Читать книгу Das Erbe sind wir - Michael Meyen - Страница 12

WAS DAS ALLES MIT DEM HIER UND JETZT ZU TUN HAT

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In diesem Buch möchte ich berichten, wie man noch Ende der 1980er-Jahre auf die Idee kommen konnte, die DDR eher stärken zu wollen als sie bei Nacht und Nebel zu verlassen. Zu dieser Geschichte gehört all das, was davor und danach passiert ist. Dafür hatte ich schon einen schönen Untertitel, der den Ruf Rückkehr nach Leipzig wunderbar ergänzt hätte: Journalistik, Abriss, Medienkrise. Die Sprengkraft, die in diesem Dreiklang steckt, speist sich aus der Glaubenslehre, die im Moment die westlichen Gesellschaften dominiert:

•Journalistik, zumal in ihrer sozialistischen Variante: War es nicht ein Irrweg der Geschichte, die künftigen Propheten der herrschenden Ideologie an die Universität zu schicken und ihnen dort vor allem Handwerk beizubringen? Ist das, was dort Wissenschaft genannt wurde, etwa nicht zurecht eingestampft worden, mitsamt seinen Vertreterinnen und Vertretern? Es mag ja okay sein, dass die Reste im Archiv vor sich hin schimmeln und die Veteranen weiter ihre Treffen haben, aber ist es tatsächlich nötig, dieses Fass noch einmal aufzumachen?

•Abriss: Das führt hinein in den Streit um die Begriffe, der überall da besonders heftig tobt, wo die Interessen der Lebenden tangiert werden. Revolution. Wende. Wiedervereinigung. Umbruch. Neuaufbau. Wiebke Müller, die mit mir in Leipzig studiert hat und heute in Dresden für die Bild-Zeitung arbeitet, erinnert sich an die Unsicherheit, die das Wort ›Abwicklung‹ einst bei ihr auslöste: »Wir haben uns gefragt, was das eigentlich heißt. Werden wir jetzt dichtgemacht?« Die Beruhigungspille wurde offenbar direkt im Hörsaal verabreicht (noch so eine Sache, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnere): »Da kam eine Westdeutsche, hat tatsächlich eine Garnrolle aus der Tasche geholt und gesagt: Wir wickeln jetzt den Faden ab, aber die Rolle bleibt. Und dann kommt ein neuer Faden. Neue Leute, neue Inhalte«.32 Das Wort ›Abriss‹ weckt andere Assoziationen. Es trifft das, was passiert ist, viel besser, auch wenn das die Leute mit der Garnrolle bis heute heftig bestreiten. Ich hätte auch ›Landnahme‹ sagen können wie Hans Poerschke, einer meiner Professoren von früher,33 aber zwischen ›Journalistik‹ und ›Medienkrise‹ klingt so ein Wort mit drei Silben einfach nicht gut.

•Medienkrise: Wenn ich meinen Kolleginnen und Kollegen in der Medienforschung glaube, dann gibt es diese Krise gar nicht. Die Presse, vielleicht. Kaum noch Anzeigen und der Abonnentenstamm so alt, dass sich jede Zukunftsplanung fast von selbst verbietet. Noch weniger Anzeigen durch Corona und so noch weniger Zukunft. Aber sonst? Alles nur Gerede. Die herrschende Lehrmeinung sagt: Das Vertrauen in die Medien wächst wieder leicht oder stagniert auf hohem Niveau. Wenn das auf der Straße oder im Netz anders aussieht, dann liegt das an einer Gesellschaft, die sich polarisiert und eher dorthin schaut, wo es besonders laut ist. Und die Qualität der Berichterstattung? Alles gut, im Prinzip jedenfalls. Ein »relativ breites Meinungsspektrum«, eine »pluralistische und professionelle journalistische Medienlandschaft«.34

Ich sage, gestützt nicht nur auf die vielen Gespräche, die ich für dieses Buch geführt habe: So ganz stimmt das leider nicht. Auch hier muss ich gar nicht zu hoch greifen und zum Beispiel auf die doppelten Standards verweisen oder auf die politischen Loyalitäten der Alpha-Journalisten, die Berichte über Freunde und Verbündete anders aussehen lassen als die über Konkurrenten und Gegner und vieles von dem aus der Öffentlichkeit verbannen, was wir eigentlich diskutieren müssten.35 Ich kann beim Thema bleiben. Das Bild, das Presse und Fernsehen seit 1990 von der DDR zeichnen, hat wenig mit dem zu tun, was sich die Zeitzeugen über die Vergangenheit erzählen – vor allem, wenn sie damals im Osten Deutschlands gelebt haben.36 Die herrschende Geschichtspolitik hat es geschafft, die kritischen Geister in den Redaktionen entweder einzulullen oder ihnen die wichtigsten Publikationsplätze zu verbauen, und so sicher nicht nur mich zum Journalismuskritiker gemacht.

Natürlich: Jeder Staat (in Anlehnung an Gramsci hier verstanden als »Kristallisation der Machtverhältnisse und als umkämpftes Terrain«37) hat ein Interesse, das zu kontrollieren, was über ihn in der Öffentlichkeit gesagt wird.38 Das gilt erst recht, wenn es um die nationale Identität geht und um die Legitimation des politischen Systems. Egal ob im Ersten, in der FAZ, im Spiegel oder in der Süddeutsche Zeitung: Die DDR, die wir dort sehen, spiegelt nicht die ›Realität‹, sondern die Definitionsmachtverhältnisse. Wer hat es geschafft, seine Sicht der Dinge in der Öffentlichkeit durchzusetzen? Dass dabei mit ungleichen Waffen gekämpft wird, muss ich hier nicht wiederholen.

Die DDR der Massenmedien ist trotzdem für uns alle ganz real. Diese DDR (anders als zum Beispiel die DDR der digitalen Nostalgiegruppen) kann niemand ignorieren – selbst der nicht, der sich an etwas anderes erinnern will und vielleicht sogar alle Geschichtsberichte meidet, um sich nicht mehr ärgern zu müssen. Medien definieren, was ist. Sie ordnen die Welt. Sie liefern Kategorien, mit denen wir die Welt beschreiben können (etwa: ›Diktatur‹ oder ›totalitär‹), und sorgen so dafür, dass ihre Realitätskonstruktionen Alltagshandeln und Weltanschauungen bestimmen.39 Medienrealität ist eine Realität erster Ordnung, wie die Mauern eines Hauses, durch die wir nicht einfach hindurchmarschieren können. Die symbolische Gewalt, die von der Medienrealität ausgeht, erklärt, warum bei jeder Kritik am Journalismus auch dann das große Ganze auf dem Spiel steht, wenn es nur um die kleine DDR geht, und warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ganz gut leben in einem bestimmten politischen System, gar nicht so selten auf der Seite der Verteidiger zu finden sind, obwohl ihr Ethos eigentlich etwas anderes erwarten lassen sollte.

Die Begriffe ›Gewalt‹ und ›Verteidiger‹ sind mir nicht zufällig unterlaufen. Ich gehe mit Chantal Mouffe, einer belgischen Politikwissenschaftlerin, davon aus, »dass Gesellschaften stets gespalten sind« und »durch hegemoniale Praktiken diskursiv konstruiert werden«.40 Die Geschichtspolitik, die ein bestimmtes Bild der DDR durchgesetzt hat, ist eine solche ›hegemoniale Praxis‹. Sie hilft, eine Ordnung zu stützen, die das Privateigentum vergöttert und einen Kult um das Individuum entfacht, obwohl weite Teile der Bevölkerung gar nicht die Möglichkeit haben, das auszuleben, was in ihnen steckt. Ich will nicht zu tief in die Theorie einsteigen, aber wenigstens darauf hinweisen, dass Hegemonie hier mit Antonio Gramsci als eine Form der Herrschaft verstanden wird, die neben Zwang (Polizei, Gesetze, Gerichte) auch auf Konsens setzt. Die gerade »führende Gruppe« muss »die Zustimmung der Beherrschten zu ihrem Projekt gewinnen« und von »konkurrierenden gegnerischen Gruppen« zumindest akzeptiert werden. Die Konstruktion der DDR als Diktatur hat geholfen, eine »gemeinsame Perspektive« zu finden, die zum Beispiel Enteignungen und alle sonst denkbaren ›Zwangs‹-Maßnahmen zum Wohle des Kollektivs im Moment utopisch wirken lassen.41

In diesem Kampf um Definitionsmacht sind Sozialwissenschaftler nicht Beobachter, sondern Teilnehmer.42 Wer Ideen produziert, will mitmischen. Die Öffentlichkeit (oder: »die Politik«), sagt Geoffroy de Lagasnerie, ein französischer Soziologe, »ist immer schon da«, wenn wir anfangen zu forschen – in den Gegenständen, in den Untersuchungsdesigns, in unseren Interpretationen. Es gibt die DDR des hegemonialen Diskurses, und es gibt das, was ich erlebt und längst hundertfach neu geordnet und umgedeutet habe. Durch die Brille von Geoffroy de Lagasnerie ist das kein Problem. Der »Raum des Wissens« und die Politik sind für ihn ein einziger Raum – und in diesem Raum wird gekämpft. De Lagasnerie hat auch keine Scheu, Front und Gegner zu benennen. Sein Axiom: »Die Welt ist ungerecht, die Welt ist schlecht, sie ist durchzogen von Systemen der Herrschaft, der Ausbeutung, der Macht und Gewalt, die es aufzuhalten, infrage zu stellen und zu überwinden gilt«.

Ich könnte das als Programm für dieses Buch so stehen lassen, zumal ›Wahrheit‹ für Geoffroy de Lagasnerie ein »oppositioneller Begriff« ist und »objektiv« alles, was zeigt, wie und warum eine Praxis oder eine Institution »falsch« ist (»wie sie uns schlecht behandelt, wie sie lügt und auf irrationalen Überzeugungen und Praxen beruht«).43 Die Zeiten rufen aber eher nach den ganz großen Themen und nicht nach der kleinen DDR, schon gar nicht nach dem Winzling Journalistenausbildung. Matthias Krauß, 1960 in Hennigsdorf geboren, Absolvent der Leipziger Sektion Journalistik und heute in Potsdam, hat nach einem »dreißigjährigen Privatkrieg« gegen die »Aufarbeitungsindustrie« einen »Waffenstillstand« angekündigt. Schluss mit dem Kampf gegen den »einseitigen Mainstream«. Zum einen sei alles gesagt, und zum anderen würden »möglicherweise in Kürze Dinge eintreten«, die die Debatte um die deutsch-deutsche Vergangenheit »völlig überwalzen und gegenstandslos machen werden«.44

Auch wenn hier kurz vor Corona ein Prophet zu schreiben scheint: Konkreter wird Matthias Krauß nicht, vielleicht ein Erbe aus den wenigen Jahren, die er für die Parteipresse gearbeitet hat. Andeutungen genügten damals. Im November 2019 haben Uwe Krüger und ich in Leipzig ein Seminar zu einem Text von Jem Bendell angeboten. Deep Adaptation: A Map for Navigating Climate Tragedy.45 Bendell bietet dort einen neuen Blick auf das, was er »Klimatragödie« nennt. Sein Ausgangspunkt: Es ist zu spät. Der Zusammenbruch unvermeidlich, die Katastrophe wahrscheinlich, das Aussterben nicht auszuschließen. Unser Seminar in Leipzig war großartig, weil dieser Blick jeden zwingt, existenzielle Fragen zu stellen. Was will ich im Leben? Würde ich das selbst dann noch wollen, wenn ich wüsste, dass alles vergeblich ist? Jem Bendell liefert darauf keine fertige Antwort, wie sollte er. Er referiert aber Literatur zur Resilienz (verkürzt: zum Umgang mit Schicksalsschlägen46), zum Verzicht (Dinge loslassen, die man lange geliebt hat und für selbstverständlich hielt) sowie zur Erneuerung (längst verschüttete Einstellungen und Ansätze wiederentdecken) und macht daraus eine Agenda der Anpassung an das, was er für unvermeidlich hält, und damit einen Silberstreif an einem düsteren Horizont.

Mir hat Jem Bendell geholfen. Ich schreibe hier über eine eher kleine Menschheitsfrage (Journalismus und Journalistenausbildung), fordere aber trotzdem das heraus, was wir für selbstverständlich halten (etwa: zentrale Kommunikationskanäle in Familienbesitz), und grabe nach Erfahrungen, die die Sieger der Geschichte auf den Müllhaufen geworfen haben. Journalistik, Abriss, Medienkrise: In meiner Argumentation gehören diese drei Schlagworte zusammen. Der Kahlschlag in der akademischen Journalistenausbildung in Deutschland beginnt mit dem Abriss des ›roten Klosters‹, und der Vertrauensverlust der Medien, den wir heute beobachten, hat auch damit zu tun, dass der hegemoniale DDR-Diskurs ostdeutsche Journalisten in aller Regel in Nischen verbannt und sich so lange Zeit selbst verstärkt hat.

Das Erbe sind wir

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