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II.1

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Auf fast jeder Konferenz zur Wissenschaftsphilosophie diskutieren insbesondere die jüngeren Teilnehmer in den Pausen darüber, ob ein Studium der Logik ausreichend oder sogar besser geeignet sei, um die Mathematik philosophisch zu verstehen, oder ob man die Mathematik selbst näher kennen gelernt und aktiv betrieben haben muss. Logik beruht auf Sprache, und Sprache ist eine soziale und erstrangig kommunikative Institution. Die Menschen reden miteinander und im Wesentlichen übereinander. Mathematik und Naturwissenschaft stützen sich auf Experimente. Worte verändern Geister, Experimente verändern die Dinge. Die Mathematik ist ein Mittel der gegenständlichen Tätigkeit und weniger der Kommunikation. Die Mathematik ist keine Sprache, sondern eher die Kunst der Erfindung stets neuer Sprachen oder anderer Werkzeuge der gegenständlichen Tätigkeit und der Argumentation. Sprache und Mathematik bilden so unterschiedliche Kontexte des menschlichen Denkens und Handelns. In der Sprachtheorie dominieren dementsprechend Fragen des Sinns und in Mathematik und der Philosophie der Mathematik Probleme der Bedeutung (Referenz) (vgl. das obige Statement von Gödel oder auch die Erörterung im folgenden Abschnitt II.6.).

Dadurch dass man, Frege folgend, den Sinn an die Bedeutung gebunden hat – wie wir im nächsten Kapitel noch ausführlich diskutieren werden –, hat man die wesentliche Komplementarität von Sinn und Bedeutung bzw. von Sprache und Mathematik weitgehend verfehlt. Es sei allerdings gleich an dieser Stelle zugegeben, dass wir in einem eher einführenden Werk wie dem vorliegenden sicherlich nicht alle Teile der damit verbundenen Schwierigkeiten hinreichend diskutieren oder gar auflösen können.

Mathematik und Naturwissenschaft beruhen eher auf dem Auge denn auf der Sprache und auf der Koordination von Hand und Auge, mit deren Perfektion sich sogar ein Robinson Crusoe zu beschäftigen hatte, wenn er überleben wollte. Auch Kolumbus konnte nicht beim spanischen Thron anrufen, um sich auf dem Meer zurecht zu finden, sondern musste Wasser, Wellen, Winde, Sonnenstände und Strömungen beobachten und auf die schwimmenden Pflanzen und die Tiere achten (J. Huth, The Lost Art of Finding our Way, Cambridge/USA 2013).

Worum es beim menschlichen Denken jeweils geht, ist, die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Beobachtung einerseits und Berechnung und Schlussfolgerung andererseits stets aufs Neue einzusetzen. Das Problem hat bereits Kant am Ende des »klassischen Zeitalters« (Foucault), das eben durch eine Dichotomie von Philosophie – inklusive Naturphilosophie – und Mathematik gekennzeichnet war, in seinen zwei Grundquellen des Gemütes wiedergegeben. Er schreibt: »Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so dass weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben kann« (KdrV B 75).

Danach trat die analytische Philosophie auf den Plan und mit ihr der Reduktionismus des Denkens auf Sprache und Logik (vgl. Dummett in Kapitel I.5.). Dieser Reduktionismus der analytischen Philosophie rechtfertigt sich nur durch ihre Verwandtschaft mit der Bewegung der Artificial Intelligence und deren zahlreichen kommerziellen Anwendungen. Eigentlich ist die A.I. durch eine Komplementarität von Funktion und Struktur gekennzeichnet. Wie Douglas Hofstadter, der sich seit seinem frühen Bestseller »Gödel, Escher, Bach« der Erforschung der Struktur und Funktionsweise des menschlichen Denkens gewidmet hatte, sagt: »Computers are flexible enough to model the strange evolved convolutions of our thought and yet are responsive only to precise instructions« (aus einem Interview in The Atlantic, November 2013), während doch der Mensch in Bildern, Analogien und Ideen denkt.

Worum es dem Mainstream der A.I. geht, ist, die Funktion des menschlichen Denkens zu erfassen und zu simulieren. Als Kasparow gegen die IBM-Maschine Deep Blue antrat und einmal verlor, hat doch niemand angenommen, dass die Spiel- oder Arbeitsweise der beiden Kontrahenten in etwa dieselbe gewesen wäre. Aber das jeweilige Ergebnis, die Funktion, war als identisch vorausgesetzt: Es ging darum, wer das Spiel gewinnt. Kasparow hatte nach seinem Kampf gegen Deep Blue auf die Frage eines Reporters von CNN, ob ein Unterschied bestehe, wenn man gegen eine Maschine spiele anstatt gegen einen menschlichen Gegner, geantwortet, dass ein Unterschied im Spiel eigentlich nicht vorhanden sei oder sich höchstens auf Dauer bemerkbar mache, weil der Computer nicht ermüdet und keine Fehler macht. Im Übrigen: Als Deep Blue 1997 den besten Schachspielern Paroli geboten hatte, verzeichnete das Aktienpaket von IBM einen Wertzuwachs von 18 Milliarden Dollar (The Atlantic, November 2013).

Die analytische Philosophie, die Dummett durch ihre Sprachfixiertheit definiert hatte, simuliert ebenso nur die Funktion oder gewisse Funktionen des menschlichen Denkens. Sprache und Logik funktionieren ebenso wie der Computer nur auf der Grundlage von mehr oder weniger präzise festgelegten Voraussetzungen, während die Herausforderung an die Philosophie der Mathematik im Verständnis der Mathematisierungsprozesse liegt und damit im Verständnis des Übergangs von Anschauung und Wahrnehmung zu Schlussweise, Berechnung und Konstruktion. Dies führt zu Problemen, die die verschiedensten philosophischen Richtungen und Schulen intensiv beschäftigt haben.

Der Neukantianer Friedrich Albert Lange (1828–1875) schrieb in seinen »Logischen Studien« (Verlag von J. Baedeker, Iserlohn 1877), die Algebra der Logik von Boole, DeMorgan, Peacock u. a. kommentierend: Es wäre »ein Wort an der Stelle über die zahlreichen Versuche, die formale Logik in algebraischer Form darzustellen. Der Zug zum Abstrakten, der die neueren Mathematiker bis in unser Jahrhundert hinein einseitig beherrschte, musste […] leicht dahin führen, auch die Probleme der Logik womöglich, gleich denen der Geometrie, in ein Rechenexempel aufzulösen« (S. 142).

Dies Verfahren, so fährt er fort, hat insofern seine »Berechtigung, als dabei der rein logische Hauptinhalt der Sätze herausgegriffen und an Symbole angeknüpft wird, die keinerlei Zweideutigkeit zulassen. Wenn Lambert meint, mehr brauche man nicht und der übrige Inhalt der Sprache habe weiter keinen Wert, so hat er wiederum vom Standpunkt der logischen Analyse recht, aber dieser Standpunkt ist ein sehr einseitiger. Die Sprache ist aufs innigste mit dem gesamten Geistesleben des Menschen verflochten« (S. 145).

Und es sind gerade die Eigenschaften, »welche die Sprache so wenig geeignet machen zu scharfem Gedankenausdruck zu dienen, die für die allgemeine Entwicklung des Menschengeistes von der höchsten Wichtigkeit (sind). Nicht nur Poesie und Rhetorik hängen daran, sondern auch die ganze Fruchtbarkeit des wissenschaftlichen Denkens« (S. 146).

Lange hat die Algebra der Logik sehr einseitig beurteilt, so wie ein Schuljunge, der Mathematik und elementares Rechnen in Eins setzt. Letzteres ist der Standpunkt der Philosophie, und er ist sicher mit einer Prise Salz zu nehmen. Die einen regt die Melodie der Sprache und die Intuition der Begriffe mehr an, die anderen die Klarheit der Formen. Und schon Probleme von relativ bescheidener Komplexität verlangen die Algebra und deren Formelsprache. Bereits einige Generationen vor Lange hatte sich John Playfair (1748–1819) zu demselben Sachverhalt geäußert, wobei er jedoch in genau umgekehrtem Sinne auch den Philosophen die Algebra ans Herz legt: »The language of algebra deserves the attention, not of mathematicians only, but of all philosophers who would study the influence which signs have on the formation of ideas, and the acquisition of knowledge. […] (Communication) which is principal with respect to other languages, with respect to it is secondary and accidental. […] Again in the language of algebra itself, the part which is most curious […] is the application of imaginary expressions to the investigation of theorems, where truth is sometimes discovered by the help of signs alone, without any assistance at all from the ideas which they represent« (The Edinburgh Review, April 1808, p. 306 f.).

Die imaginären Zahlen, auf die sich Playfair bezieht, und die algebraischen Symbole generell, reine Mittel des Gedankenexperiments, erwiesen sich als unentbehrlich in der Entdeckung neuer Sachverhalte. Die algebraischen Diagramme sind wie Landkarten, die uns in Gegenden führen, von denen nie ein Mensch je gehört hat. Sogar die Geometrie musste, um über die Verhältnisse im dreidimensionalen euklidischen Raum hinauszugelangen, »algebraisiert« werden.

Zugleich muss man mit Jacob Klein feststellen, dass dieser Unterschied zwischen Sprache und Diagramm oder Formel die seit dem 17. Jahrhundert wachsende Entfremdung zwischen Philosophie und Physik hervorgerufen hat. Jacob Klein schreibt: »Men like Galileo, Stevin, Kepler, Descartes were moved by an original impulse quite alien to the erudite science of the Scholastics. […] However it is no less true that the conceptual interpretation of these new insights was linked in every case with the old, traditional concepts. The claim to communicate true science, true knowledge necessarily took its bearings from the firmly established edifice of traditional science; […] It also presupposes the most general foundations of the theoretical attitude which the Greeks displayed and bequeathed to later generations. The battle between the new and the old science was fought on the ground and in the name of the one uniquely true science« (J. Klein, Lectures and Essays, Annapolis 1985, p. 5).

Das erinnert mich an meine Studententage in der Mathematik und an das Unverständnis, das wir Mathematiker der analytischen Philosophie und ihren Bemühungen, ein definitives rein logisch geprägtes Wissenschaftsbild zu errichten, entgegenbrachten. Und Paolo Rossi behauptet seinerseits (vgl. A Ciência e a Filosofia dos Modernos, Sao Paulo 1992), dass Philosophen wie Husserl, Heidegger, Horkheimer und Adorno wiederum den Prozess der Inquisition gegen die Wissenschaft des Galilei im 20. Jahrhundert aufzuführen trachteten. Es muss einem wie ein Treppenwitz der Kulturgeschichte erscheinen, dass die philosophischen Antagonisten der analytischen und der sogenannten kontinentalen Philosophie eigentlich im selben Boot saßen.

Der Kampf der alten mit der neuen Wissenschaft oder Philosophie war insbesondere deshalb so intensiv, weil das ganze Begriffsverständnis sich nach der mathematisch-operativen Seite hin verschob. Nehmen wir den fundamental bedeutsamen Begriff der Bewegung. Der Ursprung der Entwicklung liegt in der bereits von Aristoteles geäußerten Vorstellung, dass die Natur wesentlich Bewegung sei. »Für uns soll die Grundannahme sein: Die natürlichen Gegenstände unterliegen […] dem Wechsel« (AristotelesPhysik, Buch I–IV, Hamburg 1987, S. 5).

Aristoteles betrachtet die Natur somit als Prinzip der Bewegung. Er fasst den Bewegungsbegriff jedoch so weit, dass jede Art des Wechsels darunter fällt, während die »Modernen« an der Mechanik und der exakten Vorausbestimmung mechanischer Bewegungen interessiert waren und deshalb den Begriff der Bewegung einengten und in den Formeln der symbolischen Algebra zu explizieren suchten.

»In erster Linie gilt es festzuhalten«, sagt Moscovici, »dass die Revolution des 17. Jahrhunderts keine wissenschaftliche, sondern eine philosophische Revolution war«, die darin bestand, dass die Mechanik »ins Zentrum der philosophischen Disziplinen gelangte, und die Mathematik, auf die sie sich stützte, trat an die Stelle der Logik als des gemeinsamen Organons der Wissenschaften und der Künste« (S. Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt 1982, S. 256; 272). D. h. die Mathematik wurde aus einer Philosophie zu einer Technik und die Mechanik aus einer Technik zu einer Philosophie, so dass also die wissenschaftliche Revolution als ein Re-Arrangement des Verhältnisses von episteme und techne angesehen werden kann.

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