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ОглавлениеWarum dieses Buch? Eine ganz vorläufige Antwort lässt sich in Form des folgenden Paradoxons geben: 1. Die Welt ist viel zu komplex, als dass wir auf wissenschaftliche Theorien verzichten könnten! Die Wissenschaften sind unsere Fenster zur Welt. 2. Die Welt ist viel zu komplex, als dass wissenschaftliche Theorien allein unsere Probleme in ihr lösen könnten.
Angesichts dieses Paradoxons werden einige von sich aus glauben, dass philosophische Orientierung in unserer Wissensgesellschaft hilfreich sein könnte, um sich im Leben zurecht zu finden. Die Mitglieder des Wiener Kreises und die analytischen Philosophen im Allgemeinen haben für diesen Zweck eine logische und rhetorische Schulung für wesentlich gehalten. Dieselbe ist sicher nützlich und die entsprechende Tradition beginnt bei den Sophisten im antiken Athen, denen sich der Wiener Kreis auch verpflichtet gefühlt hat. Logische Präzision und rhetorische Schulung sind jedoch nicht ausreichend. Philosophie ist keine Wissenschaft, wie Logik oder Mathematik, Physik oder Soziologie. Aber sie ist von Wissenschaft und Kunst nicht zu trennen, selbst dann nicht, wenn man das wollte. Die Philosophie agiert in Kontinuität zu den positiven Wissenschaften, ohne auf sie reduzierbar zu sein.
Jedenfalls scheint die analytische Philosophie direkt aus dieser Problematik der Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschaft, zwischen dem begrifflichen und dem logisch-formalen Denken hervorgegangen zu sein. Der Begriff oder die Idee ist wie ein im Meer ruhender Eisberg und jede Wissenschaftsdisziplin beschreibt in ihrem Versuch, den Begriff zu definieren, einen bestimmten Aspekt dessen, was aus dem Wasser ragt, während andererseits auch der kühnste Taucher den größeren Teil unter Wasser kaum erahnen kann.
Im 19. Jahrhundert hatte sich die Philosophie von den positiven Wissenschaften entfernt und ihre Kategorien extrem ausgeweitet und verallgemeinert. Daraus entwickelte sich dann die gegenläufige Vorstellung einer formalen Wissenschaftstheorie und analytischen Philosophie. Dabei wurden Physik und Mathematik immer spekulativer und die Philosophie wurde immer technischer und formaler und in ihrer Wirklichkeitsvorstellungen immer mehr dem naiven Alltagsverstand angepasst.