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4.WARUM DIE VERGANGENHEIT NICHT VERGEHT Ein Podium, in dem alles drin ist – sogar die Ostsee-Zeitung
ОглавлениеHeute werde ich entscheiden, dieses Buch zu schreiben. Es ist wieder Herbst in Leipzig, ein Novemberabend, kalt und nass, fast wie damals, vor 30 Jahren. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und vor allem nicht zurückholen, was man damals gedacht und gefühlt hat, selbst wenn der Rahmen dafür so perfekt ist wie heute. Aber den Versuch ist es wert, für mich jedenfalls. Das Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft hat, wie man so schön sagt, weder Zeit noch Mühe gescheut, um meine Geschichte in einem Raum zu versammeln. Natürlich: Es geht nicht um mich. Der Abend wird Hans Poerschke gehören, um den die Veranstalter bis zum letzten Moment zittern. Die Gesundheit. Poerschke wird 83. Er hört schon lange nicht mehr gut und mag sein Haus in Holzweißig nicht wirklich verlassen. Zur S-Bahn in Bitterfeld sind es fast drei Kilometer. Hans Poerschke hat seine Rede daheim am Computer vorbereitet, aber er traut seinem Körper nicht mehr. Wer weiß, was morgen sein wird.
Heute wird Hans Poerschke noch einmal in Leipzig gebraucht. Wer soll sonst sprechen, wenn es um den »Abriss des roten Klosters« geht, Untertitel: Wie die Leipziger Journalistenausbildung verwestlicht wurde. Es gibt niemanden, der Hans Poerschke auf diesem Podium ersetzen kann, auch Karl-Heinz Röhr nicht, anderthalb Jahre älter und trotzdem noch so fit, dass er dienstags zum Englischkurs ins Stadtzentrum fährt und hin und wieder sogar in die Red-Bull-Arena geht. Für das, was da geplant sei, schreibt Röhr eine Woche vorher, sei er »nicht der richtige Partner«.1
Röhr, der in diesem Buch noch eine Rolle spielen wird, war wie Poerschke Professor an der Sektion Journalistik. Beide sind fast parallel durch das Leben gegangen, Röhr immer diese anderthalb Schritte voraus auf dem weiten Weg von ganz unten. »Ich stamme aus ganz ärmlichen Verhältnissen«, sagt er. »Ein echter Proletarier«.2 »Zu Hause gab es nicht einmal einen ordentlichen Stuhl«.3 Bei Hans Poerschke klingt das ähnlich (»im wörtlichen Sinne aus einfachsten Verhältnissen«4), und auch sonst ist das mit der Parallele nicht einfach so dahingesagt. Die Mütter haben genäht, um die Familie durchzubringen, und die Väter waren nicht da, als die Jungs sie gebraucht hätten. Der eine, ein Schlosser im Braunkohlenwerk Borna, nahm sich 1936 das Leben, nachdem er arbeitslos geworden war und auch in Berlin nichts gefunden hatte, und der andere starb in jugoslawischer Gefangenschaft. Röhr wuchs bei einer Tante auf, einer Reinemachefrau in Borna, und Poerschke in einer »Laube in Friedrichsfelde«, ohne »Spielkameraden« und auch sonst so gut wie allein, da Mutter und Stiefvater in Schichten gearbeitet haben.5 Ohne die DDR, so lässt sich das zusammenfassen, wären Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke höchstwahrscheinlich nie an eine Universität gekommen und schon gar nicht auf eine Professur.
Trotzdem, schreibt Karl-Heinz Röhr. »In den entscheidenden Monaten« sei er ein Stück zu weit weg gewesen, in der Gewerkschaftsleitung der Universität, jenseits von »Lehre und Forschung«. Er habe »die diskriminierende Einladung zur Evaluierung« ausgeschlagen, »freiwillig gekündigt und Herrn Reimers mitgeteilt, dass wir auch eine akademische Ehre haben«. Karl Friedrich Reimers, Neugründer der Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und wie Röhr 1935 geboren, ist an diesem Abend nicht da und doch sehr präsent. Er hat ein Interview mit sich führen lassen und das so breit wie möglich gestreut.6 Jeder soll wissen, dass der Titel dieser Veranstaltung ein Aberwitz ist und mindestens genauso unmöglich wie ein Podium ohne ihn. Ich werde den Text ein paar Wochen später im Büro in München finden und ihn sofort anrufen, weil Reimers für mich in gewisser Weise das ist, was die DDR für Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke war. Dazu gleich mehr.
Vorher ist noch zu erzählen, wo sich die Wege der beiden Leipziger Professoren getrennt haben. Karl-Heinz Röhr spricht von einem »Knick« in seiner Laufbahn, den niemand sieht, der die DDR nicht kennt. Ende der 1970er-Jahre war das, kurz nach der Habilitation, die damals Promotion B hieß und genau wie heute die Weichen stellte für die Berufung zum Professor. Röhr war ohnehin schon die Nummer 1 im Bereich journalistische Methodik, Emil Dusiska aber, der Sektionsdirektor, suchte jemanden, den er zum Parteisekretär machen konnte. Sein Argument: Du musst »erst Leitungserfahrung sammeln«, Genosse. Vermutlich wäre das auch ohne Argument gegangen. Wer sein Leben an die SED gebunden hatte wie Karl-Heinz Röhr, konnte bei so einem Vorschlag selbst dann nicht nein sagen, wenn er wusste, dass aus dem Direktor nicht die herrschende Klasse sprach, sondern nur der sehr persönliche Wunsch, einen Posten so schnell wie möglich zu besetzen.
Röhr wurde dann doch noch ordentlicher Professor, 1989, kurz vor Toresschluss, der »Knick« aber, das zeigte sich wenig später, hat ihn mehr gekostet als ein Jahrzehnt Funktionärsumleitung. Seine Fahrt war von einem Tag auf den anderen zu Ende, mit Mitte 50, in dem Alter, in dem ich jetzt bin und in dem ich fest damit rechne, dass das ›große Buch‹ noch kommt. Karl-Heinz Röhr ist damals zu den Klinkenputzern gewechselt. Anzeigenakquise, in einer Agentur, die einem seiner Studenten gehörte, und in einem Gebiet, in dem es nur Treuhandfirmen gab und damit so gut wie niemanden, der Geld für Werbung hatte. Er hat das eine Weile versucht und dann nach dem Strohhalm Frühverrentung gegriffen. Wer älter als 55 war, konnte bis Ende 1992 Altersübergangsgeld beantragen, 65 Prozent vom letzten Nettolohn. Ein Massenschicksal. Gut eine Million Fälle standen Anfang 1993 in der Statistik,7 eine Zahl, die viel größer ist als das, was wir uns normalerweise vorstellen können. Dass es an der Universität keinen Platz mehr für ihn geben würde, habe er »sofort« gewusst, sagt Karl-Heinz Röhr. »Ich war ja mal Parteisekretär. Das war ein Makel. Ich hätte bei der Evaluierung keine Chance gehabt. Die Westkollegen wären erschrocken«.8
Hans Poerschke ist schon 1983 ordentlicher Professor geworden, ganz regulär, ein Jahr nach der Promotion B. Heute Abend wird er berichten, dass er »ein Anhänger Lenins« gewesen ist und dabei in Leipzig »als eine Art Papst« galt, »zu Unrecht freilich«.9 Auch darüber ist gleich noch zu sprechen. »In den entscheidenden Monaten«, in denen Karl-Heinz Röhr schon auf dem Abstellgleis steht, fährt Hans Poerschke ins Rampenlicht. Ein bisschen wird er auch geschoben, von Studenten wie mir, die im Oktober 1990 nur ihm das Vertrauen aussprechen und damit Günter Raue und Klaus Preisigke, seine beiden Kollegen im Direktorium, zum Rücktritt zwingen. Poerschke ist am 21. Dezember 1990 bei Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer in Dresden, um gegen die Abwicklung der Sektion Journalistik zu protestieren, organisiert dann das Lehrprogramm, als der Minister seinen Beschluss zurückzieht, und ist schon deshalb für Karl Friedrich Reimers, den neuen starken Mann aus München, der wichtigste Ansprechpartner.
Reimers wird mir ein paar Wochen später am Telefon von ihren gemeinsamen Spaziergängen durch Leipzig erzählen, von einer Attacke der Bild-Zeitung (Tenor: Münchner Professor rettet den roten Poerschke) und davon, wie er bei Minister Meyer und Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ein Jahr ›Sabbatical‹ für Hans Poerschke erkämpft hat. Das sei eine Frage des »Anstands« gewesen und eine »Charakterfrage«, sagt Reimers. Poerschke habe Zeit gebraucht, auch in der Bibliothek, »um sich mit seiner Linie entfalten zu können«. Der Ministerpräsident, der in meinem Ohr fast zu einem alten Kumpel von Reimers schrumpft, habe das zwar für »Luxus« gehalten und der Minister für etwas, das er, der Katholik Hans Joachim Meyer, in der Poerschke-DDR nie bekommen hätte, am Ende aber sei ihm, Reimers, dieser Wunsch vom »Imperium« Biedenkopf-Meyer gewährt worden, als »persönliches Entgegenkommen«.10
Von Bayern aus gesehen ist das alles ganz einfach, immer noch. Hans Poerschke hat da eine große Chance gehabt, auf dem Silbertablett serviert sozusagen von einem verständnisvollen und einfühlsamen Bruder aus dem Westen, gegen den Widerstand der Machtmenschen, die jetzt das Kommando hatten, und er hat diese Chance nicht genutzt, genau wie Bernd Okun, noch so ein Liebling meiner Studentengeneration. Poerschke wird heute Abend sagen, dass ihm damals »die Gelassenheit« gefehlt habe, »die man braucht, um Abstand zu finden«. Er habe zwar »nie wieder so viel gelesen wie in diesem Jahr«, aber »ich wollte mich nicht einfach auf den Schoß von Onkel Niklas setzen oder von Onkel Jürgen oder von Onkel Karl«. Luhmann, Habermas, Popper. »Die waren ja frisch im Angebot, und die Studenten waren zum guten Teil begeistert. Ich habe gemerkt, dass ich dort keine Erklärung finde, die für mich akzeptabel ist. Damit hatte sich jeder Wunsch erledigt, weiterzumachen als wäre nichts gewesen. Ich habe mich nicht beworben aus gutem Grund«.11
Wie Karl-Heinz Röhr hat auch Hans Poerschke das Altersübergangsgeld genommen, fünf Jahre lang. »Heute glaubt keiner mehr, dass es so etwas gegeben hat«, sagt er. »Eine Form der Arbeitslosigkeit, bei der man ordentliches Geld bekam und nicht vermittelt werden musste«.12 Das Publikum im Zeitgeschichtlichen Forum wird ihm nachher an den Lippen hängen, wenn er erzählt, wie er seitdem mit seinem Lenin gerungen hat. Jeder spürt: Dieser Kampf ist noch nicht vorbei. Hans Poerschke sagt, dass er »zum Untergang der DDR« beigetragen hat, und will deshalb wissen, wie es dazu kommen konnte, selbst wenn es nur ihn allein interessieren sollte und wenn das Grübeln alle vergrault, die er von früher kennt. Wie konnte er zur »Spinne im Netz« werden, zu dem Professor, der in Leipzig »die Theorie des Journalismus« vertreten hat, »das Ideologischste vom Ideologischen«, und dabei auch rechtfertigen konnte, dass die Medien den Menschen nur die Welt zeigten, die die »damals Herrschenden« dort sehen wollten?13
Karl-Heinz Röhr hat seinen Frieden auf dem Land gefunden, in einem Häuschen, das er Datsche nennt und das ihn, den gelernten Bergmaschinenmann, noch einmal zum Handwerker werden ließ. Heute wohnt er wieder in Leipzig, nicht weit weg von den beiden Kindern und ihren Familien. Wenn der Computer streikt, kommt ein Enkel. Dass ich das hier erwähne, sagt viel über den deutschen Osten. Meine Tochter arbeitet in Stuttgart und mein Sohn in München. Wie oft sehen sie da ihre Großeltern auf Rügen und in Flöha? Wie oft würde die Omi an der Ostsee etwas von ihrem Enkel hören ohne WhatsApp, wo er ihr das schickt, was er für den Zündfunk macht, ein Radiomagazin beim Bayerischen Rundfunk, obwohl er weiß, dass sie so eine Datei ohne ihn nur mit Mühe öffnen kann? Wer alt ist, hat überall auf der Welt »viel Vergangenheit und wenig Zukunft«.14 In Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen aber wird das eine (die Vergangenheit) noch größer und das andere (die Zukunft) noch kleiner, weil die, die trösten könnten, oft weit weg sind. Im Westen. Da, wo die Arbeit ist.