William fort.
»Muss ein beeindruckender Mensch sein«, sagte einer der Männer. »Und ein gebildeter.«
»Er war Schriftsetzer«, erklärte William. »Heute ist er Herausgeber einer Zeitschrift und einer der bekanntesten Gegner der Sklaverei.«
»Ich bin Schriftsetzer«, platze der Junge heraus, der in Claras Begleitung gekommen war und sprang auf. Das Dienstmädchen wollte ihn zurückhalten.
Robert Danner blickte erst zu William, dann zu dem Jungen.
»Hast du einen Namen?«, fragte er diesen.
»Eduard«, antwortete Claras Begleiter.
»Willkommen im Klub«, begrüßte ihn Danner. Dann rückte er näher an William heran. »Ich kann dir zeigen, wie es um uns einfache Arbeiter steht. Vielleicht willst du dann auf unserer Seite kämpfen.«
»Meine Waffen sind Wörter«, sagte William. »Ich kann helfen, auf eure Not aufmerksam zu machen.«
»Die Zeitungen drucken nur, was denen da oben genehm ist«, zweifelte Danner.
»Für Flugblätter gibt es keine Zensur«, erwiderte William.
»Dafür sperren sie einen ein«, erwiderte Danner düster.
Sie sprachen noch eine Weile und verabredeten sich für den kommenden Abend. William stand auf, drückte dem Blonden die Hand und nickte den anderen zu. Clara und Eduard standen ebenfalls auf und traten neben ihn.
»Wir gehen auch«, sagte sie.
William suchte nach dem Wirt und entdeckte ihn am Nebentisch sitzend.
»Ich werde öfters vorbeikommen«, sagte er in seine Richtung.
Draußen wandte er sich an Clara. »Warst du in Sorge um mich?«, fragte er.
Sie deutete auf Eduard. »Er hat mir erzählt, dass sich neuerdings üble Gesellen im Bierkeller herumtreiben.«
»Ich danke euch beiden«, sagte William. »Aber um mich braucht ihr keine Angst zu haben.« Er zwinkerte Clara zu. »In den Staaten gibt es viel derbere Gesellen.«