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Einführung in das Thema »Komplexitätsmanagement«

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Bei der Komplexität handelt es sich um ein formales Merkmal aller physischen, virtuellen und mentalen Welten. Wir machen uns ein subjektives oder objektives Bild dieser Welten durch eine Komplexitätslinse bzw. Komplexitätsbrille. Diese Modellperspektive ist insofern formal, als sie von inhaltlichen Merkmalen abstrahiert. Bei einem Produktprogramm bedeutet dies, dass das Komplexitätsmodell inhaltlich signifikante Unterschiede zwischen Branchen, die phänomenologische Beschaffenheit der Leistungen (Sachleistungen versus Dienstleistungen) bzw. Konsumgüter oder Investitionsgüter unberücksichtigt lässt und nur die Komplexitätsmerkmale erfasst: Hierzu zählen etwa die Anzahl der im Programm enthaltenen Produkte, ob ein Verbund (verbundene Diversifikation) oder kein Verbund (unverbundene Diversifikation) besteht, ob der Verbund komplementär oder substitutional ist, wie verschiedenartig oder ähnlich die Produkte sind (z. B. Standardleistungen, Produktfamilien, Varianten oder individualisierte Solutions), ob es Gleichteile gibt, ob Leistungen einzeln oder als Bundles angeboten werden, ob die Produktmerkmale hoch spezifiziert oder nur schwach spezifiziert sind (etwa »Hotelübernachtung« oder »Übernachtung im 5 Sterne-Hotel Miramar«), wie die Proportionen von »Renner«- und »Penner«-Produkten (nach Umschlagshäufigkeit, Verkaufszahlen) ausfallen und wie es mit der Länge des bisherigen und zukünftigen Lebenszyklus der einzelnen Produkte bestellt ist, z. B. Software-Versionen, langlebige Gebrauchsgüter oder kurzlebige Mode-Kollektionen.

Die Beispiele vermitteln eine erste Vorstellung vom Komplexitätsbegriff. Auch einige geläufige ökonomische Grundbegriffe wie z. B. »Knappheit«, »Projekt« (Sonderaufgaben), »Konflikt«, »Kannibalisierung« oder »öffentliche Güter« (kein Ausschluss von der Nutzung) erfassen primär Komplexitätsmerkmale. Ferner hat sich sowohl in der Alltagssprache als auch in der Wissenschaft eine komplexitätsorientierte Metaphorik und Idiomatik eingebürgert. Die sehr lange Liste umfasst etwa Bezeichnungen wie Amöbe, Chamäleon, schwerfällige Supertanker versus bewegliche Schnellboote, meterhohe Aktenberge, Schmelztiegel, trojanische Pferde, Gemengelage, Masse (z. B. Massenproduktion, kritische Masse), Lawinen, Labyrinthe, Blindflug, der »gläserne« Kunde, »sichere Häfen«, »Nadel im Heuhaufen«, Wirrwarr, Lippenbekenntnisse, Hassliebe, Flickenteppich, Regenbogenfamilien, Informationsexplosion, Software-Riesen, Eintönigkeit (»Täglich-grüßt-das-Murmeltier«-Effekt), Shortcuts (Abkürzungen), Spurwechsel, Lehman Moment (Krise), Aprilwetter (Wechselhaftigkeit), Verzahnung, Schneeballeffekt, Puzzle, »Zwischen Baum und Borke stecken«, »Flöhe und Läuse haben« (Kumulation, speziell Komorbidität), »Sturm im Wasserglas«, »beredtes Schweigen«, »Alles unter einen Hut bringen« (Konflikte lösen), verhärtete Fronten, Beidhändigkeit (Ambidextrie), Krokodilstränen, Büchse der Pandora, blinder Aktionismus, Eigentor, Erdrutschsieg (bei Wahlen), Zweifrontenkrieg, Spagat, zwei Seiten derselben Medaille, Alles-oder-Nichts, Klein-Klein-Strategien, Salami-Taktik, stille Rücklagen oder Teilhaber (Intransparenz), »Turbo« (beschleunigte Prozesse), Bärendienst, Pyrrhus-Sieg, Immobilienblase, kleiner Dienstweg, globales Dorf, flache (globale) Welt, Auseinanderklaffen von Sein und Schein, Wasserkopf (überdimensionierte Verwaltung), »schwammige« Begriffe (wie z. B. »einvernehmlich«, »gesundes Misstrauen«), Eisberg (hoher intransparenter Anteil), Scharlatane, Balkanisierung (Zerfall großer Gebilde in viele kleine Einheiten), Terra Inkognita, weiße Flecken, Querdenker, Eiserner Vorhang (Ost-West-Aufteilung Europas während des kalten Kriegs), »dünnes Eis« (riskante Situationen), Undercover, Geldschleier, Hufeisen-Theorie, »Klotzen statt Kleckern!«, »Weiter so!«, Schubladenpläne, »08/15«, »mehrere Standbeine haben«, Mülleimer-Modell (Chaos), Dschungel, Schattenwirtschaft, Schatten-IT (unbefugter Einsatz privater Hard- und Software am Arbeitsplatz), Schattenbanken (z. B. Investmentfonds), Sandwich-Konstellation, runde Tische (Fehlen hierarchischer Differenzierung), »kalte« Progression, »Nacht und Nebel-Aktionen«, »hinter den Kulissen«, »zwischen den Zeilen«, »Applaus von der falschen Seite«, graue Märkte, graue Eminenzen (Strippenzieher), die unsichtbare Hand (durch Marktmechanismus werden die egoistischen Interessen der einzelnen Wirtschaftssubjekte in ein volkswirtschaftliches Optimum überführt), Borderline (Übergangsbereich zwischen neurotischen und psychotischen Störungen), Janusköpfigkeit, Zeitungsenten (Falschmeldungen), Reibungsverluste, (intransparentes) Darknet, Schwarzmärkte, Black Box, Dunkelziffer bzw. Dunkelfeld, schwarze Schwäne, Kleingedrucktes (geringe Transparenz), Zombies (Untote), geheime schwarze Listen, verdeckte Provisionen (z. B. Kick-Backs), Euphemismen, Phantomschmerz, Phantomstau, Phantom-Aktien, gordischer Knoten, »Kopf in den Sand stecken«, Pizza oder Pancake-Organisation statt Pyramiden-Organisation, »zwei Sachverständige, vier Meinungen«, Zeltorganisation (temporär eingerichtete und insofern flexible Organisationsformen in Gestalt von Projektteams oder Ausschüssen), Cloud und komplexitätsreduzierendes Schwarz-Weiß-Denken.

Seit mehreren Jahrzehnten (Simon 1962) bildet das Management von Komplexität einen Standardbestandteil des Managements. Dies signalisiert, dass man es beim Komplexitätsmanagement keinesfalls mit einem Hype oder eine Management-Mode zu tun hat. Über zahlreiche Disziplinen der Natur-, Sozial- und Systemwissenschaften hinweg dient der Komplexitätsansatz als ganzheitlicher Rahmen für verschiedene Arten der formalen Modellierung (Lewin/ Parker/ Regine 1998; Anderson 1999; Maguire/ McKelvey 1999; Stacey/ Griffin/ Shaw 2000; Cooksey 2001; Thietart/ Forgues 2011). Er nutzt die Komplexität als zentrale Analyseeinheit. Das Spektrum der Ansätze umfasst beispielsweise Massenproduktion, Risikomanagement, internationales Management, das Design von Hybriden (z. B. hybride Fahrzeuge, Getreidesorten, Lernmethoden, Anlagen, Materialien, Hybridstrategien, »Dokufiktion«, »Infotainment«, »Infomotion«, »Edutainment«, also Verknüpfungen von Informationen, Bildung und Emotionen), dynamische nichtlineare Systeme, Change Management, deskriptive Statistik (Massenphänomene), Konfliktmanagement, Innovationsmanagement, Wahrscheinlichkeitstheorie, Katastrophen- und Chaostheorie, dissipative und non-ergodische Strukturen sowie Fuzzy-Set-Theorie und -Management.

Einen oberflächlichen numerischen Nachweis dafür, wie allgegenwärtig die Beschäftigung mit Komplexität ist, liefern die Trefferzahlen in Suchmaschinen, für »Complexity« etwa mehr als 170.000.000. Weniger oberflächlich sind die Zusammenstellungen von Komplexitätskonstrukten im Alltag und in der Ökonomie. Aus den eingangs skizzierten Beispielen kann man ablesen, dass es unter den Komplexitätskonstrukten neben den emergenten Komplexitätsphänomenen (z. B. Vergessen, Verdrängen, Amnesie, Trends, Tendenzen, Überraschungen, Zweifel) auch »gemachte« Komplexitätskonzepte (z. B. Normierung, E-Mail-Bombing, Reizüberflutung, Tarnung, Pseudonyme, Geheimdiplomatie, Amnestie, Verjährung, Rücklagen, Sarkasmus) gibt. Sie sind das Ergebnis einer zielgerichteten Gestaltung, sprich eines Managements von Komplexität. Auf der umfangreichen Liste von Alltagskonzepten des zielorientierten Umgangs mit Komplexität finden sich beispielsweise Redundanzen (»Geldbeträge in Worten und in Ziffern spezifizieren«, »zweifache Eingabe von Passwörtern«, »Schlüssel zweimal herumdrehen«), mehrfache Authentifizierung (z. B. Passwort, Fingerabdruck, Bestätigungscode, Security-Token, Zwei-Faktor-Authentisierung) oder das Nato-Alphabet.

Ferner ist es nicht verwunderlich, dass alle Erscheinungsformen von Idealen und Utopien, etwa in Gestalt des Universalgelehrten, Superman, idealen Teams oder Arbeitgebers, aufgrund der charakteristischen Kumulation zahlreicher erwünschter Eigenschaften komplex sind. So wird z. B. der ideale Mitarbeiter umgangssprachlich als »eierlegende Wollmilchsau« charakterisiert.

Häufig wird »komplex« als klassifikatorische Ja-Nein-Eigenschaft verwendet, etwa bei komplexen versus einfachen Produktprogrammen. Da jedoch tendenziell alles als »komplex« eingestuft werden kann, haben sich ordinale Verwendungen von Komplexität durchgesetzt: Sie erlauben eine Unterscheidung zwischen mehr oder weniger Komplexität, komparativ statisch also zwischen einer Steigerung (Anreicherung) oder einer Verringerung (Vereinfachung) von Komplexität gegenüber einer Bezugskonstellation, etwa einer Normalkomplexität oder einem Bezugszeitpunkt.

In statischer Betrachtung werden zwei, jeweils sehr umfangreiche Cluster von Phänomenen und Konzepten der Komplexität unterschieden: ein auf wenig Komplexität und ein auf viel Komplexität fokussiertes Cluster. Dies kann man anschaulich anhand von gegensätzlich konfigurierten Begriffspaarungen illustrieren, etwa Dogmatismus versus Pluralismus, Assimilation versus Dissimilation (z. B. von Einstellungen), geschlossenes versus offenes Innovationsmanagement, explizites versus implizites Wissen, Integration (z. B. Inklusion) versus Segregation (z. B. Ghettoisierung, Rassentrennung, Trennung von Kirche und Staat), Entschleunigung versus Beschleunigung von Prozessen oder mechanistische versus organische Funktionsweise organisatorischer Gebilde.

Nicht alle Erscheinungsformen von »komplex« oder »einfach« werden durch genau diese Ausdrücke bezeichnet. Das verdeutlicht etwa das Stichwortverzeichnis eines Standardwerks der Organisationstheorie (Kieser/ Ebers 2014). Es enthält für »Komplexität« lediglich zwei Seitenangaben, obwohl Komplexitätskonstrukte praktisch auf allen Seiten des Werks behandelt werden. Für viele Erscheinungsformen von »komplex« oder »einfach« werden verwandte Begriffe verwendet. Nicht selten werden Begriffe, Wortbausteine oder Präfixe wie »vielfältig«, »bunt«, »Maxi«, »groß« (z. B. Großunternehmen im Unterschied zu KMU), »Mega« (z. B. Megaprojektmanagement, Flyvbjerg 2019), »multi«, »poly«, »entfernt«, »undurchsichtig«, »Ausnahme«, »paradox«, »spekulativ«, »unübersichtlich«, »voll« (z. B. Full Service, Thin- versus Fat-Clients), »offen«, »grenzenlos«, »grenzüberschreitend«, »unberechenbar«, »chaotisch«, »Sharing« (Teilen statt Besitzen, d. h. Fehlen von individuellen Verfügungsrechten), »sophisticated« oder »fuzzy« herangezogen, um hohe Komplexität abzubilden. Eine schwach ausgeprägte Komplexität wird hingegen beispielsweise durch Bezeichnungen wie »statisch«, »stationär«, »miniaturisiert« (z. B. Ultrabooks), »geordnet«, »geglättet«, »regelmäßig«, »geschlossen«, »klein« (z. B. kleine Lösungen, Smalltalk), »kurz« (SMS: Kurznachrichten, RSS: Really Simple Syndication, Tweets, Push Nachrichten) oder »Mikro« (z. B. Mikro-Finanzierung) ausgedrückt.

Das Gegensatzpaar »schwach versus stark« ist beispielsweise durch eine (allerdings mehrdeutige) Überschneidung mit der Differenzierung zwischen »einfach oder komplex« gekennzeichnet: So sind »schwache Signale« aufgrund ihres versteckten, mehrdeutigen, mutmaßlichen, unklaren oder unscharfen Charakters tatsächlich komplex. Im Gegensatz dazu gibt es keine Affinität zwischen sogenannten »schwachen oder starken Bindungen« (Weak versus Strong Ties) und »komplexen oder einfachen Bindungen«. Analog bedeutet »leicht« nicht immer »einfach«: »Light«-Versionen etwa die »GmbH light« oder auch »Mini-GmbH« (Unternehmergesellschaft mit beschränkter Haftung) repräsentieren in der Tat Vereinfachungen, etwa im Hinblick auf die Mindestanforderungen an das Eigenkapital von Start-ups. Im Gegensatz dazu steht »light« als Hinweis auf geringere Mengen an schädlichen Inhaltsstoffen wie z. B. Teer in Zigaretten oder Zucker in Getränken nicht für »Einfachheit«. Auch sogenannte »Kleine Welten« (Small-World Phenomenon) repräsentieren keine echten »einfachen« Welten: Auch wenn ein einzelner Akteur »einfach« nur eine Handvoll direkter Verbindungen benötigt, um weltweit vernetzt zu sein, erfordert die weltweite Vernetzung dieses Knotens ein komplexes Beziehungspotential, das nur die Gesamtheit aller weltweit verteilten Knoten bereitstellen kann.

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