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3.WIE ICH GESCHICHTE SCHREIBEN WILL

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Eigentlich sollte dieses Buch Rückkehr nach Leipzig heißen. Ich wollte schon im Titel einen Anspruch signalisieren, der weit über die Journalistik hinausgeht, und mich deshalb an Didier Eribon anlehnen.1 Der Bestseller Rückkehr nach Reims erklärt, was viele nicht nur in Frankreich unerklärlich finden: Wie konnte es passieren, dass die extreme Rechte in diesem Land heute ausgerechnet von denen gewählt wird, die auf den ersten Blick nichts zu verlieren haben als ihre Ketten und deshalb früher, in den 1960ern und vielleicht sogar noch in den 1980ern, gewissermaßen mit einem roten Parteibuch zur Welt kamen? Als wenn diese Frage nicht schon außerordentlich genug wäre, widmet sich ihr ein Autor, der Ungewöhnliches erlebt hat. Homosexualität in der Provinz, der Bruch mit dem Vater und mit der Familie, Freundschaften mit Bourdieu und Foucault. Das ist der Stoff, der soziologische Analysen auf die große Theaterbühne bringt.2

Wer 2020 Rückkehr nach Leipzig auf einen Buchdeckel schreibt, sagt: Ich werde den Osten Deutschlands erklären. Ich werde erzählen, warum die Menschen dort ›drüben‹ unzufrieden sind. Warum sie all das nicht zu genießen scheinen, was die Einheit ihnen beschert hat, Autobahnen, hübsche Fassaden, Kreuzfahrten in die weite Welt, und stattdessen so wählen, dass die großen Medienhäuser in München, Hamburg, Frankfurt immer wieder Reporter ausschwärmen lassen müssen. Und: Ich werde das alles mit einer persönlichen Geschichte verbinden, die so unerhört ist und so spannend, dass sie ein ganzes Buch trägt.

Ich habe gemerkt: Dieser Titel ist zu groß. Es geht um die DDR, das schon. Es geht auch um das, was aus diesem Land geworden ist und aus den Menschen, die dort gelebt und gearbeitet haben. Es geht aber nicht um alle, sondern nur um die, die ich am besten kenne: Journalistinnen und Journalisten und ihre Ausbilder an den Universitäten. Ich bin 1988 zum Studium nach Leipzig gegangen, um Heinz Florian Oertel zu beerben oder Chefredakteur zu werden. So ganz genau weiß man das nicht, wenn man 21 ist und seine Jugend auf der Insel Rügen verbracht hat. Vor allem wusste ich damals nicht, dass der Weg auf den Kommentatorensessel bei einem Fußball-Länderspiel unendlich viel weiter ist, wenn man sein Volontariat bei der Ostsee-Zeitung macht und nicht beim Fernsehen, vielleicht sogar mit dem großen Oertel als Mentor. Dass Leipzig dann in die Geschichtsbücher eingehen würde, konnte ohnehin niemand wissen.

Heute bin ich Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität München. Das heißt: ein kleines Licht, verglichen jedenfalls mit Didier Eribon und all jenen, die sonst glauben, ihre Lebensgeschichte in ein Buch gießen zu müssen. Die Kommunikationswissenschaft ist in diesem Land so unbedeutend, dass man den meisten erst einmal erklären muss, was wir da machen. Nein: Wir interessieren uns nicht für Gespräche wie das, was wir gerade führen, und auch nicht für das, was zwischen dir und deiner Chefin gerade läuft. Wir untersuchen Medien. Massenmedien. Öffentliche Kommunikation. Bei uns studieren auch Menschen, die in den Journalismus wollen, sie lernen dabei aber nicht, wie man einen Artikel schreibt oder einen Film dreht, sondern wie man solche Medienprodukte analysiert und ihren Wirkungen auf die Spur kommt.

Die öffentliche Resonanz auf unsere Forschung geht gegen Null. Wenn irgendetwas schief läuft mit den Medien, werden eher Soziologen gefragt, Philosophen oder Politiker. Welterklärung verkauft sich besser als eine Sozialwissenschaft, die jeden ihrer Befunde mit einem ›Wenn und Aber‹ versehen muss und schon deshalb nicht dazu neigt, irgendeinen Alarmismus zu bedienen. Vermutlich war diese Bedeutungslosigkeit mein Glück. Ich kann mir immer noch schwer vorstellen, dass man mit meiner Kaderakte in diesem Deutschland einen Posten bekommt, der außerhalb der kleinen akademischen Disziplin, die ich vertrete, für wichtig gehalten wird. Dafür war ich aller Jugend zum Trotz schon zu tief drin in einer DDR, die im hegemonialen Diskurs als Diktatur konstruiert wird. Die Stasi und die Mauer. Bautzen und Torgau. »Wenn ich DDR höre, dann denke ich an Schmerz«, sagte Jan, ein Schüler aus Bayern, damals 16 Jahre alt und ohne jeden Kontakt in den Osten, als wir ihn 2012 in einer Studie zum kollektiven Gedächtnis befragt haben. »Diese Unterdrückung. Die Leute wurden da mehr oder weniger eingepfercht. In so ein großräumiges KZ. Jeder musste immer genau angeben, was er tut.«3

In diesem Lager (um in Jans Bild zu bleiben) war ich dazu ausersehen, für gute Laune zu sorgen. Ist doch schön hier. Was nicht schön ist, wird schon noch. Habt Geduld. Im Zweifel ist der Kapitalismus schuld. Egal ob bei der Presse in Rostock oder beim Fernsehen in Berlin-Adlershof: In der DDR wurde man nur dann Journalist, wenn einem dieser Staat und seine Idee vom Sozialismus irgendwie gefielen. Ich habe mich immer amüsiert, wenn meine Studenten in München akribisch aufzählen wollten, was sich die SED alles ausgedacht hatte, um den Spielraum in den Redaktionen zu begrenzen. Agitationskommission, Abteilung Agitation, Donnerstags-Argu, Presseamt. Die Nachrichtenagentur ADN. Die Staatssicherheit. Und über allem der General-Chefredakteur, eine Rolle, die Erich Honecker viel mehr geliebt und gelebt hat als Walter Ulbricht.4 Das gab es, keine Frage. Nur: Wie überall steht und fällt auch in den Medien alles mit der Personalauswahl. Die Ostsee-Zeitung hätte nie und nimmer einen unsicheren Kantonisten eingestellt. Es war dort Mitte der 1980er-Jahre schon schwer, ein Volontariat zu bekommen, wenn man nicht versprechen wollte, gleich nach seinem 18. Geburtstag Kandidat der führenden Partei zu werden.

Ein SED-Mitglied an der Universität München. Ein kommunistischer Agitator. Ich werde später berichten, wie Ulrich Hörlein darauf reagiert hat, lange Ministerialdirigent im bayerischen Wissenschaftsministerium und dort 2002 für meine Berufung zuständig. So aufregend das für mich und meine Familie auch war (meine Frau bekam in dieser Zeit eine Gesichtslähmung, die man noch sehen kann, wenn man ganz genau hinschaut): Eigentlich ist das alles nichts, was man vor einem größeren Publikum ausbreiten sollte. Aus meinen Studien zur Medienlogik weiß ich, dass es dafür Prominenz braucht, Konflikte mit Spitzenleuten oder irgendetwas, das es so noch nicht gegeben hat.5 So vermessen kann niemand sein, der jeden Tag aus einer 60-Quadratmeter-Wohnung in Haidhausen in ein kleines Universitätsinstitut am Rande des Englischen Gartens spaziert und dort Mühe hat, drei Retweets zu bekommen und den Vorlesungssaal bis zum Ende des Semesters wenigstens nicht ganz leer zu spielen.

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