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WER WARUM DDR-GESCHICHTE SCHREIBT
ОглавлениеIch schreibe dieses Buch, weil es sonst niemand tut. Fast bin ich geneigt zu sagen: niemand tun kann. Wer Geschichte schreiben darf, bestimmt der Staat. Es braucht dafür eine Position im Wissenschaftsbetrieb (an einer Universität oder in einem Forschungsinstitut, in einem Museum oder in einer Behörde, die die Akten hütet). Natürlich kann sich jeder daheim an den Computer setzen und vorher vielleicht sogar in die Archive fahren, wenn sein Partner das denn toleriert und das Konto ein Auskommen sichert. Ohne eine Position im akademischen Feld aber bleibt das Selbstbefriedigung. Mehr noch: Es braucht eine Position am Machtpol dieses Feldes, um gehört (rezensiert, zitiert) zu werden. In der Wissenschaft ist Reputation alles und jedes Urteil über die Qualität von Forschung in diesem Licht zu lesen. Der Matthäus-Effekt6: »Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe. Wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat«.
Den Bürgerinnen und Bürgern der DDR ist ihre Geschichte genommen worden – zumindest all denen, die sich nicht wiederfinden in einem Narrativ, das vom Diskurs ›individuelle Freiheit‹ bestimmt wird und so ganz automatisch alles abwertet, was diese Freiheit einschränkt.7 Ein Staat, der sich offen einmischt in die Erziehung der Kinder, der den Feierabend in den Betrieben mitgestalten will und das Leben in Wohngemeinschaften und der zum Beispiel auch entscheidet, wie viele Menschen Journalistik studieren dürfen, und als Gegenleistung für den Studienplatz erwartet, dass jeder Absolvent die ersten drei Jahre nach dem Abschluss dort arbeitet, wo man ihn hinstellt.
Für meine Freundin und mich war das eine sehr konkrete Drohkulisse. Was tun, wenn der eine zurück an die Ostsee geschickt wird und der andere nach Karl-Marx-Stadt oder gar nach Hainichen? Wo würde unsere Tochter bleiben, die gerade ihren ersten Geburtstag gefeiert hatte, als wir nach Leipzig kamen? Wir haben uns deshalb im Frühsommer 1989 einen Termin beim Standesamt besorgt (für den 1. September 1990, kurz vor Beginn des dritten Studienjahres, in dem die Kommission entscheiden sollte und das dann hoffentlich zum Wohl des frisch vermählten Paares tun würde), und ich habe schon im zweiten Semester begonnen, auf eine Promotion hinzuarbeiten, um vielleicht als Forschungsstudent in Leipzig bleiben zu können und damit in der Nähe aller Lokalredaktionen der Freien Presse. Beides hat uns dann tatsächlich geholfen, allerdings ganz anders als gedacht. Die Wohnung, die wir im Herbst 1989 in Flöha bekommen hatten, stand im Frühjahr 1990 plötzlich unter Privilegienverdacht. Zweieinhalb Zimmer in einem Plattenbau, der inzwischen abgerissen worden ist und in dem man damals den Nachbarn beim Pullern lauschen konnte. Keine große Sache. Schwiegervater war aber im Ehrenamt Vorsitzender der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft ›1. Mai‹ und wie alle Funktionäre plötzlich suspekt. Sollte er nicht doch der eigenen Tochter an allen Regeln vorbei etwas zugeschanzt haben, was nur Verheirateten zustand? Ein Glück, dass wir den Trausaal im Schloss Augustusburg schon lange reserviert hatten. Und nochmal Glück, weil aus der Dissertation eine Laufbahn in der Wissenschaft wurde und damit ein Lebensunterhalt für die Familie.
Zurück zum Thema: Strukturen wie das System aus Delegierung und Absolventenlenkung, das die SED im Mediensystem der DDR etabliert hatte, schränken das eigene Handeln ein. Immer und überall.8 Ich konnte nicht einfach an die Universität gehen und mich für Journalistik einschreiben, und mir wäre ganz sicher nicht in den Sinn gekommen, nach Abgabe der Diplomarbeit mal eben beim Fernsehen anzurufen und mich dort als Nachfolger von Heinz Florian Oertel zu bewerben. Genauso wenig komme ich heute aber auf die Idee, das zu verurteilen, was damals war. Ohne Strukturen kann man nicht handeln. Ich wusste, wie man in der DDR Journalist wird. Am besten schon in der Schule ein paar Beiträge schreiben für die örtliche Presse, vielleicht einen der Lehrgänge für Volkskorrespondenten besuchen, sich womöglich für einen längeren Wehrdienst verpflichten, wenn man ein Mann war (als Loyalitätsbeweis), auf jeden Fall ein Volontariat durchlaufen, von dort hoffentlich zur Aufnahmeprüfung für das Studium delegiert werden und schließlich mit einem Diplom in der Tasche die Welt verbessern. Warum nicht. Wie bei jeder Struktur war auch der Weg in den DDR-Journalismus längst nicht immer so geradlinig, wie ich ihn gerade skizziert habe. Es ging zum Beispiel auch ohne längeren Wehrdienst, und wenn Mama und Papa Beziehungen hatten, dann hat die Zeitung die Tochter aus gutem Hause auch ohne Textproben und Test genommen. Dazu später mehr.
Worauf es mir an dieser Stelle ankommt: Solche Geschichten aus dem Alltag werden nicht erzählt – zumindest nicht in den Leitmedien, die das DDR-Bild bestimmen, und auch nicht in den Schulbüchern oder in den Museen, die der Staat finanziert. Es gibt dort keine DDR ohne Stacheldraht, ohne bärbeißige Funktionäre und ohne Spitzel, obwohl der Geheimdienst längst nicht omnipräsent und den allermeisten Menschen vor dem Herbst 1989 eigentlich egal war.9 Was seitdem in der Öffentlichkeit über die DDR erzählt wird, dient vor allem dazu, das politische System der Bundesrepublik zu legitimieren. Dieser Staat lässt sich das etwas kosten und fährt dabei Geschütze auf, vor denen jeder Einzelforscher nur kapitulieren kann.
Unser ›Wissen‹ über die DDR ist Ergebnis einer Geschichtspolitik, bei der es auch um den Zugang zu Fördertöpfen und Steuergeldern ging und geht, um Eitelkeiten, um persönliche Macht. »Delegitimierung der DDR«: Das sei der »Sonderauftrag« für Joachim Gauck gewesen, schreibt Daniela Dahn, einst Journalistik-Studentin in Leipzig, in ihrer »Abrechnung« mit der »Einheit«. Dieser »Sonderauftrag« erlaubte Gauck, eine Behörde aufzubauen, die zeitweise 3.000 (!) Mitarbeiter hatte und jedes Jahr immer noch rund 100 Millionen Euro kostet.10 Das ist mehr Geld, als die Universität Bamberg in ihrem Etat hat, und erklärt, wie das entstehen konnte, was Wolfgang Wippermann »Diktatur des Verdachts« nennt.11 Folgt man diesem westdeutschen Historiker, Jahrgang 1945, dann wurde die ›Dämonisierung‹ des anderen deutschen Staates nicht nur von den Hütern der Stasiunterlagen vorangetrieben, sondern zum Beispiel auch vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin unter der Leitung von Klaus Schroeder oder von Hubertus Knabe, der 1992 eine Stelle bei der Gauck-Behörde bekam, dann von 2000 bis 2018 Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen war und bei Wippermann als »Großinquisitor« firmiert.12
Um nicht falsch verstanden zu werden: Die DDR-Forschung ist weit mehr als Gauck, Schroeder, Knabe. Das war schon vor 1989 so und ist danach noch viel besser geworden, weil es jetzt Akten gab, meist keine Sperrfristen und jede Menge Neugier selbst bei denen, die unter dem Dach von Gauck-Birthler-Jahn arbeiten durften. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, das ich besonders gut kenne: Es gibt zum Thema Medien ein Buch von Rolf Geserick, geschrieben in den 1980ern nur mit dem Material, das damals im Westen öffentlich zugänglich war – und trotzdem erstaunlich nah dran an dem, was Anke Fiedler, geboren 1981 in Stuttgart, ein Vierteljahrhundert später aus den Tiefen des Bundesarchivs zutage fördern konnte.13 Nur: Geschichtspolitik wird nicht mit Dissertationen gemacht, sondern von Institutionen, die Medienstars an ihrer Spitze haben und schon wegen ihrer Ressourcen in der Lage sind, die Klaviatur einer medialisierten Gesellschaft zu bedienen.
Geschichtspolitik wird auch im Parlament gemacht, und das nicht nur über den Haushalt. Der Bundestag hat 1992 und 1995 zwei Enquete-Kommissionen eingesetzt, beide mit dem Schlagwort ›SED-Diktatur‹ im Titel (erst zur »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen« und dann zur »Überwindung der Folgen im Prozess der deutschen Einheit«). Vorsitzender war jeweils Rainer Eppelmann, einer der Köpfe der Opposition in der DDR und dann für die CDU im Parlament. Die Hinterlassenschaft der beiden Kommissionen ist online. 32 Bücher, im Volltext durchsuchbar. Viele Videos, Bilder, schier endlose Experten- und Zeitzeugenlisten. Wie gesagt: Selbst mit einem Lehrstuhl für Zeitgeschichte hat man jeden Kampf um Definitionsmacht verloren, bevor er überhaupt beginnen kann. Die Politik hat das erledigt, was sonst Sache der Geschichtswissenschaft ist,14 und sie hat auch die normale Reihenfolge einfach umgedreht. Erst das Ergebnis, dann die Forschung. SED-Diktatur. Punkt. Wie wichtig das für die damals gerade Herrschenden war, zeigt ein Blick auf die vier Enquete-Kommissionen, die der Bundestag seit 2010 eingesetzt hat. Dort ging bzw. geht es um Nachhaltigkeit, um künstliche Intelligenz sowie (gleich zweimal) um die Digitalisierung und damit, wenn man so will, um die Menschheitsfragen der Gegenwart.
Die akademische Journalistenausbildung kommt in dem Enquete-Konvolut aus den 1990ern nicht wirklich gut weg. Andreas G. Graf, ein Historiker aus der DDR, der 1990 im Alter von 38 Jahren an der Humboldt-Universität zum Thema Anarchismus promovierte, beschreibt dort die Anforderungen an Volontäre beim Fernsehen als »ideologisches Vorreinigungsset unter direkter Aufsicht«. Im Klartext: Journalist wurde man in der DDR nur, wenn man parierte und, so suggeriert es der Text in den nächsten Zeilen, wenn man bereit war, jederzeit in das Ministerium für Staatssicherheit zu wechseln, falls man nicht ohnehin schon von dort bezahlt wurde. »Es gab in der DDR mithin eine Art umgekehrtes Berufsverbot, nämlich ein Berufsgebot. Die Jugend wurde nach Wunschbildern teilweise sehr alter Menschen vorsortiert, und zwar von Menschen, die ohne Lernprozesse immer älter wurden«.15
Durch die Brille eines Anarchisten, der in der DDR erst spät zu akademischen Weihen kam und sich zumindest wissenschaftlich sonst kaum mit Medien und Öffentlichkeit beschäftigt hat, mag das so ausgesehen haben. Andreas G. Graf ist tot. Ich mag ihm nichts Schlechtes hinterherrufen. Gunter Holzweißig, Autor des zweiten Enquete-Textes zum Thema, wusste schon immer, was vom Journalismus in der DDR zu halten ist. »Ein uniformer, grobschlächtig-undifferenzierter Mechanismus«.16 Bei anderen müsste man dazuschreiben, dass das Zitat von 2011 ist. Nicht so bei Gunter Holzweißig. Er hat nach 1990 einfach das gleiche geschrieben wie vorher am Gesamtdeutschen Institut, damals noch ohne Akten und ohne Zeitzeugen.17 Der DDR-Deuter Holzweißig saß nach dem Verlust seiner Lebensaufgabe zwar im Bundesarchiv (direkt an der Quelle!), aber wozu lange suchen, wenn man sich selbst zitieren kann und einem die Geschichte Recht gegeben hatte? Die Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig hat in Holzweißigs Enquete-Bericht auf der ganzen Linie versagt. »Rotlichtbestrahlung« und »fachspezifische Vorbereitung« (was immer sich dahinter verbergen mag). That’s it. Jedenfalls kein Beitrag, der irgendwelchen höheren Ansprüchen an den Journalismus dienlich gewesen wäre. Selbst die »Medienhistoriker an der Sektion Journalistik«, die mich früh mit der Aussicht auf einen Doktortitel geködert hatten, werden von Holzweißig mit einem Federstrich erledigt (»Erfüllungsgehilfen der Partei«).18
Wahrscheinlich muss ich gar nicht mehr ausformulieren, worauf diese Argumentation hinausläuft. Wie Geschichte geschrieben wird, hängt davon ab, wer sie schreibt. DDR-Geschichte wird von Westdeutschen geschrieben, die oft eine besondere Beziehung zum Gegenstand haben (Gunter Holzweißig etwa wurde 1939 in Aue geboren), von Ostdeutschen, die von der SED behindert wurden oder wenigstens nicht so in das alte System verstrickt waren, dass sie von der gesamtdeutschen Geschichtsmaschine ganz zwangsläufig ausgespuckt werden mussten, sowie von Nachgeborenen und Zugereisten. Die DDR-Eliten fehlen in dieser Aufzählung – und auch Menschen wie ich, die heute in der DDR Spitzenpositionen haben würden, wenn dieser Staat nicht implodiert wäre. Wahrscheinlich wäre ich kein zweiter Oertel geworden. Ich weiß inzwischen, dass damals viele Jungs so sein wollten wie dieser Reporter, der Goldmedaillen zu Gänsehauterlebnissen machen konnte und dabei jedes Parteichinesisch vermied.19 Aber Chefredakteur, vielleicht sogar in Berlin, oder Journalistik-Professor in Leipzig: Das hätte ich mir schon zugetraut.
Ich erzähle in diesem Buch, was aus denen geworden ist, die mit mir geträumt haben von einer Laufbahn in den DDR-Medien und dann irgendwann aufgewacht sind in einem kommerziellen Zeitungsverlag oder in einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt. Ich erzähle, wie das entstanden ist, was wir damals in Leipzig lernen sollten, was davon bis heute trägt und was aus unseren Dozenten geworden ist. Ich erzähle das oft nicht selbst, sondern lasse die sprechen, die sonst nicht zu Wort kommen jenseits der Runden von Gleichgesinnten, die immer kleiner werden.
Ich will hier nicht zu viel vorwegnehmen, aber wenigstens zwei Dinge andeuten, die ich beim Zuhören gelernt habe. Geschichtspolitik und hegemonialer DDR-Diskurs wuchern in das Private und Persönliche hinein. Und: Medienmenschen, die die DDR erlebt haben, fremdeln mit manchem, was in den Redaktionen heute passiert. Ihr Credo: Öffentlichkeit herstellen. Offen für alle, auch für alle Themen.20 Ohne es immer selbst zu wissen, sind meine Kommilitonen von einst so ein lebendes Plädoyer für eine akademische Journalistenausbildung, die sich nicht am Modell ›Fachstudium plus Volontariat‹ orientiert, das kommerziell ausgerichtete Verlage in der alten Bundesrepublik propagiert und letztlich zur Norm gemacht haben, sondern Handwerk und Selbstreflexion ins Zentrum rückt. Der Gesellschaft, so könnte man das zuspitzen, wäre sehr geholfen, wenn sie ihre Medienhäuser in jeder Hinsicht öffnen und dabei der Journalistin von morgen erlauben würde, zunächst fern vom Berufsalltag verstehen zu lernen, was sie bald tun wird. Ich könnte hinzufügen: wie früher in Leipzig, weiß aber, dass ich dafür erst noch erklären muss, was genau ich damit meine. Zu stark sind die Bilder von Rotlichtbestrahlung und vorsortierten Studenten. Deshalb zunächst nur das: Im Kleinen zeigt sich am Beispiel Journalistenausbildung und Journalismus, dass die großen Krisen der Gegenwart mit der Geschichtspolitik verknüpft sind. Ein Land, das eine große Gruppe von Menschen mehr oder weniger ausschließt oder in die zweite Reihe verbannt und die Erfahrungen dieser Menschen ignoriert oder abwertet, schwächt sich selbst.