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WIE ICH EINE GESCHICHTE SCHREIBE, DIE ICH EIGENTLICH RUHEN LASSEN SOLLTE
ОглавлениеDer Mensch ist ein Geschichtentier. Wir sind neugierig, wie andere leben, wie sie sich verhalten, was sie denken. Wir brauchen das, weil wir wissen müssen, wo wir selbst stehen und wie das einzuordnen ist, was wir machen und gemacht haben. Das geht nur, wenn wir uns mit anderen vergleichen – am besten mit denen, die uns nah sind, weil sie aus dem gleichen Milieu oder aus der gleichen Zeit stammen, weil sie mit ähnlichen Voraussetzungen angefangen haben. Ich schreibe dieses Buch deshalb zuallererst für mich. Wissenschaft als Suche nach sich selbst. Auf Englisch gibt es dafür ein Wortspiel: ›research‹ als ›me-search‹.21
Ich kann das hier so offen schreiben, weil ich Neutralität und Objektivität für Fiktionen halte. Wissenschaft wird von Menschen gemacht. Meine Geschichte: Dieser Untertitel ist keine Koketterie und keineswegs nur als Hinweis auf die autobiografischen Anteile zu lesen, die diesen Text tragen. Wie jede andere Geschichte ist auch diese Geschichte der akademischen Journalistenausbildung in der DDR kein ›Abbild‹ irgendeiner Realität. Das beginnt schon mit dem Thema (ich hätte auch über die Erfindung der Kommunikationswissenschaft schreiben können, was ich so eher nebenbei tun muss) und mit meiner Beziehung zu diesem Thema (dazu gleich mehr) und hört nicht auf bei den Gesprächen, die ich für dieses Buch geführt habe. Woran sich Menschen erinnern (wollen), hängt davon ab, wer sie fragt und wann sie gefragt werden. Davon hängt schon ab, ob sie überhaupt reden wollen.
Meine Geschichte: Das schließt ›meine‹ Zeitzeugen ein und ›meinen‹ Blick auf das, was ich in den Archiven gefunden habe. Ich habe mit den Menschen gesprochen, mit denen ich als Student am meisten zu tun hatte, oder die in irgendeiner Form herausragen und so Einblicke versprachen, die ich selbst nicht haben konnte – als Dozenten, als gewählte Studentenvertreter oder durch ihre Karriere. Manche habe ich nach knapp drei Jahrzehnten zum ersten Mal wiedergesehen und manche jetzt überhaupt erst richtig kennengelernt. Trotzdem waren das nie Gespräche zwischen Fremden. Jeder wusste, dass er dem anderen nicht wirklich etwas vormachen kann. Ich war trotzdem erstaunt, was ich alles vergessen habe. Maradona in Leipzig, Ende Oktober 1988, Lok gegen Neapel, und zwei von uns, die eine Verabredung mit ihm hatten.22 Unglaublich, aber einfach nicht mehr präsent. Vielleicht hat mich das auch deshalb so berührt, weil der rastlose Reporter, der das offenbar geschafft hatte, nicht mehr am Leben ist.
Was ich eigentlich sagen wollte: Wie ich das interpretiere und gewichte, was man mir erzählt und was in den Dokumenten steht, hängt davon ab, wer ich bin, was in meinem Leben bisher passiert ist und wie ich mir meine Zukunft ausmale.23 Bin ich ein Mann oder eine Frau, farbig oder weiß, alt oder jung, Katholik oder Marxist, ein Neuling im Metier oder viele Jahre dran am Thema? ›Wissen‹ ist nicht ohne den Menschen zu haben, der es produziert, und entspricht deshalb niemals genau dem, wovon es berichtet. Das heißt aber noch lange nicht, dass es eigentlich egal ist, welche Version der Geschichte man zur Hand nimmt. Historische Forschung steht und fällt erstens mit ihren Quellen. Jeder kann sehen, worauf ich mich stütze, und überprüfen, ob ich absichtlich Informationen unterschlage oder Gegenpositionen ausblende. Und zweitens sollte historische Forschung offenlegen, von wem sie stammt und welche Interessen sie verfolgt.
Der Untertitel Meine Geschichte ist so auch ein Lösungsvorschlag für das Problem, dass es weder ›Wissen an sich‹ gibt noch einen Schiedsrichter, der zweifelsfrei feststellen kann, wer denn nun Recht hat. Auch die quantitative empirische Sozialforschung kennt keine Methode und kein Messinstrument, die unabhängig von theoretischen Vorannahmen sind. Der autobiografische Zugang macht aus dieser Not eine Tugend. Er macht aus dieser Geschichte einen Stoff, der selbst die fesseln könnte, die mit dem Thema überhaupt nichts am Hut haben, und erfüllt zugleich die Anforderungen, die der Wissenssoziologe Karl Mannheim an wissenschaftliche ›Objektivität‹ gestellt hat. Um verallgemeinern zu können und die »Strukturdifferenz« zu verstehen, so Mannheim in einer Sprache, die ihr Alter verrät, brauche man eine »Formel der Umrechenbarkeit«.24 Zeitgemäßer formuliert: Ich muss wissen, warum der eine den Gegenstand so darstellt und der andere anders.25 Eine Autobiografie erlaubt hier das Maximum an Transparenz.
Hinabtauchen dürfen in das eigene Leben: Ich weiß, dass es ein Privileg ist, für das bezahlt zu werden, was auch die umtreibt, die Streife laufen müssen, um ihre Wohnung nicht zu verlieren, die dafür kellnern, Müll abholen, Kranke trösten. Aus diesem Privileg erwächst eine Verantwortung. Ich habe Zugang zur großen Arena (wenn auch nur über die Hinterbühne Kommunikationswissenschaft) und die Ressourcen, um so ein Buch zu schreiben. Es wäre fatal, wenn ich das nicht tun würde, zumal ich weiß, dass zumindest die darauf warten, die mir ihre Geschichten geschenkt haben, Fotos und was sonst noch übriggeblieben war von ihrem akademischen Leben in der DDR. »Durch dich leben wir weiter, Michael«, sagte Wulf Skaun Ende November 2019 bei einer Veranstaltung im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig, die im zweiten Kapitel ausführlich gewürdigt wird. Uns verbinden zwei prägende Erfahrungen: eine Umfrage zur Mediennutzung der Leipziger im Mai 1990, mit der der Hochschullehrer Skaun damals Neuland betrat, und das Ringen um ein lebensgeschichtliches Interview, das seit 2015 online ist.26 Auch wenn Wulf (wir sind seit dem Kampf um diesen Text per Du) und seine Kolleginnen und Kollegen nie und nimmer mit allem einverstanden sind, was ich über sie und ihre Arbeit schreibe: Ich weiß, dass sie diese Mühe trotzdem schätzen.
Heinz Pürer, ein Professorenkollege aus Österreich, der schon kurz nach besagter Umfrage als einer der ersten zu uns nach Leipzig in den Hörsaal kam und den ich dann viel später in München wiedergetroffen habe, hat dagegen vehement davon abgeraten, dieses Buch zu schreiben. »Nein, Michael, da bist du viel zu nah dran«. Ich höre Pürer förmlich sprechen, mit diesem Dialekt, der jeden Österreicher erst einmal sympathisch macht, und sehe, dass er Recht hat. In diesem Buch geht es um das symbolische Kapital meiner Diplomurkunde. Jeder Absolvent trägt an der Reputation seiner Universität und seiner Disziplin, so oder so. Wenn wir an der Deutschen Journalistenschule in München die Bewerber prüfen, werfen sich die Chefredakteure und Edelfedern zur Begrüßung Zahlen an den Kopf. 14, 17, 29K, 36. Das ist jeweils die Nummer der Lehrredaktion, die man selbst durchlaufen hat und die offenbar ein Leben lang an einem kleben bleibt, weil sie selbst auf Wikipedia auftaucht. Das ›K‹ steht dabei für Kompaktklasse, ein Format, das schneller zum Ziel führt und deshalb noch begehrter ist. Jede dieser Zahlen sagt: Ich bin einer von euch. Wir sind die Guten. Ich bin auch Diplomjournalist, aber aus Leipzig. Dieses ›aber‹ kann ich in den Augen der anderen sehen.
Was mir Heinz Pürer sagen wollte: Was immer du zu diesem Thema aufschreibst, man wird es dir nicht abnehmen. Du bist Partei. Man wird dir vorwerfen, dass du nur dich selbst aufwerten willst. Ja, lieber Heinz: Das will ich. Das will jeder, der ein Buch schreibt. Juan Moreno wollte alles festhalten, was zum ›System Relotius‹ zu sagen ist, und sich damit zugleich einen Schutzwall bauen aus »absoluter Transparenz«.27 Ganz so dramatisch ist die Lage für einen bayerischen Beamten wie mich hoffentlich nicht, aber ich ziele natürlich auf das, was in der Öffentlichkeit so herumschwirrt an Urteilen über meine Ausbilder und meine Kommilitonen. Auf das Verdikt von Gunter Holzweißig. Auf das Etikett ›rotes Kloster‹, das Brigitte Klump, von 1954 bis 1958 in Leipzig Studentin und dann in den Westen gegangen, der Fakultät für Journalistik in den 1970er-Jahren in einem Roman anheftete und das der Verlag dann in der Neuauflage 1991 mit dem Untertitel Kaderschmiede der Stasi an den Zeitgeist angepasst hat.28 Ich will schauen, was sich hinter diesem Etikett verbirgt, und dabei denen eine Stimme geben, die sich nicht trauen, gegen den Diktaturdiskurs anzuschreiben, oder das objektiv nicht (mehr) können.
Das ist ja das Verrückte: So ein Diskurs reproduziert sich selbst. Er bestimmt, welchen Wert eine Biografie hat, und taxiert damit auch das Gewicht von jedem, der sich in die öffentliche Arena wagt. Der Matthäus-Effekt funktioniert auch hier. Wer in den Diskurs ›passt‹, wird lauter und bekommt ein großes Publikum (etwa Wolf Biermann, der sogar im Bundestag gesungen hat und auch sonst stets gefragt wird, wenn es um die DDR geht), und wer von dem abweicht, was einmal als ›gut‹ und ›richtig‹ definiert worden ist, der schweigt. Selbst die, die es gegen jede Regel doch geschafft haben, behalten ihre Erfahrungen lieber für sich. Man muss dabei gar nicht an Andrej Holm, Jahrgang 1970, denken, der in Berlin nicht Staatssekretär sein durfte, weil er als junger Mann ein paar Monate für die Stasi gearbeitet hat, oder an Holger Friedrich, vier Jahre älter als Holm, der in eine ganz ähnliche Debatte geriet, nachdem er und seine Frau Silke im Herbst 2019 die Berliner Zeitung gekauft hatten. Für dieses Buch habe ich mit Bernd Okun gesprochen, für die Leipziger Journalistik-Studenten in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ein Idol, weil er in seinen Vorlesungen das ansprach, was jeder dachte, aber in keiner Zeitung fand. Okun, inzwischen 75 und als Coach so erfolgreich, dass er einen Tesla fährt und sich feine Büroräume am Thomaskirchhof leisten kann, in Leipzig eine erste Adresse, sagte, er sehe »nicht so gern schriftlich« (vor allem nicht im Internet), dass er 1984 von der Sektion Philosophie an die Sektion Marxismus-Leninismus gewechselt ist. Wenn das heute jemand lese, würde er denken, »ich war ein Ideologe und ein Oberidiot«.29 Der hegemoniale DDR-Diskurs schüchtert heute selbst die ein, die früher mutig waren, weil die Fallhöhe in einer kapitalistischen Gesellschaft viel größer ist.
Eine Ausnahme ist Daniela Dahn. Das »persönliche Panorama zur Lage der Nation und zum Stand des Internationalen«, das diese Schriftstellerin 2019 vor aller Augen entfaltet hat, ist für mich einerseits ein Vorbild und andererseits auch nicht. In Kurzform: ja zur Diagnose, nein zur Methode. Es mag schon richtig sein, liebe Daniela Dahn, »dass ein verzerrtes Geschichtsbild schwerlich durch ausgewogene Gesamtdarstellungen zu erschüttern ist«, dass »das hundertmal Verschwiegene« auf »Kenntnisnahme« wartet und dass der »westliche Diskurs den fremden Blick nicht nur aushalten, sondern als Bereicherung begreifen sollte«. Die »Gegeneinseitigkeit« aber, die man einer Sachbuchautorin möglicherweise durchgehen lässt (zumal wenn sie statt »akademischer Systematik« einen »Gedankenstrom« ankündigt),30 kann sich der professionelle Historiker nicht erlauben. Ich greife stattdessen nach den Sternen und verspreche eine DDR-Geschichte, die über den Tellerrand hinausschaut – in die Bundesrepublik, in die USA. Vielleicht ist das ein Schritt zu jener »gesamtdeutschen Geschichtsschreibung«, die Jochen-Martin Gutsch, ein Ostdeutscher beim Spiegel, Jahrgang 1971, auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch vermisst hat.31 Möglich wird so ein großer Wurf (oder zumindest: seine Ankündigung) durch ein Thema, das klein genug ist, um sich darin wirklich auszukennen.