Читать книгу Komplexitätsmanagement - Michael Reiss - Страница 18
1.2.5.4 Domänen-Verbund
ОглавлениеDie hochgradige Vernetztheit von Prozessen und Ereignissen erfordert einen ganzheitlichen Zugang, der mehrere Domänen miteinander verbundener Komplexitätsphänomene abdeckt. Mit anderen Worten erzeugt die Komplexität auf der Objektebene (»Allverbundenheit«) eine weitere Facette der Metakomplexität. Komplexität ist in aller Regel kein »lokales« Phänomen. Die isolierte Auseinandersetzung mit der Komplexität eines Unternehmens, eines Marktes, einer Geschäftseinheit, einer Abteilung, einer Legislaturperiode (von einem Wahltermin zum nächsten Wahltermin) oder einer Lebenszyklusphase, abgekoppelt von anderen Systemen oder Subsystemen, wird in aller Regel den tatsächlichen Umfang der jeweiligen Komplexität unterschätzen, etwa die Komplexität einer Supply Chain oder eines Produktlebenszyklus. Bekanntlich erlaubt beispielsweise die Identifikation lokaler Engpässe noch keine Identifikation des Minimumsektors. Ebenso wenig repräsentieren lokale Optima das Gesamtoptimum. Klassische Abhängigkeiten bestehen des Weiteren zwischen den Domänen »Realgütersphäre« und »Finanzsphäre« sowie zwischen Produktkomplexität und Prozesskomplexität (Adam/ Johannwille 1998). Auch die Tensor-Organisation mit einer Projekt-, Produkt- und Funktions-Domäne gehört in diese Kategorie. Ein Komplementärverbund kennzeichnet ferner das Zusammenspiel der Promotorentroika aus Fach-, Macht- und Prozesspromotoren im Innovationsmanagement aus drei (komplementär verknüpften) Rollendomänen. Das Gesetz von Conway basiert auf der Argumentation, dass im Rahmen der Software-Programmierung (z. B. von modularer ERP-Software) die Schnittstellen zwischen den Softwaremodulen ein isomorphes Abbild der Kommunikationsstrukturen zwischen den Organisationseinheiten in einem Unternehmen darstellen sollten.
Beim Diversitätsmanagement im Personalbereich handelt es sich um ein Multidomänen-Problem, das eine simultane Ausgewogenheit in Bezug auf die Domänen Geschlecht, Alter, Ethnizität und Nationalität erfordert. Auch das typische Komplexitätsphänomen der Netzwerkeffekte (Fainmesser/ Galeotti 2015) basiert auf einem Verbund von zwei oder mehr Domänen: Während direkte Netzwerkeffekte nur eine Domäne (z. B. die sogenannte »Same Side« eines Marktes) betreffen, erstrecken sich indirekte Netzwerkeffekte (Parker/van Alstyne 2005, S. 1496; Günther 2015; Johnson 2019) auf die »Other Side«, wenn der generierte Nutzen von der Mitgliederzahl (Dimension) auf der anderen Marktseite abhängt. Zweiseitige Märkte sind durch zwei oder mehr Abnehmer-Domänen (etwa Nutzer und Werbetreibende), mehrseitige Plattformen (Hagiu/ Wright 2015) durch zusätzliche Domänen gekennzeichnet. In analoger Weise wendet sich ein offener Brief an zwei Domänen, d. h. an den jeweiligen Adressaten und an die Öffentlichkeit.
Der in der Domänenlandschaft existierenden Von-An-Verbund (z. B. Lieferbeziehungen, Migration, Vererbung, Montage auf Basis von Erzeugnisbäumen oder Gozinto-Graphen) und der Wenn-Dann-Verbund (z. B. Netzwerkeffekte, Folgekonflikte, Spillover-Effekte oder Komplementärität zwischen Gütern) machen es erforderlich, neben den ursprünglichen Domänen auch verbundene Domänen einzubeziehen, wenn eine Kongruenz von Komplexitätsbedarf und Komplexität erreicht werden soll. Eine Komplexitätsreduktion mithilfe punktueller, auf eine einzige Domäne beschränkter Ansätze erweist sich insofern als kontraproduktiv, als sie anstelle einer Reduktion insgesamt eine Steigerung von Komplexitätsbedarfen über alle betroffenen Domänen bewirken können: So ruft eine strengere Reglementierung, z. B. von Beschäftigungsverhältnissen durch Mindestlohn und Sozialversicherungspflicht oder durch Verbote wie die Alkoholprohibition, Rauchverbote, Verbot der Tabakwerbung oder des aktiven B2C-Telefonmarketings, ein Reaktanzverhalten hervor: Hierbei handelt es sich um Aktivitäten der kreativen Suche nach Ausweichmöglichkeiten, Bypässen und Schlupflöchern (z. B. informelle Organisation oder Schattenwirtschaft), die paradoxerweise nicht weniger, sondern mehr Unordnung schaffen. Umgekehrt kann es durch eine schwächere Reglementierung, etwa die Legalisierung von Online-Glücksspiel oder bestimmter Drogen, gelingen, Schwarzmärkte zu dezimieren.
Interaktionen, also Kommunikation, Transaktionen, Konflikte oder Kooperationen, sind sehr häufig nicht auf die Domänen von zwei Akteuren (sogenannte Dyade), also Sender und Empfänger, Prinzipal und Agent oder Verkäufer und Käufer beschränkt. Darauf weist bereits die Komplexitätsformel »It Takes Three to Tango« hin (El Sawy et al. 2010): Man denke etwa an die Drittparteien in Gestalt von Intermediären (z. B. Entleiher bei der Arbeitnehmerüberlassung), an neutrale Drittparteien, mehrere durch eine Rentenpolitik betroffene Generationen oder die Kontrolleure der Kontrolleure, z. B. Rechnungshöfe. Es zeigt sich, dass die klassische dyadische Konfiguration der an einer Geschäftsbeziehung beteiligten Akteure die Ausnahme, die Triade hingegen die Regel bildet. Dies gilt bereits für die terminologische Spezifikation: Was die Geschäftsbeziehung zu einem Konkurrenten oder Komplementor ausmacht, lässt sich nur definieren, wenn gleichzeitig die Verbindungen zu Kunden (oder Lieferanten) einbezogen werden (Neumann 2016). Auf mehrseitigen Märkten existieren dabei zwei oder mehr als zwei Kategorien von Kunden. Auch das Gleichbehandlungsprinzip geht definitionsgemäß über die Zweiparteien-Interaktionen hinaus, weil weitere Parteien als Vergleichsmaßstab berücksichtigt werden müssen. Noch deutlicher wird dies beim Sechs-Augen-Prinzip für Transplantationskonferenzen zum Management von Organspenden oder bei Triple bzw. Quadruple Win-Modellen im komplexen Verhandlungsmanagement. Multiparteien-Konflikte sind typisch für das Gesundheitswesen, etwa Verteilungskonflikte zwischen Krankenversicherungen, Anbietern von medizinischen Dienstleistungen, Patienten und Pharmaindustrie.
Modelle des so genannten Value Net beruhen auf fünf Wertschöpfungsakteuren: Hersteller, Lieferanten, Kunden, Komplementoren und Konkurrenten ( Kap. 2.2.2.1). Im erweiterten Value Net kommen u. a. Intermediäre hinzu: Die Liste umfasst Vermittler, Dolmetscher, Interpreten von Musik, Geschäftsinkubatoren, Plattformbetreiber, neutrale Drittparteien, Barter Exchanges und Drittländer, z. B. zur Embargo-Umgehung. Sogenannte Drittanbieter auf Internet-Plattformen verschaffen sich (oft auf Basis sogenannter Third-Party Cookies) insofern eine informelle Mitwirkung, als sie komplementäre Netzwerkprodukte oder Ersatzteile anbieten, ohne vom Anbieter eines Bezugsprodukts dazu berechtigt oder beauftragt zu sein.
Der Domänenverbund erzeugt nicht nur einen Komplexitätsbedarf, sondern fungiert auch als Komplexitätspotenzial: Kombinierte Rechtsformen, vom Klassiker der GmbH & Co. KG bis zur »doppelstöckigen« GmbH & Co. KG, also einer Kommanditgesellschaft (KG), deren Komplementär eine GmbH & Co. KG ist, repräsentieren einen Domänenverbund aus mehreren Rechtsformen. Das dadurch geschaffene Komplexitätspotenzial soll es ermöglichen, die durch die konfliktären Zielsetzungen der Haftungsbeschränkung, Einflusssicherung und Steuersenkung (aufgrund von Gemeinnützigkeit) generierte Komplexitätslast zu bewältigen. Analog erfordert die Komplexität von Leistungskonfigurationen aus Gerät und Zubehör ein Komplexitätspotenzial in Gestalt einer Plug & Play-Kompatibilität, welche durch Schnittstellenstandards sichergestellt wird, z. B. Steckverbindungen oder USB-Verbindungen.
Die folgende Zusammenstellung von typischen Formen des Domänen-Nexus beginnt mit Beispielen von Fortführungsmustern. So pflanzen sich Verspätungen bei der Abarbeitung von Fahrplänen oder Netzplänen über die Domänen (Stationen oder Vorgänge) fort, sofern keine Puffer vorhanden sind. Big Data bildet das Ergebnis des Zusammenfügens von Datenbeständen aus mehreren Domänen, etwa Clickstreams, Bewegungsprotokollen und Kreditkartennutzung. Ein Multidomänen-Verbund charakterisiert alle verketteten Domänen entlang von Lieferketten (z. B. Regressketten), Instanzenwegen, Befehlsketten und Berichtssystemen. Auch Modelle der strategischen Stimmigkeit zwischen den Domänen Strategie, Geschäftsprozesse, Strukturen, Humanressourcen und Unternehmenskultur basieren auf einem Komplexitätsfit zwischen diesen Domänen (Reiss 2013, S. 161 f.).
Neben der domänenübergreifenden Komplexitätsfortpflanzung existiert auch ein bidirektionaler Kompensationsverbund. Sozusagen einen Kompensationsklassiker stellt hier das Portfolio-Management dar, wenn dort im Marktanteil-Marktwachstum-Portfolio gut kalkulierbare Geschäftsfelder (Cash Kühe) und schlecht kalkulierbare Fragezeichen gemischt werden. Ein weiterer Kompensationsverbund besteht bei der Gestaltung des Informationsgehalts. Je höher der Gehalt einer Information, desto höher auch deren Unsicherheit, etwa das Falsifikationsrisiko. Dieser Komplexitätslast steht die informatorische Fundierung gegenüber, z. B. die Belege für die Gültigkeit der Information, die als Komplexitätspotenzial dienen. Der Informationsgehalt ergibt sich aus den beiden Domänen »Spezifikationsgrad« (z. B. Stringenz, Präzision) und »Extension« (Geltungsbereich). Angesichts der zu einem bestimmten Zeitpunkt begrenzten informatorischen Fundierung sind nur Kombinationen von hoher Spezifikation und geringer Extension oder von geringer Spezifikation und weiter Extension zulässig. Diese Kombinationen ergeben einen konstanten Informationsgehalt: Strategische Pläne kombinieren beispielsweise eine weite Extension (z. B. Langfristigkeit) mit einer geringen Spezifikation (z. B. Grobplanung). Umgekehrt sind operative Pläne durch einen hohen Spezifikationsgrad (Detailplanung) und geringe Reichweite (z. B. Kurzfristigkeit) gekennzeichnet. In einem Planungssystem aus mehreren Planungsebenen (strategische, taktische und operative Planung), in einer Unternehmenshierarchie oder zwischen Normen auf der globalen, regionalen und nationalen Normierungsebene (ISO, EN, DIN) repräsentiert jede Ebene eine Domäne. Zwischen den Planungs- oder Regelungsebenen besteht insofern ein Kompensationsverbund, als die fehlende Stringenz der strategischen Grobplanung durch eine operative Feinplanung (für eine kurze Frist) ausgeglichen wird.
Eine besondere Herausforderung für das ganzheitliche Komplexitätsmanagement stellen unklare Beziehungen zwischen Domänen dar. So beinhalten beispielsweise Multikanal-Vertriebssysteme mehrdeutige Beziehungen zwischen den Kanaldomänen. Dabei unterschätzt das traditionelle Modell der Channel Competition die faktische Komplexität: Tatsächlich sind etwa zwischen Ladenvertrieb und Online-Vertrieb hybride koopkurrente Verbundbeziehungen typisch. Auch der Verbund zwischen Elementenkomplexität und Relationenkomplexität ist selbst komplex, weil mehrdeutig: Strittig ist beispielsweise, wie sich die Anzahl und Vielfalt von Elementen (z. B. Unternehmen in einem Supply Network) in der Anzahl und Vielfalt von Informations-, Waren- und Geldflüssen niederschlägt. Ebenfalls unklar ist, ob sich die Anzahl der Akteure in einem Netzwerk in einer höheren oder niedrigeren Netzwerkdichte niederschlägt, womit die Zahl faktischer zur Zahl möglicher Beziehungen gemeint ist. Analog gehen einige Modelle der Oligopoltheorie davon aus, dass sich auf Oligopolmärkten nur wenige enge Beziehungen mit einer hohen Reaktionsverbundenheit (Preisreagibilität) oder einer hohen Kollusionsneigung herauskristallisieren.
Ganzheitlichkeit aufgrund des Domänen-Verbund muss nicht bedeuten, dass präventive Maßnahmen zur Begrenzung des Domänen-Verbunds automatisch ausgeklammert sind. Risikoseitig will man etwa unterbinden, dass sich Störungen und Risiken in Netzwerken ausbreiten. Um also die Resilienz des Netzwerks sicherzustellen, werden Schnittstellen abgebaut und Barrieren aufgebaut, wodurch diese Komplexitätslasten auf wenige Domänen eingegrenzt werden.