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WAS DIE KOMMUNIKATIONSWISSENSCHAFT VOR 30 JAHREN VERLOREN HAT

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Dass Hans Poerschke heute Abend im Zeitgeschichtlichen Forum sprechen darf, vor einem vollen Saal, zunächst ganz allein am Pult und dann in einer Podiumsrunde mit zwei Professoren, die aus dem Westen nach Leipzig kamen, ist eine Sensation. Das sanfte Abschieben in den Altersübergang, die Zumutungen der Evaluation, der Rücktritt in die zweite Reihe selbst bei Kolleginnen wie Sigrid Hoyer, die von Westdeutschen einen Eignungsstempel bekamen: All das ist nur ein Teil der Wahrheit über die Vereinigung der Leipziger Journalistik mit der Kommunikationswissenschaft, die in Mainz bis heute Publizistik heißt. Zu dieser Wahrheit gehört auch, dass es die DDR in dieser akademischen Disziplin überhaupt nicht gibt.

Genau wie jeder Mensch steht auch eine Wissenschaftsgemeinschaft vor der Aufgabe, Kontinuität über Zeit und Raum herzustellen. Ich schreibe dieses Buch, um das, was ich heute bin, mit gestern und vorgestern zu verbinden. Göhren auf Rügen und Ruth Bahls, die uralte Englischlehrerin und Museumsgründerin, mit der Ostsee-Zeitung, für die auch Sigrid Hoyer und Wulf Skaun geschrieben haben, meine Dozenten an der Universität, und mit Karl Friedrich Reimers, der nicht nur gesagt hat, dass jemand wie ich im neuen Deutschland Professor werden kann, sondern dafür mit seinen Gutachten auch etwas tat. Anthony Giddens, ein britischer Soziologe, versteht Identität als kontinuierlich ablaufenden reflexiven Prozess, der uns permanent zwingt, alles, was passiert, in die Erzählung über uns selbst einzubauen.75 Identität ist die Geschichte, die wir von uns selbst haben und die ich hier aufschreiben darf. Diese Geschichte verändert sich, weil wir ständig neue Menschen treffen und Dinge erleben, die längst nicht immer zu dem passen, was wir bisher über uns dachten.

Die Kommunikationswissenschaft hat die DDR-Journalistik einfach abgestoßen – ihre Ideen genauso wie die Menschen, die diese Ideen entwickelt und vertreten haben. Was in Leipzig zwischen 1945 und 1990 gemacht wurde, gehört nicht zur Identität dieser Universitätsdisziplin. Hans Poerschke, Sigrid Hoyer, Wulf Skaun oder Wolfgang Tiedke haben keinen Platz in der Erzählung der Kommunikationswissenschaft über sich selbst. Sie haben auch keinen Platz in der DGPuK, in der Fachgesellschaft, in die man heute schon aufgenommen werden kann, wenn man einen 50-Prozent-Vertrag in einem Projekt mit zwölf Monaten Laufzeit unterschrieben hat. Vor 30 Jahren hat die DGPuK ein Jahr »hinter verschlossenen Türen« über Wolfgang Tiedke diskutiert – »bis er dann selbst gesagt hat, er finde das eigentlich nicht mehr angemessen«.76

Karl-Heinz Röhr, der Dompteur der Leipziger Veteranenrunden, war Professor für journalistische Methodik und sieht deshalb Michael Haller, der 1993 aus Hamburg kam und heute vorn sitzt, mit einem gewissen Recht als seinen Nachfolger. Auf eine Einladung an das Institut hat er all die Jahre vergeblich gewartet. Der Betrieb ging weiter, aber ihn gab es nicht mehr, nicht einmal im Verteiler für die Weihnachtsfeiern. 2008 kamen zwei Studentinnen mit einer Kamera zu Röhr und haben ihn zu seinem Leben befragt, aber das zählt nicht, weil dieser Besuch erstens denkbar schlecht vorbereitet war (ich weiß, wovon ich rede, weil ich das Video transkribiert habe) und zweitens von Siegfried Schmidt geschickt wurde, der als junger Mann genau wie Röhr Assistent von Hermann Budzislawski war, dem Gründungsvater der Leipziger Journalistik, dann aber das Glück hatte, nie für eine Parteifunktion ausgesucht worden zu sein. Schmidt durfte weitermachen und hat in seinen allerletzten Seminaren an der Universität Material für eine Geschichte der Journalistenausbildung in der DDR zusammengetragen, die er dann als Rentner nicht mehr geschrieben hat.77

Einmal noch haben Karl-Heinz Röhr und seine Weggefährten von früher auf Besserung gehofft, 2016 war das, 100 Jahre nach der Gründung des Instituts für Zeitungskunde durch Karl Bücher, die die Kommunikationswissenschaft in ihrer Erzählung über sich selbst im Moment für ihren Geburtstag hält. Zur Feier kam die DGPuK in die Stadt, 500 Kolleginnen und Kollegen. Festmenü in Auerbachs Keller, Festakt mit Ministerin Eva-Maria Stange und Rektorin Beate Schücking, Festvortrag von Bernhard Debatin. Dieser Philosoph hatte zwar in Westberlin studiert, war aber in den späten 1990er-Jahren für ein paar Jahre Dozent in Leipzig. Debatin sollte also wissen, wo er hier spricht. Die gut zwei Dutzend Menschen, die Karl-Heinz Röhr in den Hörsaal mitgebracht hatte, sind trotzdem enttäuscht nach Hause gegangen. ›Ihre‹ Zeit, immerhin fast die Hälfte der 100 Jahre, die hier gefeiert werden sollten, wurde in weniger als drei Minuten abgehandelt. Nationalsozialismus und DDR: Das war doch irgendwie dasselbe. Wissenschaft im »Dienst von Regierungsinteressen«. Bei Hermann Budzislawski, dem ersten Dekan der Fakultät für Journalistik, hat Bernhard Debatin »zwischen den Zeilen« immerhin »liberale Tendenzen« entdeckt und das auf sein US-Exil zurückgeführt. Dazu mehr im übernächsten Kapitel. Im Festvortrag von 2016 gab es noch einen Halbsatz zu den »ideologischen Hardlinern«, die Budzislawski folgten und ein Prosit auf die Abwicklung.78 Klarer konnte man das nicht sagen. Trollt euch, Röhr und Konsorten. Mit euch haben wir nichts am Hut.

Wie das so ist im Leben: ›Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch‹.79 Diese Kommunikationswissenschaft, die Elisabeth Noelle-Neumann huldigt, sich in kleinteiligen Studien zu Medienwirkungen verliert und dabei die großen Wirkungen übersieht, die Staats- und Wirtschaftspropaganda mit sich bringen, und zu ihrer eigenen Legitimation den Teufel ›rotes Kloster‹ an die Wand malt – diese öffentlich kaum wahrnehmbare akademische Disziplin hat in ihrem Schoß junge Leute wie Uwe Krüger genährt, der den Abend heute organisiert hat und dafür unbedingt Hans Poerschke am Pult haben wollte. Krüger und seine Mitstreiter würden schon gerne an der Universität arbeiten und hätten dort auch etwas zu sagen, brauchen dafür aber eine andere Kommunikationswissenschaft, mit Karl Marx und politischer Ökonomie der Medien, mit kritischer Diskursanalyse, mit einem analytischen Blick, der Machtstrukturen nicht übersieht, sondern in das Zentrum rückt.

Als ich Uwe Krüger Ende 2016 das erste Mal getroffen habe, ein paar Monate nach der Jubelfeier zu 100 Jahren Karl Bücher, war er gerade dabei, die Wissenschaft zu verlassen. In Sachsen wurden Lehrer gesucht, auch Quereinsteiger, am besten Menschen wir Krüger, Jahrgang 1978, hoch gebildet. Uwe Krüger hat zwei Kinder. Warum also nicht, zumal er an der Universität nur eine halbe Stelle hatte und auch das nur noch für ein paar Monate. Man muss sich das einmal vorstellen: eine akademische Disziplin, die einen ihren Helden verstößt, weil die, die am Machtpol sitzen und das Sagen haben, ihn nicht für einen Helden halten, sondern für eine Gefahr. Krügers Dissertation kennt jeder, der irgendwie unzufrieden ist mit dem, was die Leitmedien aus der Welt machen. Er zeigt dort, wie stark deutsche Alpha-Journalisten in andere Elitenmilieus eingebunden sind.80 Am 29. April 2014 haben Claus von Wagner und Max Uthoff in der ZDF-Satiresendung Die Anstalt aus Krügers Material eine Tafelnummer gemacht, die viral ging und den Begriff ›transatlantische Netzwerke‹ salonfähig machte in der Debatte um die Qualität der des Journalismus.81 Die Kommunikationswissenschaft hat diese Dissertation bekämpft, frei nach dem Motto: Was als Realität durchgeht, bestimmen immer noch wir.82

Es ist fast zu kitschig, aber ich muss das hier trotzdem aufschreiben: Uwe Krüger ist wie ich auf der Insel Rügen aufgewachsen und hat seine ersten Texte in der Ostsee-Zeitung veröffentlicht. Gerhard Ladda, mein Mathelehrer, der im nächsten Kapitel wieder auftauchen wird, war zehn Jahre später sein Klassenlehrer in der Kreisstadt Bergen. Für Krüger und mich war es nicht so schwer, uns auf den Veranstaltungstitel zu einigen, der Karl Friedrich Reimers ein paar Monate später auf die Palme bringen sollte. Auch das muss man sich erst einmal vorstellen: ein Gründungsdekan, der es immer noch nicht erträgt, das andere öffentlich über das sprechen, was er vor 30 Jahren gemacht hat, und dabei möglicherweise eine andere Sicht vertreten als er selbst. Die drei Seiten Interview mit sich selbst, die er kurz vor der Podiumsdiskussion an so viele Leute geschickt hat, dass sie schnell auch bei Krüger und mir sind, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Wer von ›Abriss‹ spricht und vor allem von ›Verwestlichung‹, der hat nicht nur keine Ahnung, sondern weder die Quellen kritisch gelesen noch die einschlägige Literatur.83

Karl-Heinz Röhr hat von diesem Abend nicht allzu viel erwartet. Es sei inzwischen viel zu viel Zeit vergangen, »um alte Wunden zu lecken«, schreibt er ein paar Tage vorher an Uwe Krüger. »Und neue Selbsterkenntnis kann man wohl von den westdeutschen Partnern kaum erwarten«.84 Ich habe ihn hinterher gar nicht gefragt, ob er sich über Heike Schüler gefreut hat, die auf dem Podium gegen die Mär anspricht, Journalisten seien in der DDR nichts weiter gewesen als Erfüllungsgehilfen der Partei (»Ich wollte die Gesellschaft verbessern. Den Sozialismus verbessern. Etwas verändern, zum Guten«), und die »journalistische Ausbildung« sowie ihre Dozenten mit DDR-Hintergrund fast über den grünen Klee lobt (»Das ist wirklich großes Handwerk gewesen. Großes Wissen«). Röhr muss mir unbedingt sagen, wie froh er ist, dass es in Leipzig jetzt diesen Uwe Krüger gibt, inzwischen sogar auf einer unbefristeten Stelle. Und er will über Hans Poerschke sprechen.

Ich muss die Rede von Poerschke und seine Wortbeiträge hier nicht wiederholen. Das ist alles gleich doppelt im Netz, als Video und in einer Schriftfassung. Man kann dort hören oder lesen, wie er den Begriff ›Landnahme‹ verstanden wissen möchte: »Unverhofft wurde auf bislang fremdem Territorium ein Stück herrenlos gewordenes akademisches Bauland verfügbar«. Baupläne, Baumaterial, Bauleute: alles aus dem Westen. Und kein Platz für das, was in Leipzig trotz Parteiherrschaft gewachsen war: Geschichte des Journalismus (mein Bereich), Poerschkes eigene »Ansätze zu einer Theorie der sozialen Kommunikation«, die Inhaltsanalyse, die bei Wulf Skaun und Wolfgang Tiedke so nah dran war an der Medienrealität, dass die Partei die Befunde im Panzerschrank verschloss, die Arbeiten zur Stilistik, die Horst Pöttker später in Dortmund vor dem Vergessen rettete,85 und der »journalistische Schaffensprozess«. Sigrid Hoyer, zum Beispiel.

Zur »Landnahme« gehört bei Hans Poerschke die Evaluation, die »keine umfassende, systematische Analyse« des Vorgefundenen gestattet habe, weil es jeweils nur um einen Einzelnen ging, und das auch noch »gefärbt durch die persönliche Sicht der beiden Gesprächspartner«. Eigentlich, so Poerschke weiter, sei nur geprüft worden, ob man »integrierbar« war in das, was der Westen mitbrachte nach Leipzig. Mit Kurt Koszyk, seinem eigenen Evaluator, hat Hans Poerschke Mitleid. Ein Mann aus Dortmund, der über etwas urteilen sollte, das von sowjetischer Literatur lebte, die er nicht verstand. Warum, fragt Hans Poerschke im Zeitgeschichtlichen Forum, warum hat man uns nicht einfach gemeinsam arbeiten und so schnell merken lassen, »wer welchen Geistes Kind ist«? Warum hat man den Traditionsstandort Leipzig nicht für ein Projekt genutzt, dass das deutsch-deutsche »Kennenlernen« wissenschaftlich begleitet und so den Journalisten hilft, »Formen der Diskussion und des Streits, Formen des Umgangs miteinander« zu finden? In diesem Moment weiß ich, dass ich dieses Buch schreiben muss.

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