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Die analytische Philosophie hätte die Erkenntnistheorie gerne endgültig verabschiedet. Aber man kann nicht die Wissenschaft und unsere wissenschaftliche Kultur behalten und zugleich die wissenschaftliche Erkenntnistheorie »aufessen«, wie J. Margolis so treffend bemerkt hat (J. Margolis, Pragmatism without Foundations, Oxford 1986, p. 165).

Erstens sind die Menschen selten so bewusst, dass ihre tatsächlichen und ihre wahrgenommenen Entscheidungsgrundlagen oder Begründungen übereinstimmten. Man begründet in der Regel sein Handeln, ohne zu bemerken, dass die wahren Handlungsgrundlagen oder Motive ganze andere sind oder waren als die, die in die Begründung eingehen. Mathematik und Logik widmeten sich nicht zuletzt dem Ziel, Grundlagen und Voraussetzungen unserer Handlungen oder Schlussfolgerungen explizit und sichtbar zu machen. Und wenn man diese Bemühungen nicht auf die Kommunikation beschränkt, kommt man natürlich zur Erkenntnistheorie.

Die bloß sprachlichen Rationalisierungsstrategien und logischen Rekonstruktionen laufen Gefahr, etwas zu begründen, was gar nicht gefragt war. Selbst wenn die Beschreibung eines Phänomens zutreffend erscheint und vielfach Zustimmung findet, kann die Erklärung vollkommen irrelevant sein. Jedes Jahr beobachten wir beispielweise die Jahreszeiten und begrüßen, je nach Geschmack, die eine oder andere und insbesondere vor allem den Frühling. Aber die Erklärungen, die die Götter-Mythen der verschiedenen Völker dafür beigebracht haben, sind so vielfältig und unterschiedlich, dass man sie nicht als wissenschaftliche Erklärungen nehmen kann. Genau dasselbe kommt auch im Kontext der Wissenschaften häufig vor. All dies soll uns die Bedeutsamkeit der Erkenntnistheorie näherbringen und das Verhältnis von Theorie und Realität, das ihr zugrunde liegt.

Wer an der Börse durch seine Wetten reich geworden ist, muss, so denkt man, eine Kapazität in Wahrscheinlichkeitstheorie und probabilistischer Epistemologie sein. Das ist aber oft, soweit man es aus den Äußerungen beurteilen kann, gar nicht der Fall. Der Feuilletonredakteur einer großen deutschen Tageszeitung überschlägt sich vor Bewunderung für die Intelligenz eines Spekulanten bzw. dessen neuestes Buch. T.’s Anlagestrategie, so schreibt der Redakteur, funktionierte gegen den Trend. »Er wettete jeden Tag darauf, heute einem Schwarzen Schwan (so der Titel eines Buches) zu begegnen – also einem unerwarteten Ereignis, das das Börsenbarometer drastisch zum Ausschlagen bringt. […] Passierte nichts, verlor man seine Prämie, geschah aber doch mal etwas, war die Belohnung potenziell riesig«. Eigentlich verfährt jeder gewöhnliche Lottospieler so, auch wenn der große Gewinn, unter Umständen, 100 Jahre auf sich warten lässt. Wo also liegt der Erfindungsgeist und die theoretische Kompetenz? Aus einer Regel folgt gar nichts bzgl. der realen Anwendungen derselben.

Die Hinwendung zur Sprache und der Anti-Psychologismus, von dem Dummett sprach, hatte genau den Sinn, ein antikantisches Programm der Wissenschaftsphilosophie aufzulegen und insbesondere der Epistemologie zu entsagen. In der Wissenschaft gehe es schließlich nicht um das Verhältnis des menschlichen Subjekts zur Welt – dasselbe wird auch im Mythos oder in den Künsten ausgedrückt –, sondern um die Wissenschaft als eine Institution, die objektive Wahrheiten generiert. Wenn Bolzano seine Logik eine »Wissenschaftslehre« nennt, dann doch deshalb, weil es die Logik mit den Gesetzen der Wahrheit oder des Wahrseins zu tun hat – während der Begriff der Wahrheit selbst ebenso wenig definierbar scheint wie der Begriff des Realen. Frege vertritt die exakt gleichen Ansichten und auch Russell gesellt sich hier dazu.

Wenn also in der analytischen Philosophie von Dingen gesprochen wird, so impliziert dies, nach eigenem Selbstverständnis, überhaupt nichts bezüglich deren Existenz, Wesen oder Realität. Ja, so sagt man, wir dürfen diese Begriffe nur in dem Sinn gebrauchen, dass wir überprüfen, ob bestimmte Beschreibungen, Definitionen oder Annahmen über die Dinge kompatibel sind mit dem sprachlichen System, in dem wir uns bewegen. Im Extremfall führt das dazu, dass Stühle, Hunde und Elektronen genau dasjenige sind, was die Theorie darüber im Augenblick zu sagen hat. Eine andere Theorie mag etwas ganz anderes sagen. Es gibt dann allerdings auch keine falschen Theorien, und alle Theorien sind ebenso inkommensurabel zueinander wie die vielen Sprachen dieser Erde (vgl. dazu Kapitel VI.).

Dieser Standpunkt wird nun, wenig überraschend, von seiner positivistischen Gegenposition begleitet. Nämlich von der Vorstellung, dass empirische Theorien unmittelbar die Wirklichkeit an sich beschreiben (in vielleicht geordneter Form) und dass formale, mathematische Theorien nichts anderes tun, als wiederum diese Beschreibungen zu beschreiben.

Beispielsweise überschlagen sich dieser Tage die Sensationsmeldungen im Lager der Atomphysik, weil die sogenannte Higgs-Theorie in den Experimenten des CERN eine Bestätigung durch die Entdeckung eines weiteren »letzten« Bausteins der Materie gefunden haben soll. Aber auch die Higgs-Theorie ist nur eine Theorie, und keine Theorie spricht die Wahrheit, schon deshalb nicht, weil sie stets einfacher sein muss als die Wirklichkeit (vgl. auch: J. Baggott, The Invention and Discovery of the ›God ParticleHiggs, Oxford 2012; ders., Farewell to Reality, London 2013). Selbst die altehrwürdigen Gesetze oder Theorien des Galileo Galilei zum freien Fall der Körper sind nicht im strikten Sinne des Wortes wahr. Alles Denken und alle Theorie beruht auf Darstellungen der Realität, und alle Darstellungen sind vom Dargestellten zu unterscheiden. Und tatsächlich ist die Physik heute zu einem ebenso formalen System geworden wie die Hilbert’sche Mathematik, und sie erscheint ebenso spekulativ. Und wenn man von der experimentellen Grundlage der Physik redet, sollte man nicht vergessen, dass Daten weder die Wirklichkeit sind noch eine Wissenschaft ausmachen. Wissen verhält sich zu Information wie Kunst zu Kitsch, sagt Leon Wieseltier.

Nun hat ein bekannter Philosophieprofessor in der »Süddeutschen Zeitung« in einem ganzseitigen Artikel mit der Überschrift »Symmetrie und Gottes Teilchen« dem interessierten Publikum die neuesten Experimente am CERN nahebringen wollen. Zum Symmetriebegriff, mit dem der Autor beginnt, findet sich darin Folgendes: »Die Suche nach Symmetrien als Grundlagen der Natur verlagerte sich […] von Figuren auf die mathematischen Naturgesetze. […] In der Antike bezeichnete das griechische Wort für Symmetrie das gemeinsame Maß, also die Harmonie der Proportionen von Figuren und Körpern. So werden zum Beispiel Spiegelung, Rotation […] als Symmetrieeigenschaften angesehen«.

Hier sind wir unversehens von einer ontologischen Sichtweise zu einer epistemologischen und wissenschaftstheoretischen geglitten, ohne dass der Leser eine Chance hat, den großen Unterschied zu bemerken. Symmetrie war einmal eine Eigenschaft des Kosmos und ist seit Galilei und Newton ein methodisches Hilfsmittel der Theoretiker (vgl. auch Kapitel II.). Und dies ist das Resultat eines großen historischen Übergangs, der den Menschen aus der Vorstellung, ein Teil des Kosmos zu sein, hinausgeworfen hat (Weiteres zur Symmetrie: G. Hon/B. R. Goldstein, From Summetria to Symmetry: The Making of a Revolutionary Concept, Dordrecht 2008 und die dort angegebenen Quellen).

Welche Ziele verfolgt ein Autor, den dieser Unterschied nicht interessiert? Will er die Schlauheit der Physiker feiern?

Aber das Klappern der Formeln ist nicht würdiger als das der Kochlöffel und Webstühle und der Faltenwurf der Theorie nicht anziehender als der der Ballroben der Frauen – außer vielleicht für Paul Dirac (1902–1984), diesen scheuen Engländer, auf dessen Ideen all die jetzigen Experimente der Physiker am CERN beruhen. Der soll einmal, als sein Freund Werner Heisenberg ihn fragte, ob er nicht mit zum Tanzen wolle, seine Ablehnung begründet haben, indem er sagte, man wisse ja nie, was hinter dem Lächeln einer Frau stecke!

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