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1.1.2 Standort von Komplexitätsmodellen

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Der Komplexitätsansatz beruht auf einer Differenzierung zwischen der inhaltsfokussierten Modellierung von Sachverhalten einerseits und der formal-komplexitätsfokussierten Modellierung andererseits. Die inhaltsfokussierte Modellierung eines Unternehmens erfolgt beispielsweise anhand von spezifischen Merkmalen wie Marken, Rechtsform, Belegschaft, Unternehmenskultur und Vergütungsformen. Ein zentraler Bestandteil der inhaltsfokussierten Modellierung ist darüber hinaus die Festlegung von Ziel- und Performancegrößen, etwa angestrebter Gewinn, Kundennutzen oder Nachhaltigkeit (Hamann et al. 2013). Vor allem die Systemtheorie hat uns mit der formalen Modellierung vertraut gemacht: Dort basiert ein formales Bild von einem Unternehmen auf generischen Merkmalen wie Elemente und Relationen, Tendenzen zu Gleichgewichten (aufgrund der Existenz von »Attraktoren«) sowie auf Mehrebenen-Architekturen aus Supersystem, System und Subsystemen. Noch deutlicher komplexitätsfokussiert ist die Gegenüberstellung von mechanistischer und organischer Funktionsweise von Unternehmen (Reiss 2013, S. 21). Hier greift man auf Komplexitätsmerkmale wie Zahl der Hierarchie-Ebenen, Größe von Organisationseinheiten, Standardisierungsgrad, Formalisierungsgrad und Interaktionsintensität zurück.

Folgende Beispiele dienen der anschaulichen Gegenüberstellung von inhalts- und komplexitätsfokussierter Modellierung: Die Verfahren der Arbeitsbewertung sind insofern komplexitätsfokussiert, als sie inhaltlich sehr unterschiedliche Tätigkeiten anhand eines einheitlichen Katalogs von generischen Anforderungen beurteilen. Hierbei handelt es sich um generische Konstrukte und Begrifflichkeiten, die einheitlich auf beliebige Bereiche angewendet werden können und auf diesem Weg eine Vergleichbarkeit der Modelle sicherstellen. Rankings wie beispielsweise die Forbes Liste, Fortune 500 oder ABC-Analysen basieren auf inhaltlichen Kriterien (z. B. Vermögen, Umsätze). Aus komplexitätsfokussierter Sicht gilt das Interesse lediglich dem Skalenniveau der zugrundeliegenden Messskalen oder der Anzahl der aufgenommenen Rankingobjekte. »Lernen« ist aus komplexitätsfokussierter Sicht eine Veränderung im Verhaltensrepertoire oder Wissensbestand, berücksichtigt jedoch nicht die konkreten Lerninhalte. Sogenannte Rebound-Effekte erfassen die Tatsache, dass beispielsweise Energie, die effizienter produziert und billiger angeboten wird, zu einer erhöhten Nachfrage und Nutzung führt, wodurch der angestrebte Einsparungseffekt nicht zustande kommt. Die inhaltsfokussierte Modellierung deckt hierbei die technische Effizienzsteigerung und die umweltschädliche Preiselastizität der Nachfrage ab. Die komplexitätsfokussierte Modellierung informiert lediglich über die Diversität des Nachfrageverhaltens, d. h. ob die Einsparungen für einen Mehrkonsum derselben Energieform (direkter Rebound) oder anderer Güter (indirekter Rebound) verwendet werden. Darüber hinaus lässt sich aus der Komplexitätsperspektive der unerwartete und paradoxe Zusammenhang zwischen einem umweltfreundlichen Angebotsverhalten und einem umweltschädlichen Nachfrageverhalten diagnostizieren.

Sogenannte Cafeteria-Systeme im Anreizmanagement werden inhaltsfokussiert durch die jeweiligen Anreizbausteine gekennzeichnet, etwa Einkommen jetzt oder später als Rente (Deferred Compensation) bzw. mehr Entgelt oder mehr Freizeit. Aus der Komplexitätsperspektive interessiert lediglich das Flexibilitätspotenzial, d. h. die Wahlmöglichkeiten zwischen Anreizen innerhalb eines Gesamtbudgets von Anreizen, die es in weniger komplexen Anreizsystemen nicht gibt. Im Vordergrund einer komplexitätsfokussierten Competitor Intelligence steht beispielsweise die Berechenbarkeit des Wettbewerberverhaltens und weniger der Inhalt der jeweils praktizierten Wettbewerberstrategie, z. B. Kostenführerschaft oder Differenzierung. An Fixkosten interessiert den komplexitätsfokussierten Controller nicht die Kostenhöhe, sondern nur das atypische Verhalten der Kosten gegenüber sich verändernden Kosteneinflussgrößen. Im Mittelpunkt der Bewertung von Informationen steht inhaltlich der pragmatische Informationsgehalt (z. B. Entscheidungsrelevanz), bei der komplexitätsfokussierten Modellierung hingegen der semantische Informationsgehalt, etwa Aktualität, Präzision, Geltungsbereich und Eindeutigkeit.

Analog lassen sich Verkehrssysteme inhaltlich etwa anhand von Verkehrsmitteln, also Automobilen, Schiffen, Flugzeugen oder Drohnen modellieren. Die formal-komplexitätsfokussierte Charakterisierung erfolgt anhand der Vielfalt von Verkehrsmitteln (multimodaler Verkehr) oder deren hybrider Kombination (z. B. Kombiverkehr). Die Qualifikation von Mitarbeitern wird inhaltlich anhand von Ausbildungsgängen, Berufsbildern oder Fach-, Interaktions- und Methodenkompetenzen bestimmt. Ein komplexitätsfokussiertes Qualifikationsmodell erfasst primär die Breite und die Tiefe der Fähigkeiten: Sie erlauben eine Differenzierung der Qualifikationsprofile eines Generalisten (z. B. Allgemeinmediziner, Hausmeister, Zehnkämpfer, »Mädchen für alles«) von dem eines Spezialisten oder von der hybriden T-Qualifikation, die sich aus einer breiten generalistischen Qualifikation und einer engen spezialisierten Vertiefung zusammensetzt.

Eine sehr verbreitete komplexitätsfokussierte Modellierung des Umsystems von Unternehmen arbeitet mit den Komplexitätsmerkmalen »dynamisch (turbulent) versus stationär« oder »transparent versus intransparent«. Die inhaltliche Modellierung basiert demgegenüber auf den sogenannten PESTEL-Domänen, also spezifische Wettbewerber, Gesetze oder Technologien. In ähnlicher Weise lassen sich Netzwerke komplexitätsfokussiert anhand der Vielzahl und Vielfalt von Knoten und Kanten charakterisieren, wobei direkte und indirekte Beziehungen bzw. formelle (transparente) und informelle (intransparente) Beziehungen unterschieden werden (Easley/ Kleinberg 2010). Im Rahmen einer inhaltlichen Modellierung geht es demgegenüber etwa um die Beschaffenheit der jeweiligen Beziehungen (z. B. Kommunikation, Transaktionen, Likes, Sympathie, Verwandtschaft) und der Knoten. Sie erlauben eine Unterscheidung zwischen Personennetzwerken (z. B. Familien, Vereine, Berufsverbände), Unternehmensnetzwerken (z. B. Franchise-Systeme, Kartelle), Verkehrsnetzen, Computer-Netzwerken und dem Internet. Organisierte Wettbewerbe lassen sich durch die Komplexitätsbrille formal anhand der Selektionsmechanismen (z. B. Rating durch eine Jury oder Gruppenphase und KO-Phase im Mannschaftssport), material hingegen anhand des besseren oder schlechteren Abschneidens der involvierten Akteure charakterisieren.

Wie erfolgreich das Arbeiten mit einem Plan B ist, hängt einerseits vom Inhalt des Plans ab. Aus der Komplexitätsperspektive geht es hingegen darum, dass man über zwei alternative Handlungsoptionen verfügt. Analog unterscheiden sich organisatorische »Zelte« (z. B. Projektteams) und »Paläste« (z. B. Abteilungen) durch ihre Aufgabenbeschreibung. Aus der Komplexitätssicht besteht der Unterschied eher in ihrer unterschiedlichen Einrichtungsdauer. Die inhaltliche Differenzierung zwischen Impfstoffen basiert auf den jeweiligen Rezepturen. Komplexitätsfokussiert steht etwa die trivalente oder die tetravalente Zusammensetzung im Vordergrund.

Allerdings ist zu beachten, dass es Überschneidungen zwischen inhaltlicher und komplexitätsfokussierter Modellierung gibt. Verantwortlich dafür zeichnet nicht zuletzt die implizite Komplexität von inhaltlich spezifizierten Konstrukten. So haben beispielsweise Preise eine implizite Komplexität, weil sie als Knappheitsindikatoren fungieren, d. h. die Relation zwischen den beiden Komplexitätsmerkmalen »Nachfragemenge« und »Angebotsmenge« erfassen. Auch mehrere Erscheinungsformen der sogenannten »Syndrome des globalen Wandels« weisen ein hohes Maß an impliziter Komplexität auf. Das gilt beispielsweise für das Dust Bowl-Syndrom (dominante Symptome: Bodendegradation und Wasserkontamination) im Gefolge einer industrialisierten Landwirtschaft, die u. a. durch die Komplexitätsmerkmale »Monokulturen« und »hochintensiver Einsatz von Düngemitteln und Bewässerung« geprägt ist. Auch das Bricolage-Konzept, also die Entwicklung von Problemlösungen ausschließlich mit vorhandenen Ressourcen, ist insofern implizit komplexitätsfokussiert, als es einen sparsamen Umgang mit Ressourcen beinhaltet (Duymedjian/ Rüling 2010). Analog besitzen inhaltlich spezifizierte Bedrohungen wie z. B. ein »aggressives« Wettbewerberverhalten eine implizite Komplexität in Form von Größenasymmetrie, Überraschung, sogenannten Credible Threats oder transparenzmindernden Aktivitäten: Hierzu zählt etwa ein desinformierendes Signaling des Wettbewerbers in Gestalt einer Ankündigung von Patentanmeldungen, die tatsächlich nicht stattfinden. Begrifflichkeiten wie »Gratwanderung« oder »Drahtseilakt« besitzen insofern eine implizite Komplexität, als sie die Abwesenheit von (komplexitätsminderndem) Spielraum und von Fehlertoleranz zum Ausdruck bringen. Bei zahlreichen inhaltlichen Konstrukten wie z. B. Intelligenz, Macht, Betriebsklima oder Infrastruktur besteht die Komplexität in deren Mehrdimensionalität.

Zwischen inhaltlicher und komplexitätsfokussierter Modellierung existieren nicht nur Überschneidungen, sondern auch gestaltete Kombinationsformen. Sie folgen entweder einem sukzessiven oder einem simultanen Kombinationsmuster. Die sukzessive Kombination vollzieht sich über Prozesse der Abstraktion und Konkretisierung mit den drei Etappen (1) inhaltsfokussiertes Ausgangsmodell, (2) komplexitätsfokussiertes Modell (via Abstraktion) und (3) inhaltsfokussiertes Modell (via Konkretisierung). Beispielhaft lässt sich die sukzessive Kombination anhand der Transaktionskostentheorie illustrieren (Williamson 1979; Ebers/ Gotsch 2014). Die komplexitätsfokussierte Abstraktion von Transaktionen, gleichgültig also ob es sich inhaltlich um »Ware gegen Geld«, »Ware gegen Ware«, um Finanztransaktionen bzw. um legale oder illegale Transaktionen handelt, erfolgt in der Transaktionskostentheorie anhand von Komplexitätsmerkmalen wie Spezifität, Häufigkeit, Unsicherheit und Instabilität (Reiss 2013, S. 140). Anschließend erfolgt eine inhaltliche Charakterisierung der Transaktion, meist anhand der verursachten Transaktionskosten. Analog wird »Krise« komplexitätsfokussiert anhand von Wende, Überraschung und Instabilität charakterisiert. Inhaltlich wird Krise hingegen durch die existenzgefährdenden Wirkungen konkretisiert. Auch das Konzept der kritischen Werte (z. B. Gewinnschwellen, Preisgrenzen oder Wachstumsschwellen) veranschaulicht eine Facette der sukzessiven inhalts- und komplexitätsfokussierten Modellierung: Dabei fungieren vorgegebene inhaltliche Zielvariablen als Orientierungsrahmen für die Bestimmung von komplexitätsfokussierten kritischen Werten, etwa Gewinnschwellen. Wie aus der Break Even-Analyse bekannt, handelt es sich bei kritischen Werten um Komplexitätsmerkmale, z. B. Mengen, aber auch Abweichungen, Schäden (z. B. im Rahmen der FMECA: Failure Modes, Effects and Criticality Analysis) oder Wachstumsraten. Ihre jeweilige kritische Ausprägung wird durch inhaltliche Zielgrößen bestimmt, bei der Break Even-Analyse durch Umsätze und Kosten.

Die sequenzielle Einbettung in die inhaltliche Modellierung verdeutlicht einerseits, dass Komplexitätsorientierung keinen Selbstzweck darstellt, sondern nur ein Hilfsmittel in Gestalt einer »heuristischen Vorsteuerungsphase«. Zugleich wird deutlich, dass es sich bei der komplexitätsfokussierten Modellierung um einen Umweg handelt. Diese offensichtliche Komplexitätssteigerung wirft die Frage nach dem heuristischen Wert eines solchen Umwegs auf. Sie stellt sich ähnlich auch bei anderen zwischengestalteten Abstraktionsprozessen, etwa beim Data Mining, Text Mining und Visual Mining oder bei Verfahren zur Mustererkennung in Zeitreihen. Der Nutzen besteht vornehmlich in der verbesserten Identifikation von generischen Erklärungsfaktoren bzw. Erfolgsdeterminanten. Es handelt sich ähnlich wie im Systemansatz um standardisierte, generische Merkmale. Für die wirkungsorientierte Bewertung dieser Merkmale liegen also zahlreiche Evidenzen und Erfahrungswerte vor. So zeichnet sich beispielsweise die Sharing-Economy durch generische Komplexitätsmerkmale wie höheren Nutzungsgrad von Ressourcen, reduzierten Ressourcenverbrauch oder die mehrdeutige Zurechnung von Kosten auf die individuellen Nutzer in einer Sharing-Community aus. Sie müssen inhaltlich konkretisiert werden, je nachdem ob es sich um ein Car Sharing, eine sogenannte Fractional Ownership (Eigentum an selten genutzten teuren Assets), einen Maschinenring (z. B. Landmaschinen) oder ein Wissens-Sharing in Wissens-Communities bzw. im Peer-Coaching handelt.

Ein zweites Kombinationsmuster zwischen inhaltsfokussierter und komplexitätsfokussierter Modellierung ist die Simultan- oder Parallelkombination. Hierbei erfolgt parallel eine sich ergänzende Modellierung anhand formaler und inhaltlicher Bausteine. Werden beispielsweise in einem Erklärungsmodell nebeneinander komplexitätsfokussierte und inhaltsfokussierte Ursachen oder Wirkungen herangezogen, liegt eine gemischte Gesamtmodellierung vor: So wird zum Beispiel der Arbeitswert in der Arbeitsbewertung anhand von inhaltlichen Anforderungen und von komplexitätsfokussierten Anforderungen wie z. B. der Neuartigkeit der Aufgaben ermittelt. Nach derselben Logik lassen sich Umsatzeinbußen z. B. parallel durch inhaltsfokussierte Qualitätsprobleme und durch eine komplexitätsfokussierte Volatilität der Nachfrage erklären. Ist beispielsweise von »volatilen Aktienkursen« die Rede, fungiert Komplexität als zusätzliche formale Spezifikation. Modellansätze wie Leadership 4.0 oder Arbeitswelt 4.0 bezeichnen eine inhaltliche Domäne und bringen zugleich den dort stattfindenden komplexitätssteigernden Wandel zum Ausdruck. »Fixkosten« spezifizieren zugleich ein inhaltlich bestimmtes Kostenniveau und zusätzlich komplexitätsfokussiert ein komplexes, weil untypisches Kostenverhalten. Das Komplexitätsattribut »unecht« in »unechte Gemeinkosten« weist darauf hin, dass es sich tatsächlich um Einzelkosten handelt. Manchmal werden inhaltsfokussierte und komplexitätsfokussierte Charakterisierungen als Alternativen nebeneinander gestellt: Anders als bei der klassischen Alternative »gute oder schlechte Nachricht« geht es dann um »Nachricht (Transparenz) oder keine Nachricht (Intransparenz)«. Je nach Ambiguitätstoleranz gibt es bei bestimmten Empfängern der Nachricht Präferenzen für die Beseitigung der Intransparenz, auch wenn das eine belastende, weil negative Information bedeuten kann.

Das Zusammenspiel von inhaltlichen und komplexitätsfokussierten Bausteinen soll grundsätzlich überschneidungsfrei angelegt sein, etwa wenn in Ursache-Wirkung-Modellen die Wenn-Komponente (z. B. Sicherheit von Transaktionen) komplexitätsfokussiert, die Dann-Komponente (z. B. Transaktionskosten) hingegen inhaltlich spezifiziert wird ( Kap. 1.3.4). Nach diesem Kombinationsmuster lässt sich z. B. das Phänomen »Reiche werden reicher« komplexitätsfokussiert durch Netzwerkkennzahlen wie z. B. die Konnektivität erklären: Konnektivität erklärt hier etwa, dass sich neue Netzwerkmitglieder am liebsten mit den vorhandenen Netzwerkknoten vernetzen, die bereits hochgradig vernetzt sind und durch die zusätzlichen Kontakte dann noch »reicher« (vernetzter) werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Parallelkombination von inhalts- und komplexitätsfokussierter Modellierung nicht in eine redundante Doppelerfassung mündet.

Vor allem bei quantitativer Erfassung von Komplexität und von Inhalt kommt eine multiplikative Verknüpfung in Betracht, sprich ein Produkt aus inhaltsfokussierten und komplexitätsfokussierten Bausteinen. Dies gilt beispielweise für Kosten- und Umsatzgrößen, die sich multiplikativ aus einem komplexitätsfokussierten Mengengerüst (mitunter auch Zeitgerüst) und einem inhaltlich determinierten Wertgerüst zusammensetzen. Grundsätzlich kommt diese formal-inhaltliche Mischung auch bei allen Erwartungswerten zur Anwendung, z. B. »nominale Verfügbarkeit mal Ausfallrate« oder »Niederschlagsmenge mal Niederschlagswahrscheinlichkeit«. Auch die Messung von Risiken basiert häufig auf einer multiplikativen Parallelkombination, bei der die Schadenswahrscheinlichkeit (Komplexitätsmerkmal) mit dem Schadensumfang (Inhaltsmerkmal) oder – wie beim Value at Risk – der Kurswert einer Aktie mit deren Volatilität multipliziert werden.

Das Wesen von Komplexität lässt sich schließlich auch dadurch konkretisieren, dass man eine Abgrenzung zu einem sehr ähnlichen inhaltsfokussierten Konstrukt vornimmt, das irrtümlicherweise oft mit Komplexität verwechselt wird: Gemeint ist die Abgrenzung von Schwierigkeit gegenüber Komplexität, spiegelbildlich von Leichtigkeit gegenüber Einfachheit. So ermitteln z. B. die Verfahren der Arbeitsbewertung primär den Schwierigkeitsgrad von Tätigkeiten, eher peripher auch dessen Komplexität, z. B. Neuartigkeit von Aufgaben oder Spielraum bei der Aufgabenerfüllung. Analog erweisen sich das Heben schwerer Gegenstände oder ein Belastungstest (Belastungs-EKG, Stresstest) als belastend, aber nicht unbedingt als komplex. In der Informatik wird die Aufgabenschwierigkeit durch die benötigte Rechenzeit (sogenannte »Polynomialzeit«) erfasst. Im Gesundheitswesen wird der Schwierigkeitsgrad beispielsweise durch Pflegegrade oder anhand der Abrechnung ärztlicher Leistungen mit dem Faktor 2,3 bzw. 3,5 definiert.

Für extreme Erscheinungsformen von Schwierigkeit werden Bezeichnungen wie Zwickmühlen, Intractability (Vallacher et al. 2010), Dilemmata, Wicked Problems (Ritchey 2005; Daviter 2017), Super Wicked Problems (Levin et al. 2012), Mission Impossible, Death Spirals, Rat Races (z. B. Aufrüstungswettlauf), Quadratur des Kreises oder mexikanisches Patt (Mexican Stand-off) verwendet.

Während es sich bei der Komplexität um ein formales Merkmal handelt, bezeichnet Schwierigkeit eine materiale Eigenschaft, die allerdings implizite Komplexität besitzt: Beim Rechenaufwand etwa ist es das Zeitgerüst (z. B. in Arbeitsstunden). Das gilt ganz offensichtlich auch für einen doppelten (komplexen) Appetenz-Aversions-Konflikt zwischen zwei Alternativen, von denen jede inhaltlich betrachtet sowohl positive als auch negative Seiten hat.

Mitunter korrelieren Komplexität und Schwierigkeit negativ, etwa im Fall von Umwegheuristiken oder schrittweisen Lösungsverfahren: Sie sind komplexer, verringern jedoch den Schwierigkeitsgrad der zu lösenden Aufgabe. In anderen Fällen verändern sich Schwierigkeit und Komplexität in dieselbe Richtung: So macht etwa die Verwendung von Fensterkuverts den Briefversand sowohl leichter als auch einfacher. Analog sind sogenannte einfache Regeln (»Simple Rules«) einzustufen, die sowohl leicht verständliche und leicht umzusetzende als auch implizit wenig komplexe Regeln darstellen (Davis/ Eisenhardt/ Bingham 2009; Bingham/ Eisenhardt 2011; Sull/ Eisenhardt 2016, S. 7 ff.). Umgekehrt ist eine (einfache) Gründungsfinanzierung ausschließlich via Selbstfinanzierung (sogenanntes Bootstrapping) beispielsweise schwierig, weil der Markt das Angebot des betreffenden Start-ups erst verzögert annimmt, so dass keine Überschüsse erzielt werden können. Im Rahmen einer SWOT-Analyse zeichnen sich schwierige Bedingungskonstellationen durch das Vorhandensein von Bedrohungen und eigenen Schwächen, leichte hingegen durch Gelegenheiten und eigene Stärken aus. Ein komplexitätsfokussierter Zugang fokussiert nicht die einzelnen Inhalte, sondern die Mischungsanteile der gegensätzlichen Erfolgsdeterminanten.

Die Überforderung durch extrem schwierige gesamtgesellschaftliche Probleme (z. B. Finanzkrisen, Klimawandel, Flüchtlingsintegration, Pandemien) eignet sich als ein weiteres Illustrationsbeispiel. Der Schwierigkeitsgrad äußert sich komplexitätsseitig meist in einer Instabilität: So kommt es beispielsweise zu häufigen Neuwahlen, bei denen die nicht erfolgreiche Regierung abgewählt wird, weil sie beim Meistern der Probleme versagt hat. Das Modell der Achtsamkeit (Gärtner 2013) unterstützt die Handhabung schwieriger Aufgaben durch die Fokussierung auf Kernprobleme. Spiegelbildlich vermindert etwa der Bedienkomfort (z. B. Einhandregler, Einhebelmischer) die Schwierigkeit aufgrund von verminderter Komplexität. Analog lässt sich eine implizite Einfachheit auch in Konzepten wie Convenience, Gebrauchstauglichkeit oder Komfortzone nachweisen.

Ein erheblicher impliziter Komplexitätsanteil kennzeichnet die Modelle der Aufgabenkomplexität und Spielkomplexität (Hærem/ Pentland/ Miller 2015), vor allem in Gestalt der Komponentenkomplexität und dynamischen Komplexität sowie des Complex Problem Solving (Dörner/ Funke 2017, S. 6). Ganz analog unterscheiden sich das Single Loop-Lernen, Double Loop-Lernen und Triple Loop-Lernen nicht nur durch unterschiedliche Lerninhalte (also Aktivitäten, Regeln und Lernmethoden), sondern auch durch die Diversität der Lernmodalitäten ( Kap. 2.8.2).

Auch der Übergang von Extremalzielen auf Satisfizierungsziele (z. B. angemessener Gewinn statt maximaler Gewinn) macht die Zielerreichung leichter und mitunter auch einfacher. Ähnlich sind Folgerstrategien (etwa von Generika-Anbietern) im Vergleich zu Führerstrategien leichter umsetzbar, weil sie mit einem geringeren Investitionsvolumen einhergehen und implizit auch einfacher angelegt sein können. Unfertige Produkte (z. B. Bausätze für Regale, Beta-Versionen) und Dienste (z. B. Lieferung an Abholstationen oder frei Bordsteinkante) sind hingegen für Abnehmer insofern schwierig, als sie zur finalen Fertigstellung bzw. Logistik nicht ohne Ressourcen des Abnehmers auskommen.

Schließlich kann man Gemeinsamkeiten und Unterschied zwischen materialer Leichtigkeit und formaler Einfachheit auch anschaulich anhand des Konzepts der »einfachen Sprache« illustrieren, die mitunter auch als »leichte« Sprache bezeichnet wird. Die Aspekte der Einfachheit setzen sich zusammen aus geringer Vielzahl (Anzahl der Wörter im Wortschatz, Anzahl der Wörter in einem Satz: kurze Sätze), geringer Vielfalt (keine Fremdwörter, keine Fachwörter), Vermeidung von Vieldeutigkeit (keine interpretationsbedürftigen Idiome; Übersichtlichkeit durch Absätze) und wenig Veränderlichkeit, d. h. nur gleich bleibende Bezeichnungen mit konstanter Bedeutung. Demgegenüber wird die Leichtigkeit der Sprache erreicht, indem man negative Sprache und Zahlenangaben in Ziffern (statt in Worten) vermeidet und Bilder verwendet. Aus der Beschäftigung mit der Leichtigkeit bzw. Einfachheit der Sprache wird ein weiteres Element des Komplexitätskonstrukts erkennbar: Der Schwierigkeitsgrad und damit auch der Komplexitätsgrad können nicht absolut bestimmt werden, sondern nur in Abhängigkeit von den vorhandenen individuellen Sprachfähigkeiten sowie Übersetzungs- und Rechtschreibprogrammen.

Komplexitätsmanagement

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