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1.2 Komplexitätsterminologie 1.2.1 Architektur der Komplexität

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»Multi«, »bi«, »poly«, »dual«, »mega«, »ko-« »mixed«, »blended«, »inter«, »cross«, »mehrdeutig«, »wechselseitig«, »fuzzy«, »agil«, »flexibel« oder »ad hoc« sind Beispiele aus einem umfangreichen Fundus von Begrifflichkeiten, die durchweg das Vorliegen von Komplexität signalisieren. Allerdings erzeugt diese Ubiquität diverse Mehrdeutigkeiten in der Semantik von komplexitätsfokussierten Modellen. So erweist sich beispielsweise das Dual Sourcing (Bereitstellung von Inputgütern durch zwei Lieferanten) als zweideutig: In einem additiven oder subsidiären Ergänzungsverhältnis können die beiden Lieferanten einerseits für eine sichere Bedarfsdeckung sorgen, etwa für Ausfallsicherheit z. B. via Second Sourcing. Andererseits kann ein kompetitives, substitutionales Dual Sourcing praktiziert werden, um Einstandspreise zu senken oder die Innovativität der Lieferanten zu fördern. Eine ähnliche Ambiguität charakterisiert die Strategie der Globalisierung: Sie steht einmal für mehr Vielfalt (Komplexität) auf weltweiten statt nur nationalen oder regionalen Märkten. Zum anderen meint Globalisierung eine geringe Komplexität durch die Versorgung des Weltmarkts mit Standardgütern, z. B. Treibstoffen, Standard-Software oder gastronomischen Dienstleistungen (»McDonaldisierung«). Ähnlich mehrdeutig wird unter Servitization einerseits die Ergänzung von Produkten durch produktbegleitende Services verstanden, also das Angebot hybrider Produkt-Service-Kombinationen, z. B. Gerät, Installation, Wartung und Entsorgung (Gao et al. 2009). Andererseits bezeichnet die Servitization in der Industrie die Ersetzung von Sachleistungen durch Dienstleistungen, etwa Mobilität statt Fahrzeuge oder Betreibermodelle statt Verkauf. Das mündet verallgemeinert in die XaaS-Formel »Everything as a Service« (Baines/ Bigdeli/ Bustinza 2017). Ebenso fehlt eine allseits akzeptierte Differenzierung zwischen dem Projektportfolio-Management und dem Multiprojekt-Management als zwei Erscheinungsformen eines komplexen Projektmanagements. Schließlich bedeutet »Chaos« im Alltagsverständnis eine nicht vorhersagbare Unordnung. Hingegen steht Chaos im wissenschaftlichen Verständnis für eine deterministische Ordnung (Gribbin 2004, S. 5). Ganz analog steht das Komplexitätsphänomen »Zufall« im Alltagsverständnis für ein nicht erklärbares Ereignis. In der Mathematik hingegen ist Zufall ein (mit Wahrscheinlichkeiten bewertetes) Ereignis als Ergebnis eines Zufallsprozesses.

Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Unschärfe erwartet man von einer Komplexitätsterminologie relativ normierte Begriffssysteme, etwa nach dem Vorbild der Systemterminologie. Allerdings muss eine solche Terminologie der Metakomplexität Rechnung tragen. Deshalb darf man Komplexitätsterminologie auch nicht mit einem Glossar der Komplexität gleichsetzen: Die Begriffskonventionen können nicht auf ein »monolithisches« Komplexitätskonstrukt zurückgreifen. Vielmehr müssen sie die drei Komplexitätsfaktoren »Dimensionen«, »Domänen« und »Komponenten« und deren jeweilige Ausprägungen, die Komplexitätsbausteine, differenziert erfassen. Anders als bei anderen mehrdimensionalen Konstrukten gibt es keinen »Generalfaktor« der Komplexität, etwa nach dem Vorbild des g-Faktors bei der Intelligenz. Vielmehr muss jedes Komplexitätskonstrukt hinsichtlich Komplexitätskomponenten (Rolle: Wozu?), Komplexitätsdimensionen (Erscheinungsform: Wie?) und Komplexitätsdomänen (Lokalisation: Wo?) spezifiziert werden. Diese drei Spezifikationsfaktoren definieren ein Tensor-Modell der Komplexität. Die Anwendung dieser differenzierten Terminologie erfolgt in Beschreibungsmodellen, Erklärungsmodellen und Gestaltungsmodellen für Komplexitätsphänomene oder Komplexitätskonzepte. Dabei eignen sich einige der terminologischen Spezifikationsfaktoren auch als Erklärungsparameter ( Kap. 1.3.4) bzw. Gestaltungsparameter ( Kap. 1.4).

Die folgenden Beispiele illustrieren das Tensor-Modell: So bezeichnet beispielsweise das Komplexitätskonzept »Public Private Partnership« ein Komplexitätspotenzial für Infrastrukturinvestitionen, das sich aus zwei Domänen zusammensetzt. Aufgrund deren Gegensätzlichkeit (z. B. gemeinwirtschaftliche versus erwerbswirtschaftliche Zielsetzungen) besitzen Public Private Partnerships einen Hybridcharakter. Die Matrixorganisation fungiert in der Organisationsdomäne als Potenzial zur Unterstützung komplexer Strategien. Sie geht mit einem gestiegenen Bedarf an Humanressourcen (Matrixmanager) und an Kapazitäten für die Konflikthandhabung einher. Infolge der unterschiedlich ausgeprägten Diversität in dieser Familie von Zweiliniensystemen fällt das Konfliktrisiko in einer Produkt-Regionen-Matrix vermutlich geringer aus als in einer Produkt-Funktionen-Matrix. Offensichtlich erschöpft sich das Tensor-Modell nicht in einer bloßen »Addition« der drei Komplexitätsfaktoren. Eine brauchbare Spezifikation der vorliegenden Komplexität gelingt nur durch eine komplementäre Erfassung unter Berücksichtigung des Verbunds zwischen und innerhalb der drei Komplexitätsfaktoren ( Kap. 1.2.5). Wird dieser Komplexitätsnexus ausgeklammert, kommt es zu Orientierungsproblemen bei den komplexitätsfokussierten Managern. Darauf muss man achten, wenn aus Praktikabilitätsgründen komprimiert-verkürzte Komplexitätsmodelle verwendet werden: Wenn man beispielsweise Matrixstrukturen als »komplex« bezeichnet, liegt eine derart verkürzte Charakterisierung vor. Eine ausführlichere komplexitätsfokussierte Modellierung dieser Organisationsform greift auf ein bedarfsseitiges Komplexitätsprofil zurück, das sich aus der Anzahl von Matrixmanagern, dem Zweiliniensystems, den Konflikten zwischen den beiden Linien und der dadurch induzierten Instabilität zusammensetzt.

Dabei kann die Modellierung der Komplexitätsfaktoren, z. B. der Komplexitätsdimensionen wie etwa der Dynamik, sehr pauschal (z. B. »Turbulenz«) oder sehr präzise, etwa anhand des Volatilitätsindex VIX oder des Aktienindex S&P 500 an der Chicago Board Options Exchange vorgenommen werden. Ähnlich kann man die Komplexitätsdomänen sehr grob (z. B. Komplexität des generischen Umsystems) oder detaillierter modellieren, z. B. regionale Wettbewerber oder nationale Gesetzgebung aus dem spezifischen Umsystem. Mit anderen Worten wird der terminologische Spezifikationsgrad der drei Komplexitätsfaktoren unterschiedlich hoch ausfallen. Man muss dabei beachten, dass dieser Spezifikationsgrad nicht anhand eines einzigen Spezifikationsparameters, sondern mit Hilfe von insgesamt fünf verschiedenen Spezifikationsparametern ermittelt wird. Dies verdeutlicht einmal mehr die Metakomplexität des Komplexitätskonstrukts. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, variiert der Spezifikationsgrad des Komplexitätstensors aus Dimensionen, Domänen und Komponenten auf fünf Spezifikationsparametern: Eine hochgradige Spezifikation ist vollständig, präzise, detailliert, nicht-konditional und individualisiert. Eine schwache Spezifikation – oft auch als »ill-defined« oder »schlecht strukturiert« (Simon 1962) charakterisiert – ist lückenhaft, vage, grob, konditionalisiert und standardisiert.


Abb. 1: Spezifikationsgrade des Komplexitätskonstrukts

Die selektiven Spezifikationen beschränken sich auf eine partielle Charakterisierung eines Komplexitätskonstrukts. Bei einer lückenhaften Streikankündigung beispielsweise fehlen Angaben zum Streikbeginn und den bestreikten Standorten. Zur Messung der Unternehmensgröße wird analog nur eines der drei Standardgrößenmerkmale Umsatz, Mitarbeiterzahl und Bilanzvolumen herangezogen. Bei Wachstumsraten fehlen Angaben zum Bezugszeitraum. Der Operationalisierungsgrad als weiterer Spezifikationsparameter hängt entscheidend vom Skalenniveau ab: Das Wachstum von Unternehmen lässt sich qualitativ durch »schnell wachsend« (bildhaft: »Gazelle Companies«) oder quantitativ durch Angabe der jährlichen Wachstumsraten von beispielsweise 20 % erfassen. Analog kann man die Größe von sozialen Netzwerken durch »Mega« oder durch Nutzerzahlen (z. B. 2,5 Mrd. Nutzer) erfassen. Auf höheren Skalenniveaus stehen für unscharfe Spezifikationen zudem Intervallangaben statt Punktangaben zur Verfügung, z. B. bei Preis- oder Zeitspezifikationen. Wahrscheinlichkeitsangaben eignen sich zur quantitativen Erfassung von Unsicherheit ( Kap. 1.2.6.2).

Der Detaillierungsgrad steigt beim Übergang von Produktprogrammen auf Produkte, von Angaben zum Flottenverbrauch auf den Verbrauch von einzelnen Fahrzeugbaureihen, von Jahreswerten auf Quartalswerte, von globalen auf nationale Werte sowie von groben Anforderungsbeschreibungen (»Epics«) auf detaillierte Anforderungsspezifikationen. Eine Grobspezifikation von Transaktionskosten erfasst beispielsweise die Gesamtkosten einer Transaktion (z. B. Vermittlungsprovisionen bei Immobilientransaktion), eine detaillierte Spezifikation hingegen die Kosten für die einzelnen Transaktionspartner, also Käufer und Verkäufer. Die Verfahren der Gesamtkostenauflösung nach Kostenkategorien (z. B. Einzel- und Gemeinkosten) und nach Kostenarten liefern ebenfalls detailliertere Informationen.

Die Ermittlung des Kraftstoffverbrauchs eines Fahrzeugs erfolgt meist konditionalisiert nach Nutzung innerorts oder ausserorts. Der Konditionalisierungsgrad von Angebotsmengen ist niedrig bei Kontingenten mit einem Festpreis und hoch bei preiselastischem Angebotsverhalten. Der Standardisierungsgrad ist hoch, wenn auf Durchschnittswerte (über mehrere Perioden oder Unternehmen), Modalwerte und typische Ausprägungen Bezug genommen wird, z. B. Max Mustermann, eine Kunden-Persona, ein 4-Personen-Haushalt oder anonyme Adressaten »To Whom it May Concern« bzw. »N.N.« (Nomen Nominandum).

Zusammenfassend erläutert das Beispiel »Spezifikation des Zeitbezugs« nochmals die fünf Spezifikationsparameter: Eine selektive Zeitspezifikation zeichnet sich dadurch aus, dass der Zeitbezug gänzlich fehlt oder nur Angaben zum Zeitpunkt, aber nicht zum Zeitraum vorliegen. Präzise Zeitraumangaben äußern sich in sekundengenauen Abrechnungen, wenig präzise hingegen in Zeitintervallen, z. B. Puffer. Eine mehr oder weniger detaillierte Spezifikation von Arbeitszeiten basiert auf Stunden oder auf Schichten oder Tagen oder Wochen oder Jahren oder auf der Lebensarbeit. Konditionalisierte Zeitpunktspezifikation in Flug- und Fahrplänen differenzieren beispielsweise die Ankunftszeiten in Abhängigkeit von Wetterbedingungen oder Verkehrsdichte. Standardisierte Zeitraumangaben beruhen auf äquidistanten Perioden, z. B. dem Basisjahr für die Zinsberechnung mit einheitlich 365 oder 360 Tagen oder einem Zinsmonat mit einheitlich 30 Tagen. Demgegenüber ist ein Episodenzeitbezug nicht standardisiert, etwa wenn im Lebenszyklusmanagement von Gebrauchsgütern zwischen der Entwicklungsphase und der Betriebsphase unterschieden wird.

Die Spezifikation spielt nicht nur für die Terminologie der Komplexität, sondern darüber hinaus auch für das Management der Komplexität eine Rolle ( Kap. 1.4). Dort fungieren die Spezifikationsparameter als komplexitätsfokussierte Gestaltungsparameter, etwa beim Einsatz sogenannter unvollständiger Verträge. Eine hochgradige Spezifikation von Plänen besitzt dabei aufgrund ihrer Striktheit oder Rigidität im Vergleich zu schwachen Spezifikationen wenig Flexibilitätspotenzial. Striktheit bildet allerdings eine erfolgskritische Voraussetzung für Integration, weil sie z. B. für Anschlussfähigkeit und Kompatibilität sorgt.

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