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Kapitel 9

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Das kleine Tal zog sich in einem sanften Bogen durch das Gebirge. Seine

Hänge waren nicht besonders steil, doch immer wieder lösten sich Steine und

polterten hinab, wobei sie manchmal kleine Steinlawinen auslösten. Jedes

Mal hob Nedeam misstrauisch den Kopf und spähte um sich, ob das Geräusch

auf eine Gefahr hinwies. Er hatte seinen Bogen locker über den Sattelknauf

gelegt und hielt einen Pfeil bereit, so wie jeder gute Herdenhüter seine Waffe

bereithielt, wenn er seine Schutzbefohlenen bewachte. Der Fünfzehnjährige

hatte an diesem Tag schon einige Male über seine Herde geflucht, denn sie

verteilte sich über das gesamte Tal und suchte zwischen den Felsgruppen und

am Rand des Wasserlochs nach dem zähen, aber nahrhaften Gras der

Hochmark.


Fast hundert Wolltiere hatte Nedeam zu beaufsichtigen. Gestern waren es

noch genau einhundert gewesen, aber am Morgen hatte er ein gerissenes

Lamm gefunden. Der kleine Tierkadaver hatte am Rand des Tals in der Nähe

einiger größerer Felsen gelegen, und Nedeam hatte ihn nur flüchtig

untersuchen müssen, um die Todesursache bestimmen zu können. Es war

einer Raubkralle zum Opfer gefallen.


Eigentlich waren Raubkrallen typische Räuber der großen Ebenen, wo sie

in ihren kleinen Rudeln jagten. Doch hin und wieder zogen sie auch in die

Gebirge der Hochmark hinauf, obwohl das Nahrungsangebot hier nicht so

reichhaltig war. Meist waren es denn auch ältere und schwache Tiere oder

Einzelgänger, die ihr Rudel verloren hatten oder von ihm verstoßen worden

waren.


Nedeam hatte die Spuren der Krallen und der Zähne untersucht und

vermutete, dass der Räuber ein relativ junges Tier war. Vielleicht ein

Männchen, das reif genug war, sein eigenes Rudel zu gründen, und sich nun

auf der Suche nach Nahrung und einem paarungswilligen Weibchen befand.


Nedeam war vor Jahren sogar einmal einem großen Pelzbeißer begegnet

und hatte diese Begegnung nur mit Glück überlebt. Es wäre ihm fast lieber

gewesen, wenn der Räuber eines dieser Tiere gewesen wäre, denn die Spur

ihrer schweren Leiber ließ sich leichter verfolgen. Außerdem jagten

Pelzbeißer nur tagsüber und schliefen in der Nacht. Den Raubkrallen

hingegen war die Tageszeit gleichgültig. Wann immer sie Beute fanden,

belauerten sie diese und töteten sie.


Nedeam hatte das gerissene Lamm ausgenommen. Das Fleisch war zart

und gut, und aus dem kleinen Fell ließ sich Bekleidung fertigen. Schließlich

wurde in den Marken der Pferdelords nichts verschwendet.


Im Moment war Nedeam allein auf dem Gehöft. Seine Mutter Meowyn

und sein väterlicher Freund und Mentor Dorkemunt weilten in Eternas, viele

Tausendlängen entfernt. So trug Nedeam die ganze Verantwortung für die

kleine Herde. Er hatte sie zusammengehalten, so gut er es vermochte, aber die

einigermaßen flachen Hänge luden die Wolltiere förmlich dazu ein, sich auf

ihrer begierigen Suche nach gutem Futter zu verstreuen. Nedeam hatte sie

unermüdlich wieder zusammengetrieben, aber schließlich hatte er resigniert

geseufzt und die sturen Tiere ihrem eigenen Willen überlassen. Nur die

kühnsten Ausreißer trieb er nun noch zu den anderen zurück. Es war wohl

besser, sich auf die natürlichen Instinkte der Tiere zu verlassen. Wolltiere waren

Herdentiere und drängten sich bei Gefahr zusammen. Sie hatten gute Nasen

und witterten ein Raubtier auf große Entfernung, wenn der Wind günstig

stand und den alarmierenden Geruch zu ihnen herantrug. Auch Nedeams

Pferd hatte eine gute Nase und ergänzte auf diese Weise den geschärften

Augensinn des Jungen, den er für den Fall brauchte, dass sich der Räuber

gegen den Wind anschlich.


Jetzt neigte sich der Tag, und die Schatten wurden länger, ohne dass

Nedeam die Fährte der Raubkralle entdeckt hätte. Vielleicht war sie längst

weitergestreift, doch Nedeam spürte, dass sie noch in der Nähe war und

hungrig darauf lauerte, erneut zuzuschlagen.


Aber irgendwann würde Nedeam schlafen müssen. Er konnte seine Augen

nicht die ganze Nacht offen halten, denn seit Tagen war er allein und hatte

nicht mehr richtig geschlafen. Auch diese Nacht würde er nicht in seiner

Bettstatt verbringen, sondern auf dem harten Boden der Hochmark.


Nedeam prüfte die Windrichtung und suchte nach einer günstigen Stelle

für seinen Lagerplatz. Zwischen zwei niedrigen Felsen, die etwas Schutz vor

Wind und Sicht boten, wurde er fündig. Jeder gute Pferdelord wählte sein

Nachtlager mit Bedacht, denn man wollte sich nicht im Schlaf von einem

Räuber überraschen lassen, mochte er nun zwei oder mehr Beine haben.

Während Nedeam schlief, würde sein Pferd für ihn Wache halten.


Nedeam schob die größeren Steine zur Seite, ebnete den Boden, so gut es

ging, und breitete seine Decke darüber. Dann nahm er Wasserflasche und

Provianttasche von seinem Pferd und klopfte diesem anerkennend auf die

Flanke. Der Hengst schnaubte leise und trabte dann zum Wasserloch hinüber,

um seinen Durst zu stillen und selber ein wenig von dem Gras zu zupfen. Viel

hatten die Wolltiere nicht übrig gelassen. Aber auch in Nedeams Provianttasche

fand sich kaum noch etwas. Morgen würde er die Wolltiere in ein anderes Tal

treiben müssen und bei der Gelegenheit auf dem Gehöft seine Vorräte

auffüllen.


Er aß etwas Brot und Wolltierkäse, dazu ein paar Trockenfrüchte, dann legte

er Bogen und Pfeilköcher griffbereit neben sich und hüllte sich in den langen

grünen Umhang. Er war so müde, dass er fast augenblicklich einschlief.


Nedeam erwachte, als der Hengst leise schnaubte und mit dem Kopf sanft

an seine Füße stieß. Der junge Pferdelord war schlagartig wach und spürte die

Gefahr, die sein Pferd zuerst bemerkt hatte. Nedeam sah zu seinem Reittier,

dessen Kopf mit geblähten Nüstern in eine bestimmte Richtung wies. Der

große braune Hengst mit dem lang gezogenen weißen Fleck auf der Stirn war

gut ausgebildet und kampferfahren. Nedeam vertraute auf Stirnflecks Instinkt.

Er nahm den Bogen, zog drei Pfeile aus dem Köcher und erhob sich lautlos.

Vorsichtig spähte er über einen der Felsen hinweg in die Richtung, in die

Stirnfleck witterte.


Die Nacht war nicht ganz sternenklar. Immer wieder schoben sich Wolken

vor Mond und Sterne, und die Schatten gaukelten Bewegung vor, wo keine

war. Nedeams Blick suchte Talboden und Hänge nach den lang gestreckten,

schlanken Umrissen einer Raubkralle ab, welche sich beim Anschleichen an

die Beute üblicherweise tief zu Boden duckte.


Dann entdeckte er den Räuber. Es war tatsächlich ein junges Tier, nicht

besonders groß, sogar kleiner als ein ausgewachsenes Wolltier, aber dennoch

war es tödlich. Die Raubkralle stand starr auf dem Hang, und nur die

Bewegungen ihres Kopfes und das nervöse Zucken des langen Schwanzes

verrieten, dass Leben in dem Körper war.


Nedeam war ein guter Bogenschütze, einer der besten, wie man sagte.

Aber das wechselhafte Licht und die Entfernung ließen keinen sicheren

Schuss zu. Er entschloss sich zu warten, bis das Raubtier näher kam, dann

bemerkte er, wie die Raubkralle zu ihm hinübersah, und blickte rasch zur

Seite. Niemals einem Ziel in die Augen sehen, hatte Dorkemunt ihm

eingeschärft. Es könnte spüren, dass man es ansah, die Gefahr erahnen und zu

fliehen versuchen. Oder es könnte angreifen.


Genau das tat die Raubkralle nun. Sie griff an, was Nedeam überraschte,

denn es war ungewöhnlich, dass ein Räuber es riskierte, verletzt zu werden.

Es musste ein unerfahrenes Tier sein, und sicher war ihm noch kein

Pferdelord mit Nedeams Fähigkeiten begegnet.


Nedeam blickte der heranschnellenden Raubkralle entgegen und fand

sogar noch Zeit, die Anmut ihrer Bewegungen zu bewundern, während er

seinen Bogen in Position brachte. Er wartete, bis die Raubkralle wieder mit

einem langen Satz vorschnellte und sich ihr Leib für einen Moment über den

Boden hob, dann löste er den Pfeil. Und während dieser noch durch die Luft

zischte, legte er schon den zweiten an den Bogen.


Aber er brauchte ihn nicht mehr. Die Raubkralle überschlug sich in vollem

Lauf und prallte schlaff auf den Boden. Der leblose Körper rutschte noch ein

Stück über die Steine und blieb dann liegen. Mit schussbereitem Bogen trat

Nedeam hinter dem Felsen hervor und ging vorsichtig auf das Tier zu. Doch

die Raubkralle war unbestreitbar tot.


Nedeam schnitt seinen Pfeil aus dem Kadaver, denn es war ein guter Pfeil

mit geradem Schaft, glatter Befiederung und einer scharfen Spitze, die von

Guntram, dem Schmied, gefertigt worden war. Dass es ein Jagdpfeil und kein

Kriegspfeil war, erkannte man an der Stellung der Spitze zur Befiederung.

Die Rippen eines Tieres verliefen zumeist senkrecht, und so stand auch die

Spitze eines Jagdpfeils senkrecht auf den Federn, um leichter zwischen den

Rippen hindurchdringen zu können. Die Rippen eines Menschen oder Orks

dagegen verliefen zumeist waagrecht. Es gab auch Pfeile mit kegelförmigen

Spitzen, die für beide Zwecke geeignet waren, aber Nedeam schätzte sie nicht

besonders. Sie waren spitz und dünn und rissen zu kleine Wunden. Der

Getroffene verblutete nicht so rasch, und war der Schuss nicht auf Anhieb

tödlich, konnte das Opfer fliehen oder sogar noch Rache nehmen.


Der junge Pferdelord zückte seinen Dolch und begann den Räuber zu

häuten. Leider war das Fleisch einer Raubkralle nicht besonders schmackhaft,

im Gegensatz zu dem eines Pelzbeißers. Aber ihr weiches, dichtes Fell war

begehrt, und auch wenn diese hier nicht besonders groß war, so würde

Nedeam in Eternas dennoch einen guten Gegenwert dafür erhalten. Als er

fertig war, verscharrte er den Tierkörper, nahm das Fell und legte sich wieder

schlafen. In dieser Nacht würde seine Ruhe wohl nicht noch einmal gestört

werden.


Als der Morgen anbrach, erwachte Nedeam und freute sich darauf, endlich

wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht würde er die Wolltiere eine Weile am

Gehöft grasen lassen, denn er musste das Fell schaben und es von

Fleischresten befreien, sonst würde es verderben. Vielleicht ergab sich auch

die Gelegenheit, eine Weile auf der Bettstatt zu ruhen. Nedeam war sich nicht

sicher, ob er das verantworten konnte, aber als er schließlich das Gehöft

erreichte und beim Betreten der Schlafkammer seine Bettstatt erblickte, war

jeder Zweifel verflogen.


Man nannte es noch immer Balwins Gehöft, obwohl Balwin vor mehr als

drei Jahreswenden von den Orks getötet worden war und der Hof nun

Meowyn gehörte. Doch da Meowyn als Heilerin in Eternas lebte, führte ihr

Sohn Nedeam nun den Hof mitsamt der Wolltierzucht, und Dorkemunt, der

kleinwüchsige Pferdelord, half ihm bei Kräften an des Vaters Stelle.

Dorkemunt hatten Nedeam kennengelernt, als der damals Zwölfjährige allein

durch die Nordmark der Pferdelords streifte. Nedeam war auf der Suche nach

dem Beritt des Pferdefürsten Garodem gewesen, doch hatte er nur Tod und

Verwüstung vorgefunden, die marodierende Orks über das Land brachten.

Mit Glück und Instinkt hatte der Junge überlebt und war dann auf Dorkemunt

getroffen. Zusammen mit den Pferdelords des Königs waren sie gerade

rechtzeitig in die Hochmark zurückgekehrt, um den Fall von Eternas zu

verhindern. Nedeam war die ungewöhnliche Ehre zuteilgeworden, im

knabenhaften Alter von zwölf Jahren in die Riege der Pferdelords

aufgenommen zu werden. Eigentlich war dies erst möglich, wenn man das

sechzehnte Jahr erreicht hatte.


Dorkemunt war froh, dass die letzten Jahre in Frieden vergangen waren. Er

kannte Nedeams Temperament, und der kleine Bursche hätte sich kaum

aufhalten lassen, wenn der Pferdefürst erneut die Losung gegeben hätte.

Selbst jetzt fand Dorkemunt den Jungen noch viel zu zierlich, um als Kämpfer

in die Schlacht zu ziehen. Es fehlte ihm gewiss nicht an Körpergröße,

schließlich war auch Dorkemunt selbst nicht gerade ein Hüne. Und auch an

Mut mangelte es Nedeam nicht, doch fehlte ihm die Kraft, eine ordentliche

Streitaxt oder die Stoßlanze zu führen.


Dorkemunt hatte sich mit widerstreitenden Gefühlen zu Balwins Gehöft

aufgemacht, denn was er für Nedeam vorsah, würde er in langwierigen

Diskussionen verteidigen müssen. Nicht unbedingt gegenüber dem Jungen,

sondern gegenüber Meowyn, Nedeams hübscher Mutter. Ja, Meowyn gefiel

ihm über alle Maßen, und wäre ihr Herz nicht so verschlossen gewesen, so

hätte Dorkemunt ihr wohl nach altem Brauch das Pferd gesattelt und um ihre

Hand angehalten. Sicher, er war reich an Jahren und Meowyn um so viele

Monde jünger, doch dafür war er auch reich an Erfahrung und galt als guter

Pferdelord.


Der kleinwüchsige Reiter trabte auf den Eingang der Schlucht zu, die in

eines jener vielen kleinen Gebirgstäler mündete, welche sich zahlreich in die

Landschaft der Hochmark kerbten. Zwei Tage dauerte für gewöhnlich die

Reise von der Stadt zu Balwins Hof. Auf seinem Ritt war Dorkemunt an

einzelnen Gehöften und einem Weiler vorbeigekommen. Schließlich sah er

den Hof vor sich liegen und nickte zufrieden, als er den Rauch eines

Dungfeuers aus dem Schornstein quellen sah. Nedeam war im Haus, und ihn

zu überzeugen würde die leichtere Aufgabe sein.


Unbewusst suchte der kleinwüchsige Pferdelord die Umgebung nach

einem Anzeichen von Gefahr ab. Von irgendwoher aus dem Tal ertönte das

Blöken der Wolltiere, und in der kleinen Koppel, die ein Stück vom Haus

entfernt lag, grasten die drei Pferde des Hofes. Dorkemunt erkannte

Stirnfleck, der den Kopf hochwarf und ihn gewittert zu haben schien. Er

schätzte den Hengst mit dem weißen Fleck, denn er war ein hervorragend

ausgebildetes Pferd und ein guter Kämpfer, wenn auch manchmal ein wenig

eingebildet. So schien er zu glauben, keine gewöhnliche Arbeit verrichten zu

müssen, und lahmte dann gerne, wenn man sie ihm abverlangte.


Hinter der Koppel plätscherte der kleine Gebirgsbach, der bis in das Tal

des Quellweilers führte, wo er in den Fluss Eten mündete. An dem Bachlauf

stand ein kleiner Verschlag, in dem man sich erleichtern konnte, ohne das

Haus mit unangenehmen Gerüchen zu füllen. Vor dem Zugang des

Verschlages hing ein Fell, das ein wenig half, die lästigen Flugstecher

fernzuhalten. Dorkemunt fragte sich, ob Nedeam während seiner

Abwesenheit darauf geachtet hatte, die Wolltücher auszuwaschen, die für die

persönliche Säuberung vorgesehen waren.


Als Dorkemunt die Tränke erreicht hatte, die unmittelbar vor dem Haus

stand, stieg er aus dem Sattel und ließ sein durstiges Pferd saufen, bevor er es

zum Grasen auf die Wiese schickte.


Das Haupthaus des Gehöfts war ungewöhnlich groß, denn Nedeams Vater

Balwin hatte zu jener Zeit, als lange und starke Balken in der Hochmark

selten gewesen waren, einen außerordentlich großen Baum gefunden, und so

maß das Gebäude fast fünf volle Längen. Es war, wie in der Hochmark

üblich, massiv aus Stein und Fels errichtet, und durch seine niedrige und lang

gestreckte Bauweise bot es genügend Raum und konnte zugleich den Stürmen

des Winters trotzen.


Dorkemunt schwang seine Streitaxt an die Schulter, pochte an die Tür und

trat ein.


Das Haus bestand aus dem eigentlichen Wohnraum und zwei abgetrennten

Kammern. Eine von ihnen hatten ursprünglich Balwin und Meowyn bewohnt,

doch nun nutzte Dorkemunt deren Bettstatt. Aus der anderen Kammer drang

vernehmliches Schnarchen, und der alte Pferdelord lächelte wohlwollend. In

seiner Abwesenheit bewirtschaftete Nedeam den Hof allein, und Dorkemunt

konnte nachvollziehen, dass der Junge hin und wieder von Müdigkeit

übermannt wurde. Er hörte das Knarren der Bettstatt, als Nedeam sich

bewegte, und nahm sich vor, die Schnürungen der Hölzer nachzuziehen.

Allmählich lockerten sie sich, vielleicht war eine von ihnen sogar angerissen,

und niemand schätzte eine Bettstatt, die des Nachts plötzlich nachgab.


Er warf einen Blick auf das dicke Wolltierfell, das Nedeams Kammer vom

Wohnraum abtrennte, und beschloss, den Jungen noch ein wenig ruhen zu

lassen. Dorkemunt stellte seine Streitaxt griffbereit neben die Tür, bevor er

sich auf die massive Holzbank setzte.


Als sein Blick auf die kleine Kochtruhe neben der Feuerstelle fiel, spürte

der kleinwüchsige Pferdelord plötzlich, wie hungrig er war. Er erhob sich

wieder, um Brot und Käse aus der Truhe zu holen, als er abermals das

Knarren der Bettstatt vernahm. Kurz darauf wurde das Wolltierfell

zurückgeschlagen, und Nedeam blickte verschlafen hervor.


»Schneller Ritt, junger Pferdelord«, begrüßte ihn Dorkemunt lächelnd.


»Hä?« Nedeam rieb sich schlaftrunken die Augen und schüttelte seinen

Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben.


Indessen ging der kleinwüchsige Pferdelord zur Truhe hinüber und öffnete

sie. Er nahm Brot und Käse heraus, hielt kurz inne und zog dann noch den

kleinen Sack mit getrockneten und gesalzenen Fleischstreifen hervor. »Wir

werden länger als drei Tage unterwegs sein«, sagte er beiläufig. »Pack für

zwei Zehntage.«


»Was redest du da, Dorkemunt?«, fragte Nedeam, während er blinzelnd

den Raum durchquerte und dann aus dem Haus trat, um sich an der

Pferdetränke das Gesicht zu waschen. »Sag mir lieber, ob du das neue

Schurmesser besorgt hast. Die alte Klinge ist schon wieder stumpf.«


»Ja, ich habe die neue Klinge«, erwiderte Dorkemunt, der Nedeam gefolgt

war und nun an der Einfassung der Haustür lehnte. »Eine gute Klinge von

Guntram, dem Schmied. Und ich habe dir sogar etwas Süßwurzel aus Eternas

mitgebracht. Die isst du doch so gerne.«


Nedeam richtete sich mit erfreutem Gesichtsausdruck auf, und Dorkemunt

sah ihn verschwörerisch an. »Aber du wirst nicht viel Zeit haben, sie zu

genießen. Den Eid gilt es zu erfüllen, junger Pferdelord.« Er breitete seine

Arme theatralisch aus. »So, nun eile, junger Pferdelord, denn der Pferdefürst

ruft dich zu den Waffen.«


Nedeam sah seinen Mentor überrascht an. »Ist das dein Ernst?«


Dorkemunt grinste breit. »Nun, es ist nicht direkt der Pferdefürst, der ruft,

sondern Larwyn, die Hohe Dame, doch die Losung gilt.«


»Und die Losung gilt mir?« Nedeam sah den alten Pferdelord mit großen

Augen an.


»Unter anderem«, bestätigte Dorkemunt. »Ah, ich weiß, du bist noch ein

wenig jung, aber ich habe Kormund überzeugen können, dass wir deiner

Dienste bedürfen.« Er drohte Nedeam schelmisch mit dem Finger. »So gering

sie auch sein mögen.« Er lachte kurz auf und wurde dann wieder ernst. »Aber

nun lass uns eilen. Kormund stellt einen Beritt auf, und der Eid muss erfüllt

werden.«


Dorkemunt konnte Nedeam gerade noch ausweichen, als dieser an ihm

vorbei ins Haus schoss und zu der großen, eisenbeschlagenen Familientruhe

stürzte, in der die Pferdelords neben anderen wertvollen Gegenständen auch

ihre Rüstung aufbewahrten. »Orks?«, fragte Nedeam aufgeregt, während er in

der Truhe zu wühlen begann. »Sind die Orks in der Mark?«


»Wir könnten ihnen durchaus begegnen, Nedeam.« Dorkemunt kniete sich

neben ihn. Er konnte die Aufregung des Jungen gut nachvollziehen. Es war

das erste Mal, dass Nedeam den Treueid der Pferdelords erfüllen sollte.

»Ihnen und Zwergen.«


Nedeam starrte ihn sprachlos an, und so schilderte ihm Dorkemunt, was

sich im Norden ereignet hatte. Unterdessen zogen sie Nedeams einfache

Rüstung hervor, und der junge Pferdelord begann aufgeregt, sich anzukleiden,

wobei er Dorkemunts Bericht immer wieder durch seine Fragen unterbrach.


Zunächst wurden die wollenen Beinkleider angelegt, die Beine und

Unterleib bedeckten. Sie wurden mit angenähten Schnüren an einem Gürtel

befestigt, der um den Leib getragen wurde. Dazu kam ein weites Hemd mit

rundem Ausschnitt und langen Ärmeln, das fast bis zu den Knien reichte.

Anschließend wurden die Reithosen aus feinem braunem Leder über die

Beinkleider gezogen und ebenfalls am Gürtel befestigt. Darauf folgte das

Wams. Es reichte bis an das Gesäß und bestand aus gutem Tuch. Im Sommer

wurde ein ungefüttertes Wams ohne Ärmel getragen, im Winter eines mit

langen Ärmeln und einem ledernen Überfutter. Je nach Neigung und Stellung

des Besitzers konnte das Wams auch Zierstickereien aufweisen.


»Fette die Stiefel und Fußlappen ordentlich ein«, riet Dorkemunt. »Der

Weg ist sicherlich beschwerlich, und Blasen sind ein rechtes Ärgernis.«


»Ja, schon gut, ich weiß es doch«, sagte Nedeam, und Dorkemunt musste

über den Eifer seines Freundes schmunzeln.


Aber es stimmte ja, er selbst hatte Nedeam ausgebildet, und der Junge

wusste, worauf es ankam.


Die Stiefel eines Pferdelords wurden mit Fett eingerieben, sodass sie dem

Wetter widerstanden und geschmeidig blieben. Zum Schutz der Füße wurden

diese in lange Tuchstreifen gewickelt, bevor man das Schuhwerk überzog.

Auch diese Tuchstreifen wurden gefettet, sodass sie die Haut der Füße nicht

wund rieben.


Zum ersten Mal legte Nedeam nun seine Rüstung an. Er verfügte ebenso

wenig wie Dorkemunt über einen Brustpanzer. Stattdessen streifte er ein

dickes Lederkoller über, wobei Dorkemunt ihm helfen musste, Brust- und

Rückenteil durch Riemen und Schnallen miteinander zu verbinden. Das dicke

Leder war mit einem Harz gehärtet, und in das Brustteil hatte Nedeam das

Symbol der Hochmark eingeprägt. Der grüne Rundschild Nedeams war blau

eingefasst und zeigte in weißer Farbe die Tatze eines Pelzbeißers. Nedeams

Großvater hatte einst einen dieser Räuber erlegt, und Nedeam selbst war

nahezu unbewaffnet einem anderen Exemplar entgegengetreten. Dorkemunt

fand, dass die Tatze durchaus ein passendes Symbol für den Jungen und

dessen Mut war.


An Waffen gürtete Nedeam einen kurzen Dolch und das Schwert seines

verstorbenen Vaters Balwin um. Er war noch nicht besonders geschickt im

Umgang mit dem Schwert, doch übte er fleißig und würde es bald

beherrschen. Mit dem Bogen hingegen war Nedeam schon jetzt ein

vortrefflicher Schütze. Nur die Stoßlanze bereitete Dorkemunt Sorge. Der

Junge konnte noch nicht genügend Kraft hinter die Lanze setzen, um die

dicke Rüstung eines Rundohrs zu durchstoßen.


Nedeam schlang sich den langen grünen Umhang der Pferdelords um die

schmalen Schultern und schloss die Spange mit den Pferdeköpfen vor seinem

Hals. Zuletzt setzte er den halbrunden Helm mit dem rotbraunen Lederbezug

auf den Kopf. Dorkemunt nickte zufrieden. »Du siehst wahrlich aus wie ein

Pferdelord, Nedeam, mein Freund. Nun lass uns reiten und beweisen, dass du

den grünen Umhang zu Recht trägst.«


Dorkemunt vergewisserte sich, dass die Glut der Feuerstelle erloschen war.

Die Wolltiere würden Futter und Wasser finden und sich bis zur Schur noch

etwas gedulden müssen. Die beiden so unterschiedlichen Pferdelords nahmen

die gefüllten Provianttaschen auf, gingen zur Tränke und füllten ihre

Wasserflaschen. Dann holte Nedeam seinen Hengst Stirnfleck aus der

Koppel, der vor Aufregung bereits schnaubte. Schließlich hängten sie ihre

grünen Schilde links an die Sättel und saßen auf.


Nedeam reckte sich stolz im Sattel, als sie ihre Pferde antrieben und das

Tal verließen. Zum ersten Mal in seinem Leben ritt er als Pferdelord einem

Kampf entgegen.

Die Pferdelords 02 - Die Kristallstadt der Zwerge

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