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WAS VOR 30 JAHREN VERLOREN GEGANGEN IST
ОглавлениеWenn man so will, ist Karl-Heinz Röhr heute die ›Spinne im Netz‹. Er hält gleich zwei Veteranenrunden zusammen: die Leipziger Journalisten und die, die mit ihm an der Sektion Journalistik gearbeitet haben. Gastvorträge, die Weihnachtsfeier, Beerdigungen. Einer muss dafür sorgen, dass die anderen Bescheid wissen und dann auch erscheinen, obwohl die Lust, die Wohnung zu verlassen, mit dem Alter nicht größer wird. Karl-Heinz Röhr hat auch an diesem Abend dafür gesorgt, dass viele der Ehemaligen gekommen sind, um Hans Poerschke zu hören. Selbst Sigrid Hoyer ist da, die solche Begegnungen sonst meidet, weil sie den Neid nicht mag, den sie in den Gesichtern einiger Kollegen von früher zu sehen glaubt, und weil sie nicht vergessen hat, was manche gesagt haben, als sie bleiben durfte und andere nicht. »Karl-Heinz zuliebe«, sagt sie, »und auch wegen Hans«.
Sigrid Hoyer hätte heute Abend durchaus vorn sitzen können, neben Michael Haller, einem Professor aus Hamburg, der gut ein Jahrzehnt ihr Chef war, neben Horst Pöttker, den die evangelische Kirche Anfang der 1990er-Jahre für ein paar Jahre nach Leipzig geschickt hat, der dann aber einen Lehrstuhl in Dortmund vorzog, und neben Heike Schüler, im Herbst 1989 immatrikuliert und heute Reporterin der Abendschau beim RBB. Eine Frau mehr auf dem Podium, dazu noch jemand, der nicht Professorin war und beide Systeme kennt: Das hätte vielleicht auch die beruhigt, die schon vorher wussten, dass heute Abend nur das herauskommen kann, was immer rauskommt, wenn man die sprechen lässt, die auch sonst das Sagen haben. Westdeutsche, Männer, Professoren.
Sigrid Hoyer war in der Gründungskommission der Leipziger Kommunikations- und Medienwissenschaft, gewählt von den Kolleginnen und Kollegen, und damit sozusagen live dabei, als Karl Friedrich Reimers das Realität werden ließ, was er sich in München zurechtgelegt hatte. Sie hat selbst einen Reformplan ausgearbeitet, sehr früh schon, im Januar 1990, in einer ›Alternativgruppe‹, ohne Professoren, aber mit Uwe Madel und Andreas Rook, die mit mir im Herbst 1988 zum Studium nach Leipzig gekommen waren. Dieses Papier wirkt auch nach 30 Jahren taufrisch. Gleich auf der ersten Seite stehen die Wörter ›Chance‹ und ›Hoffnung‹. Wann, wenn nicht jetzt. »Nach einer neuen, sozial und ökologisch progressiven Lebensweise« suchen, »die weniger extensiv Ressourcen beansprucht und mehr wirklichen Raum für die freie, universelle Entwicklung der Individuen schafft«. Die DDR erneuern (okay, das hat sich inzwischen erledigt) und sich dabei beteiligen an der »globalen Suche nach einer neuen Entwicklungslogik der menschlichen Gesellschaft«.15
Die Diagnose könnte ich immer noch unterschreiben, aber die Euphorie von damals ist weg. Man muss in die Archive gehen und in die Details, um zu verstehen, was verloren gegangen ist in einem Prozess, der von Westdeutschen gestaltet wurde, die sich gerade eingerichtet hatten in ihrer Bundesrepublik und sich nicht viel mehr vorstellen konnten als das, was ihnen ohnehin schon ganz gut gefiel. Ein bisschen Kosmetik vielleicht oder, das hat Karl Friedrich Reimers mit der Leipziger Journalistik gemacht, etwas ausprobieren, was ›drüben‹ nicht ging, weil gewachsene Strukturen wehrhaft sind. Die ›Alternativgruppe‹ um Hoyer, Madel, Rook hat größer gedacht. ›Out of the box‹, würde man heute sagen. Ihr Papier fordert eine »umfassende demokratische Öffentlichkeit« und schlägt vor, damit am besten gleich an der Universität anzufangen. Studenten, die ihr Studium selbst organisieren, dabei nur einen minimalen ›Pflichtanteil‹ haben, von Anfang an gleichberechtigt in die Forschung einbezogen werden und in den journalistischen Übungen »druckfähige Manuskripte« produzieren.16 Bekommen haben wir Bologna. Stunden- und Semesterpläne, Klausuren mit Antwortvorgaben und Kästchen zum Ankreuzen, Hausarbeiten, bei denen die Plagiatssoftware wichtiger ist als die Dozentin. Wenig Selbstbestimmung und viel Schule.
Auch wenn das kurz wegführt von Sigrid Hoyer, Hans Poerschke und dem Leipziger Podium: Christoph Links, in der DDR Journalist und seit Dezember 1989 Verleger, hat gerade einen Schatz ausgegraben – mehr als 30 Gespräche mit ostdeutschen Liedermachern und Kabarettisten, geführt in den frühen 1990ern und jetzt gedruckt. Man sieht dort, dass das, was wir heute diskutieren, schon lange gärt und nur verschüttet war, vielleicht vom Erfolgsrausch, in den sich der Kapitalismus 1989/90 hineingetaumelt hat, vielleicht von dem Stress, den all das den Deutschen beschert hat, auf jeden Fall aber durch das Verstummen der Stimmen, die in diesen frühen Einheitsjahren noch kräftig sind. In den Interviews geht es um den Rechtsruck im Osten und um Neonazis, um Umwelt und Klima, um »die ungeheuer große Ausbeutung« des globalen Südens (bei Gerd Eggers und Udo Magister noch die »dritte Welt«) und um eine Gesellschaft, die auch deshalb auf den Abgrund zurast, weil ihre Logik will, »dass einer etwas für sich auf Kosten der anderen erreicht« (Norbert Bischoff).17 Alles schon da vor 30 Jahren. Alles als Problem erkannt – von Menschen allerdings, die gerade ihre privilegierte Sprecherposition verloren hatten und in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit nie wieder so prominent sein werden wie in der DDR.
Gerhard Gundermann zum Beispiel, Jahrgang 1955, wieder aus der Versenkung geholt von Filmregisseur Andreas Dresen,18 ahnte schon im April 1990, dass seine »Generation ein wenig übersprungen wird«. In der DDR von den Alten ausgebremst und jetzt ohne Chance gegen die Jungen (Unbelasteten) aus dem Osten und die Etablierten aus dem Westen. Noch ein wenig weiter im O-Ton dieses großen Künstlers: »Ich denke, irgendwann werden wir die bürgerliche Demokratie als Volk durchexerziert haben – als Kurzlehrgang. Es muss ja irgendwie weitergehen, und die Fragen, die die Welt heute stellt, sind nicht mehr alleine mit bürgerlicher Demokratie zu lösen«.19
Dresens Film über Gundermann erzählt, welchen Fragen er sich schon bald danach zu stellen hatte. Die Stasi. Überhaupt die DDR. Auch davon sprechen die Interviews in diesem Buch. Vom »Schuldsyndrom« (Stefan Körbel). Vom »Gefühl, sozusagen alles falsch gemacht zu haben. Das wird uns ja auch unentwegt signalisiert, und zwar von den Westdeutschen« (Edgar Harter). Von der Frage, warum man nicht ausgereist sei. Annekathrin Bürger spricht im September 1992 über die »vielen Kollegen«, die genau gewusst hätten, welche Chancen und welchen Film sie im Westen bekommen, wenn sie die DDR verlassen, und die jetzt so tun würden, als seien sie »politisch verfolgt« worden. Sie selbst werde sich deshalb nicht dafür entschuldigen, dass »ich nicht gegangen bin«.20 Diese Debatten werden die Deutschen jahrelang beschäftigen und gleich auch im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig wieder hochkochen.
Auf der Strecke geblieben sind neben den meisten Menschen, die in diesem Christoph-Links-Buch sprechen, Potenzial und viele der »tausend möglichen Antworten« (Gundermann21), die Wissenschaftler und Künstler der Gesellschaft vorschlagen. Man kann das leicht auf die Leipziger Journalistik übertragen, auf Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke, aber auch auf Sigrid Hoyer, die sich der Evaluation gestellt hat (»vielleicht war es Trotz, ich wollte mich nicht ducken«22), die Universität dann kurz verließ, obwohl sie grünes Licht bekam, aber zurückkehrte und noch gut anderthalb Jahrzehnte lehrte, gar nicht so viel anders als vorher in der DDR. Ihr Feld waren die Formen, die mehr sind als das Schwarzbrot, das die Zeitung nährt. Kolumne und Reportage, Essay, Feuilleton. Was sie in ihren Seminaren versucht hat, gleicht der Quadratur des Kreises. In meinen Worten: das kreative Element im Journalismus in eine Systematik pressen und damit so gefügig machen, dass auch der letzte Student nur ein wenig Mühe investieren muss, um als kleiner Kisch zu seinem Lokalblatt zurückzukehren. Viel Konkretes ist bei mir nicht mehr da 30 Jahre nach dem Studium, aber von Sigrid Hoyers Veranstaltungen zur ›Idee‹ habe ich später immer wieder erzählt, angemessen belustigt, damit meine Gesprächspartner mich nicht für verrückt hielten, aber auch mit dem Wissen, wie sehr mir das geholfen hat. Ja, eine ›Idee‹ lässt sich nicht erzwingen. Aber du kannst viel dafür tun, dass der Sprung von der Quantität (Recherche) zur Qualität (Originalität) wahrscheinlicher wird. Lesen vor allem, immer wieder lesen.
In der akademischen Journalistenausbildung gibt es nichts mehr, was an Sigrid Hoyer erinnert. Um eine Theorie oder eine bestimmte Art zu lehren und zu forschen dauerhaft an der Universität zu verankern, braucht man eine Professur. Ohne eine Professur hat man keine Schülerinnen und Schüler, die das in ihre Texte aufnehmen (müssen) und später weitertragen und feiern, was man selbst gedacht hat, und auch keine Ressourcen, die eigenen Gedanken aus dem Seminarraum hinauszutragen. Sigrid Hoyer hatte ihre Dissertation B fertig, als die Mauer fiel.23 Alles zwischen zwei Buchdeckeln, was sie zur ›Idee‹ im Journalismus zu sagen hatte, gestützt auf »Dutzende Jahres- und Diplomarbeiten«, auf unendlich viele Werkstattgespräche in den Redaktionen und auf das, was sich außerhalb der Journalistik zum Thema finden ließ.24 Werner Gilde zum Beispiel, Direktor des Instituts für Schweißtechnik (!) in Halle, ein Patentjäger, der wissenschaftliche Durchbrüche für planbar hielt.25 Hans-Georg und Gerlinde Mehlhorn, zwei Bildungsforscher, die dann Anfang der 1990er-Jahre in Leipzig ein Kreativitätszentrum gegründet haben, das mir und meiner Tochter Juliane viele Nachmittage und Abende versüßt hat. Und vor allem Franz Loeser, Ethik-Professor an der Humboldt-Universität, der Sigrid Hoyer in zwei Punkten bestärkte. Grundlagenforschung muss nicht anwendbar sein. Und: Es ist nicht nur möglich, Kreativität und Schöpfertum auf die Spur zu kommen, sondern mehr als wünschenswert. Eine ›Krönung‹ wissenschaftlicher Arbeit. Sigrid Hoyer hat ihre Dissertation B im August 1989 abgegeben. Das Verfahren wurde am 8. November eröffnet. Am nächsten Tag war nichts mehr wie vorher.
Sigrid Hoyer hat den Brief noch, den Karl-Heinz Röhr im Januar 1990 an das Dekanat schickte, um eine Kollegin zu retten, die auch sein Schützling war. »Er bat darum, mir eine Nacharbeit zu ermöglichen, machte dafür auch Vorschläge und bot mir Rat und Hilfe an. Er versuchte damit, zumindest nicht hinzunehmen, was eigentlich längst unabänderlich schien«, schon jetzt, fast ein Jahr vor dem Abwicklungsbeschluss. Sigrid Hoyer konnte ihre Arbeit nicht umschreiben. Sie wollte das auch nicht. Was sie sich bis heute wünscht: dass man ihr erlaubt hätte, die Arbeit zu verteidigen. Lasst uns doch schauen, ob das einen ›wissenschaftlichen Wert‹ hat, ganz unabhängig von allen politischen Systemen. »In der DDR haben wir Meinungspluralismus eingefordert«, sagt sie heute. »Gilt das nicht auch für die Wissenschaft, habe ich mich damals gefragt«. Günther Wartenberg, ein Theologe, drei Jahre jünger als Sigrid Hoyer, wie sie in den 1960ern in Leipzig Student und ab 1991 Prorektor für Forschung und Lehre, hat da nur mit den Schultern gezuckt. An dieser Universität, eine solche Arbeit?
Man kann es sich leicht machen und sagen: So war das eben damals. Wenn Melanie Malczok, die heute Abend als Moderatorin zwischen Michael Haller und Hans Poerschke, Heike Schüler und Horst Pöttker sitzt, nachher zum ersten Mal ins Publikum schaut, wird der Finger von Reinhard Bohse nach oben schnellen, nicht viel anders als im ersten Nachwendejahrzehnt, in dem Bohse Pressesprecher der Stadt war und allgegenwärtig, wenn es um die Vergangenheit ging. »Eine Sauerei«, wird Bohse heute sagen. Die Stasi. Dieses brutale System, dass die Massen »hinweggefegt« haben. Die Leute, »die wirklich gelitten haben, die in den Knast gekommen sind, denen man die Freiheit geraubt hat. Daran waren die Propagandisten beteiligt, die hier in Leipzig gelernt haben«. Reinhard Bohse weiß den hegemonialen DDR-Diskurs hinter sich. Er war 1989 dabei, als in Leipzig das Neue Forum gegründet wurde, und gehört seitdem zu den Guten. Mein Herz wird wie immer schneller schlagen, wenn ich diese Mauer aus Moral und Selbstgerechtigkeit sehe, an der meine Biografie zerschellt. In den nächsten Tagen, wieder mit Normalpuls, werde ich allen zustimmen, die Bohse loben – vor allem denen, die zu jung sind, um schon erlebt zu haben, wie Ostdeutsche um die Vergangenheit kämpfen. Ja, ohne diesen Beitrag wäre diese Veranstaltung nicht rund gewesen. Ohne diesen Beitrag kann man nicht verstehen, warum Sigrid Hoyer mit ihrer Dissertation B nicht einmal durchfallen durfte.
Über die Evaluierung mag Sigrid Hoyer nicht wirklich sprechen. Zu viele schlechte Erinnerungen, obwohl das für sie gut ausgegangen ist, auf den ersten Blick zumindest. Die Wunden sieht man nicht. Kolleginnen und Kollegen, die hinter dem Rücken tuscheln. Die Gründungskommission, na klar. Da weiß doch jeder, warum sie bleiben darf. Die Ungewissheit, die schon der Papierberg mit sich bringt, der jetzt beweisen soll, dass man überhaupt für den Job geeignet ist, für den man seit zweieinhalb Jahrzehnten bezahlt wird. Publikationen, Mitgliedschaften und Funktionen, Auszeichnungen, Stasi-Erklärung. Auf Karl Friedrich Reimers, den Gründungsdekan aus München, lässt Sigrid Hoyer nicht viel kommen, wie auch all die anderen nicht, die ich nach ihm gefragt habe. Ehrlich, verständnisvoll, zugewandt. Und doch. »Es bleibt eine Geste der Sieger, wenn sich der andere deutsche Staat anmaßt, über uns und unser Leben zu urteilen. Sie entschieden nach ihren Regeln, wer von uns integrierbar ist«. Sigrid Hoyer wurde gefragt, wofür sie die Leibniz-Medaille bekommen hat, keine ganz kleine Ehrung, vergeben von der Akademie der Wissenschaften in Berlin. In der Liste der Preisträger steht Hans Joachim Meyer (2007), der Abwicklungs-Minister, neben Ruth Bahls (1975), meiner Englischlehrerin in Göhren auf Rügen, ›Frollein Bahls‹, eine Kapitänstochter, die wie Sigrid Hoyer ihre Reifeprüfung auf der Hansaschule in Stralsund bestanden hat (1929), dann Europa bereiste, was uns DDR-Kindern Ehrfurcht einflößte, und noch mit Mitte 70 vor der Klasse stand, obwohl sie nicht viel mehr gesehen haben dürfte als die erste Reihe. Es gab sonst an der Schule niemanden, der Englisch unterrichten konnte. Meine Eltern gehen jeden Tag an den Museen vorbei, die Ruth Bahls, Ehrenbürgerin von Göhren, dem Ort hinterlassen hat.26 Sigrid Hoyer: »Sollte ich mich rechtfertigen, weil ich die Medaille für wissenschaftliche Arbeiten bekommen habe, die nun auf den Prüfstand der Geschichte geraten würden?«
Es ist nicht schwer, von hier in die 1990er-Jahre zu spulen, in ein Institut, das von Professoren regiert wurde, die auf der richtigen Seite der Geschichte geboren wurden. Michael Haller wird nachher auf dem Podium ausdrücklich die »Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter« loben, »die wir aus der DDR-Journalistik haben behalten können«, aber zugleich das abwerten, was zum Beispiel Sigrid Hoyer als Wissenschaftlerin geleistet hat. Beide sind längst im Ruhestand, aber so ein Mikrofon verführt dazu, der Welt zu sagen, wie sehr man Recht hatte. Der Journalist »in einem demokratischen Rechtsstaat«: Das sei nun mal ganz anders. »Es hat keinen Sinn, museale Arbeit zu machen«. Haller verwendet diese Formulierung gleich zweimal, damit jeder weiß, wo die DDR-Journalistik hingehört. Ins Museum, vielleicht zu Ruth Bahls nach Göhren auf Rügen, wo man sich anschauen kann, wie die Fischer früher gelebt haben, ohne auf den Gedanken zu kommen, es ihnen heute gleichtun zu wollen. Für alle, die das nicht verstehen wollen, wird Michael Haller erzählen, welchen Journalismus er damals nach Leipzig bringen wollte. »Kritik und Kontrolle. Eine aufgeklärte, ausgeglichene, ausgewogene Berichterstattung. All das, was für uns seit den 1960er-Jahren selbstverständlich geworden war« – »von uns, von meiner Generation über Jahrzehnte erstritten« und jetzt in Geschenkverpackung mit dabei für die Brüder und Schwestern im Osten.
Die Journalistik ist ein kleines Beispiel und vermutlich sogar ein schlechtes, weil die »Institution, die dafür da war, Propaganda zu erzeugen«, immer noch Menschen wie Reinhard Bohse aufregt, die neben der Gnade des richtigen Lebenslaufs viele gute Argumente haben.27 Man kann aber auch an diesem Beispiel die Konstellation studieren, die die Ostdeutschen degradiert hat und damit den Keim des Zweifels an dem säte, was die Westdeutschen Demokratie nannten. Ich denke dabei natürlich an Hans Poerschke und Karl-Heinz Röhr, die mit einer Geldspritze sediert werden sollten, oder an Wulf Skaun, der vom »Hoffnungsträger« der DDR-Journalistik zum Lokalreporter der Leipziger Volkszeitung in Wurzen wurde28 und heute schon vor dem Zeitgeschichtlichen Forum stand, bevor die Tür aufgeschlossen worden ist, vor allem aber denke ich an Menschen wie Sigrid Hoyer, die da weitermachen durften, wo sie vorher gearbeitet hatten, hier sogar in der akademischen Ausbildung, sich aber trotzdem allenfalls geduldet fühlen konnten. Mit ihrer Dissertation B war Sigrid Hoyer auf dem Weg zur Hochschullehrerin. Das heißt: Seminare, Vorlesungen, Prüfungsthemen anbieten können, ohne jemanden fragen zu müssen. Für ihren neuen Chef kam sie direkt aus dem Museum. Woher soll man das Selbstbewusstsein nehmen, das jeder Widerspruch braucht, wenn die eigenen Konzeptpapiere unbesehen ins Archiv geschickt werden und man selbst in ein Prüfungsverfahren mit ungewissem Ausgang?
Auf dem Podium wird nachher das Wort ›demütigend‹ fallen, ausgesprochen von Heike Schüler, die ein Buch über Erich John geschrieben hat, den Vater der Weltzeituhr auf dem Berliner Alexanderplatz, 1973 Designprofessor an der Kunsthochschule in Berlin-Weißensee und 1982 Gastprofessor in Columbus, Ohio.29 Heike Schüler sagt, sie habe viel mit Erich John gesprochen, auch über die Evaluierung natürlich.
»Deshalb weiß ich, wie schmerzhaft es ist, wenn Professoren, die über viele Jahre Studenten unterrichtet haben, sich einer Prüfung stellen müssen. Wenn angezweifelt wird, dass sie die Lehrbefähigung haben. Das ist schon krass. Meine ehemaligen Dozenten tun mir wirklich leid«.