Читать книгу Die Pferdelords 02 - Die Kristallstadt der Zwerge - Michael Schenk - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеMan nannte das Königreich Alnoa nicht umsonst das Reich der weißen
Bäume. Nur hier wuchsen diese einzigartigen Bäume, deren Anblick
Lomorwin so faszinierte. Er war schon oft in dieses Land gereist und hatte sie
immer wieder betrachtet. Ihr Stamm war fast makellos weiß, von einigen
schwarzen Stellen abgesehen, und an ihren weit ausladenden Zweigen
sprossen tiefgrüne, spitz auslaufende Blätter, die sich im Herbst erst rot, dann
golden färbten, bevor sie schließlich abfielen. Doch selbst im Winter, wenn
kein Blatt die Bäume zierte, wirkten sie nicht so bedrückend kahl wie die
Stämme vieler anderer Laubhölzer. Zumindest nicht auf Lomorwin, der diese
Pflanzen liebte, besonders, wenn sich im Frühling neue Blätter an ihren
Zweigen zeigten und zartes Grün sich wieder über den weißen Stämmen zu
erheben begann.
Das Königreich von Alnoa war das älteste noch existierende Königreich
der Menschen. Ursprünglich hatte es sieben davon gegeben, doch im Laufe so
vieler Jahrtausende war ihre Macht allmählich erloschen. Einst waren sie ein
wehrhafter Bund gewesen und hatten der Dunklen Macht an der Seite der
Elfen getrotzt und sie niedergezwungen. Scheinbar niedergezwungen, denn
während die siegreichen Menschenstaaten sich dem Frieden hingaben und
ihre Wachsamkeit zu vernachlässigen begannen, rüstete die dunkle Seite
wieder auf und fand zu neuer Stärke. Als die Königreiche der Menschen von
Machtgier und Hochmut geschwächt und ihre Könige zerstritten waren,
erlagen sie schließlich dem Ansturm des Schwarzen Lords und seiner Orks.
Alnoa hatte standgehalten, auch dank der Hilfe der Elfenhäuser, doch es
hatte alle nur erdenkliche Kraft gekostet. Das letzte der sieben alten
Königreiche hatte schwer unter dem Ansturm der Horden gelitten und
schließlich den südlichen Teil seiner Besitzungen verloren. Doch noch immer
besaß Alnoa Macht, und es beherrschte ein großes Gebiet im Süden der
Marken der Pferdelords, das sich im Osten bis zu den Grenzen des dunklen
Landes und im Westen bis hin zum Meer erstreckte. Noch immer hielten die
Truppen Alnoas an den Grenzfesten die Standarte des Königreichs aufrecht.
Das Banner zeigte drei weiße Bäume auf grauem Grund, wobei die graue
Farbe für den gewaltigen Vulkankrater stand, auf dem die Hauptstadt Alnoas
errichtet war, und die drei weißen Bäume jene einzigartige Baumart im
Königreich Alnoa symbolisierten.
Einst standen die Ebenen voll dieser weißen Bäume, doch nun, nach so
vielen Jahrtausenden des alten Königreiches, war ihr Vorkommen auf wenige
Wälder geschrumpft. Allerdings waren auch diese wenigen Wälder noch
immer imposant. Die weißen Bäume standen mittlerweile unter dem Schutz
des Königs, aber es gab genug andere Wälder mit den überall vorkommenden
Nadelhölzern und Laubbäumen.
Alnoa bot den Menschen vielfältige Landschaften mit weiten Ebenen, die
vor allem entlang des gewaltigen Flusses Narquan reiche Ernten
hervorbrachten und die Bevölkerung mit den wichtigsten Nahrungsmitteln
versorgten. Hornvieh, Pferde und Wolltiere gediehen hier, und die Bergwerke an
den Ausläufern der Gebirge brachten reiche Erträge an Erzen. Der Reichtum
an Nahrungsmitteln und Rohstoffen befähigte die Menschen Alnoas, die
Legionen der Orks und die Übergriffe der Barbaren abzuwehren, aber er
brachte verlorenes Leben nicht zurück. Zu viele Menschen waren in all den
Jahren dem fortwährenden Krieg zum Opfer gefallen. Und auch wenn Alnoa
über viele Jahrhunderte wieder erstarkt war, so konnte es doch seine alte
Macht nie ganz zurückerlangen.
Dann, vor nunmehr vier Jahren, waren die Legionen der Orks
überraschend zurückgekehrt und bis an die Mauern der Hauptstadt Alneris
gebrandet.
Das erneuerte Bündnis der Elfen mit den Menschen hatte die Stadt gerettet,
und Alnoa gedachte nun jedes Jahr der aufopfernden Attacke der Pferdelords,
deren furchtloser Angriff den Sieg ermöglicht, aber auch den König der
Pferdelords das Leben gekostet hatte. Mit den Jahren war so ein festes
Bündnis zwischen den Marken der Pferdelords und dem Königreich Alnoa
entstanden, das von gegenseitigem Respekt getragen wurde. Doch obwohl
beide Völker gleichermaßen Menschen waren, blieben die Pferdelords und
die Bewohner Alnoas einander auf seltsame Weise fremd. Waren die einen
ein Reitervolk, das noch immer seinem nomadischen Ursprung folgte,
bildeten die Menschen Alnoas ein dem Stadtleben verbundenes Volk, das sich
der Kunst und Kultur widmete. Handwerk und Technik hatten bei ihnen einen
Stand erreicht, der dem der Pferdelords weit überlegen war. Diese
Entwicklung ermöglichte es, dass kaum zwanzig Prozent der Bevölkerung auf
dem Land lebte und den Rest ernähren konnte. Sinnbild dieser überragenden
Technik war die gewaltige Hauptstadt Alnoas, die weiße Stadt Alneris.
Lomorwin hatte sich immer den Pferdelords zugehörig gefühlt, auch wenn
er nie deren grünen Umhang getragen hatte. Zeit seines Lebens hatte er
Handel getrieben, wie schon sein Vater vor ihm. Zunächst mit einem kleinen
Laden in Eodan, der Hauptstadt der Nordmark, welchen er von seinem Vater
übernommen hatte. Doch dann hatte es ihn hinausgezogen, und er war von
Stadt zu Stadt, von Weiler zu Weiler gereist. Dabei hatte er die Bedürfnisse
der Menschen erkannt und sie mit seinen Waren zu stillen vermocht. Er war
ein erfolgreicher Händler und betrieb inzwischen Handelsposten in allen
Hauptstädten der Marken. Sogar in Alneris hatte er sich etablieren können. Er
hätte sich längst bequem niederlassen und die Geschäfte anderen überlassen
können, aber er fühlte sich immer noch jung genug, um selbst
hinauszuziehen, was er auch gerne tat. So hatte er Dinge mit den eigenen
Augen gesehen und mit den eigenen Händen berührt, von denen wohl
niemand sonst aus dem Volk der Pferdelords jemals Kenntnis erlangen würde.
Und doch wusste er, dass ein Menschenleben nicht ausreichen würde, alles zu
sehen und zu erfahren. Dazu musste man wohl ein unsterbliches Elfenwesen
sein. Manchmal bedauerte er es, den Handel nicht bis zu ihren Häusern
ausdehnen zu können. Er wäre neugierig genug gewesen, aber er war so nicht
leichtfertig, es zu versuchen. Der Weg hätte durch die Länder der Barbaren
geführt, und sosehr Lomorwin den Handel und seine Waren liebte, so sehr
hing er auch an seinem Leben.
An diesem Tag war Lomorwin sehr zufrieden, ja, er war sogar beinahe
glücklich. Er hatte einen guten Handel in Alneris abgeschlossen, hatte eine
der dortigen Theateraufführungen erlebt und sich und seinen Männern drei
Tage der Muße gegönnt, bevor es auf den beschwerlichen Rückmarsch ging.
Am Morgen hatten sie die weiße Stadt Alneris verlassen und waren auf der
alten Handelsstraße gen Norden marschiert.
Die Straße war schon viele Menschenleben alt und bereits zur Zeit der
ersten Könige angelegt worden. Sie war vier Längen breit und schien sich
schnurgerade ins Unendliche zu erstrecken. Alle Verbindungsstraßen im
Königreich der weißen Bäume waren ähnlich breit und durchschnitten die
Landschaft wie Geraden. Sie waren mit großen, dicken Steinplatten
gepflastert, deren jede Kante eine Länge maß. Dicht an dicht auf
festgestampftem Boden verlegt, trotzten sie der Witterung. Zudem wurden die
Straßen gepflegt, denn die Könige des Reiches Alnoa nutzten sie nicht nur für
den Handel. Die Jahre des Kampfes gegen den Schwarzen Lord und seine
Orks hatten die Krieger der Menschen gelehrt, wie wichtig es war, auch
schwere Lasten schnell bewegen und Truppen rasch von einem Ende des
Königreiches ins andere verlegen zu können.
Man konnte recht bequem auf diesen Straßen gehen, aber die Zeiten, da
Lomorwin seine Füße über die Maßen beanspruchte, waren schon lange
vorbei. Er gönnte sich mittlerweile den Luxus zu reiten, und letztlich
geziemte sich dies für einen Mann des Pferdevolkes. Auch Ildorenim, sein
Leibwächter, war beritten, doch die drei Treiber und die beiden anderen
Wachen gingen zu Fuß.
Lomorwin besaß neun Lastpferde, die er gegenüber Wagen bevorzugte. Es
gab Wagen mit einer oder zwei Achsen, und sie hatten Scheibenräder aus
massivem Holz, die in der Lage waren, schwere Lasten zu transportieren.
Zwei solcher Fahrzeuge, mit Pferden oder Hornvieh bespannt, hätten sicherlich
mehr Waren tragen können, aber der Händler kannte auch den entscheidenden
Nachteil dieser Fahrzeuge. Jedes Loch im Weg oder jeder aufragende Stein,
gegen den eines der Räder stieß, erschütterte den ganzen Wagen und somit
auch die Fracht. Gerade bei dieser Fracht wollte der Händler jedoch nichts
riskieren. Auch wenn längst nicht so viel Ware auf einen Pferderücken passte,
so wurde sie dort doch nur sanft geschaukelt und nicht bis zum Bruch
durchgeschüttelt. So trugen die Wachen ihre Spieße und die langen
Schwerter, während die Treiber die mit Handelswaren, Zelten und
Verpflegung bepackten Pferde führten.
Ildorenim hatte schon Lomorwins Vater als Wachmann gedient, und
eigentlich war der grauhaarige alte Pferdelord schon zu alt für diese Arbeit.
Längst hätte er sich einen ruhigen Platz in einem Weiler oder auf einem
gemütlichen Gehöft verdient gehabt. Doch er hing mit unverbrüchlicher
Treue an Lomorwin, und aus dem einstigen Verhältnis von Herrn und
Untergebenem war mit der Zeit eine feste Freundschaft geworden. Ildorenim
trug einen Harnisch mit den beiden Pferdeköpfen der Pferdelords, ihren
grünen Umhang und die traditionelle Stoßlanze, doch statt des Helms hatte er
an seinem Umhang eine Kapuze befestigt, die seine Augen beschattete und
vor der Sonne schützte.
Lomorwin ritt wie üblich seiner Gruppe voraus, und Ildorenim hielt mit
ihm Schritt, während er nach Gefahren Ausschau hielt, die hier, im
Königreich der weißen Bäume, allerdings kaum drohten. Der Leibwächter
beugte sich ein wenig im Sattel zur Seite und sah Lomorwin fragend an.
»Sagt, guter Herr Lomorwin, wann wollt Ihr Rast einlegen?«
Lomorwin blickte zur Sonne hinauf, um die Tageszeit abzuschätzen.
»Gegen Mittag werden wir am Grenzturm sein. Dort werden wir rasten.«
»Und mit der Wache ein wenig Handel treiben«, sagte Ildorenim
schmunzelnd.
Lomorwin lachte vergnügt. »Und mit der Wache ein wenig Handel
treiben.«
Irgendwie trieb Lomorwin immer ein wenig Handel. Aber seine Waren
hatten gute Qualität, und seine Preise waren gerecht. Der Instinkt hätte es
Lomorwin verboten, nicht wenigstens einen Handel zu versuchen.
Ildorenim räusperte sich. »Ich werde es den anderen sagen, guter Herr.
Helipator scheint das Marschieren noch nicht gewohnt zu sein.«
Lomorwin lachte erneut. »Helipator ist aus Alneris, und keiner der guten
Bürger Alnoas ist das Marschieren gewohnt. Wenn man von der Garde
einmal absieht.«
Einer von Lomorwins altgedienten Treibern war erkrankt, und die
kundigen Heiler der Hauptstadt Alnoas hatten Lomorwin versichert, er werde
keine weite Reise mehr unternehmen können. Lomorwin hatte den Kranken
ausgezahlt und ihm noch etwas hinzugegeben, damit er, sobald er gesundet
war, bequem nach Hause gelangen konnte. Er hatte in Helipator einen neuen
Treiber gefunden. Ein junger Bursche aus Alneris, den die Abenteuerlust aus
der Stadt hinaustrieb. Lomorwin hatte dem Jungen erst einmal festes
Schuhwerk besorgt, denn die eleganten Latschen, die für die Stadtbewohner
typisch waren, hätten den Marsch nicht lange überstanden und Helipators
Füßen keine guten Dienste geleistet.
Ildorenim rief den Treibern und Wachen zu, dass man gegen Mittag am
Grenzturm halten werde, und Herrik, der Führer der drei Treiber, grunzte
zustimmend. Herrik war ein wortkarger Mann mit bisweilen wenig
vornehmen Manieren, wie Lomorwin fand. Aber er verstand sich auf Pferde
und auch darauf, Lasten sorgsam zu stauen. Unter seinem aufmerksamen
Blick und seinen geschickten Händen war kaum je etwas zu Bruch gegangen,
und Lomorwin transportierte diesmal viele empfindliche Waren. Besonders
stolz war er auf die feinen Klarsteinarbeiten, die er in Alneris erworben hatte.
Sie würden in den Marken des Pferdevolkes gute Gewinne erbringen. Am
liebsten hätte er sie selber behalten, aber das entsprach nicht seinem
Verständnis von einem Händler. Nun, eine der kleinen Vasen würde er
vielleicht noch für sich zurücklegen, doch nichts weiter, sosehr es ihn auch
reizen mochte.
Nahe der großen Hafenstadt des Königreichs von Alnoa gab es einen
Strand mit unglaublich feinem weißem Sand. Dieser wurde mit Lastkähnen
auf dem Fluss Narquan in die Stadt Alneris gebracht, wo Handwerker dem
Sand ein Mineral beimischten, ihn dann schmolzen und aus der Masse den
Klarstein fertigten. Mit seinem durchsichtigen zarten Schimmer war er der
Stolz der Bürger von Alneris, die den Klarstein in kunstvolle Rahmen fügten
und damit ihre Fensteröffnungen bedeckten. Kein Wind und kein Schmutz
drangen mehr durch diese Fenster, und wenn man lüften wollte, konnte man
die Rahmen einfach aufklappen. Lomorwin war sich sicher, dass dieser
Klarstein bald die Fensterbespannungen aus Wolltierdarm oder -blase ersetzen
würde, die bei den Pferdelords gebräuchlich waren.
Leider war der Klarstein sehr zerbrechlich, und man musste sorgsam mit
ihm umgehen. Lomorwin kannte seine Pferdelords und würde, wenn seine
Lieferung in den Marken Anklang fand, in Alneris nachfragen, ob man den
Klarstein für die Fenster nicht ein wenig dicker fertigen könne. Vor allem die
Frauen würden Fenster mit Klarstein zu schätzen wissen, denn sie ließen
mehr Licht hindurch und waren leichter zu reinigen als die herkömmlichen
Bespannungen. Und die Frauen der Pferdelords, das wusste Lomorwin aus
Erfahrung, führten im Haushalt die Zügel, auch wenn manche Männer dies
bestreiten mochten. Doch die Klarsteinmacher von Alneris fertigten auch
Trinkgefäße und kunstvolle Blumenvasen. Insgesamt, so befand Lomorwin,
war der Klarstein ein Material, das Zukunft hatte.
Inzwischen waren die Wälder immer weiter zu den Seiten zurückgewichen
und hatten den Blick auf eine weite Ebene freigegeben, die von sanften
Hügeln und kleinen Wäldern unterbrochen wurde. In der Ferne sah man
Rudel von Geweihtieren und Wildläufern ziehen, und einmal erkannten sie
am Horizont einen streunenden Pelzbeißer. Langsam näherten sie sich der
Nordgrenze des Reiches Alnoa und damit der Südgrenze des Landes der
Pferdelords. In der Südmark würden sie sich nach Westen wenden und der
dortigen Handelsstraße durch die Königsmark folgen, bis sie die Furten des
Flusses Eisen überqueren und das Nordgebirge erreichen würden.
»Warum die Hochmark, guter Herr Lomorwin«, hatte Ildorenim gefragt,
als sein Herr ihm die Reiseroute bekannt gegeben hatte. »Wir könnten die
Waren sicherlich schon viel früher loswerden.«
»Ja, das könnten wir«, hatte ihm Lomorwin lachend entgegnet. »Offen
gesagt, guter Ildorenim, habe ich Garodem, den Pferdefürsten der Hochmark,
bislang nicht kennengelernt. Seine Mark steht dem Handel erst seit wenigen
Jahren offen, und es wird Zeit, dass unser Weg uns dorthin führt.«
»Es ist ein beschwerlicher Weg, guter Herr«, hatte sich Herrik zu Wort
gemeldet. »Steiniger und unebener Boden.«
»Fürchtest du um deine Füße, guter Herrik?«
Der Gefragte hatte aufgelacht. »Nicht um meine Füße, guter Herr. Die
Klarsteine sind es, um die ich mich sorge.« Der Führer der Treiber hatte
daraufhin ungeniert etwas Schmutz aus seiner Nase befördert und den Finger
an seiner Hose abgewischt. »Ihr wisst, guter Herr, der Klarstein ist recht
empfindlich.«
»Natürlich weiß ich das«, hatte Lomorwin erwidert. »Aber ich vertraue auf
deine Fähigkeiten, Herrik. Die haben mich noch nie enttäuscht.«
»Ich wollte es auch nur erwähnt haben, guter Herr«, hatte Herrik mit einem
erfreuten Grinsen geantwortet.
Gegen Mittag schließlich tauchte vor ihnen der Grenzturm auf. Er war
einer von vielen an den Grenzen des Königreichs Alnoa, und wie all diese
Türme war er sehr alt. Er erhob sich über einem kleinen Hügel, der dicht mit
Gras bewachsen war, und ein mit Steinplatten bedeckter Weg führte zum
Gebäude hinauf.
Das Untergeschoss des Turms war viereckig und an seinen Ecken mit
großen Steinstatuen der alten Könige verziert. Darüber erhoben sich vier
weitere Ebenen, die nach oben hin immer niedriger wurden. Das Mauerwerk
war von zahlreichen schmalen Öffnungen durchbrochen, deren typische
Spitzbogen die alte Bauweise verrieten. An den mächtigen Felsquadern, aus
denen der Turm errichtet worden war, hatten Zeit und Witterung ihre Spuren
hinterlassen, aber er stand noch immer fest. Über der obersten Plattform
wehte das graue Banner mit den drei weißen Bäumen des Königreichs in dem
schwachen Wind, der über die Ebene strich, und signalisierte, dass die Garde
den Posten hielt.
Lomorwins Tross aus sieben Männern, zwei Reittieren und neun
Packpferden hielt am Fuß des Weges, der zum Turm hinaufführte. Auf der
obersten Plattform beugte sich ein Mann vor. »Im Namen des Königs, wer
seid ihr?«, rief er zu ihnen hinunter.
»Guter Herr Gardist, mögen die Götter Eure Augen mit dem scharfen
Blick eines Raubvogels segnen, erkennt Ihr denn den guten Herrn Lomorwin
nicht wieder?«
»Ihr seid unverwechselbar, guter Herr Händler«, rief der Mann aus. »Doch
Ihr kennt das Geheiß des Königs. Ein jeder muss …«
»Nehmt es mir nicht übel«, unterbrach Lomorwin ihn schnell, und sein
breites Lächeln nahm seinen Worten jede Schärfe, »doch die Füße meiner
Treiber sind sehr müde und brauchen eine kurze Rast.«
Der Wachhabende lachte auf, wandte sich ins Innere des Turms und rief
etwas nach unten. Im nächsten Moment öffneten sich die beiden massiven
Eisenflügel des Tores. Die Lautlosigkeit, mit der dies geschah, ließ darauf
schließen, wie sehr die Anlage gepflegt wurde. Auch wenn man keinen Feind
fürchtete, so hielten die Soldaten des Reiches der weißen Bäume stets ihre
Augen offen und die Waffen bereit. Nie wieder würden sie sich, wie vor
wenigen Jahren geschehen, von der Streitmacht der Orks überraschen lassen.
Die Truppen Alnoas hatten damals schwer gelitten, und es würde noch
lange dauern, bis sie ihre alte Stärke wieder erreicht hatten. Aber nicht aus
diesem Grund war der Turm nur mit wenigen Männern besetzt. Vielmehr
diente der Wachtposten als Glied der Signalfeuerkette. Auf seiner obersten
Plattform lag das geschichtete Brennmaterial bereit, um eine drohende Gefahr
mit lodernden Flammen kundzutun.
Lomorwin und seine Gruppe betraten das Innere des Gebäudes. Das
Erdgeschoss war derart geräumig, dass es einer großen Halle glich. An den
Wänden waren die zahlreichen Öffnungen für die Bogenschützen zu
erkennen, durch die schwach das Tageslicht hereinfiel. Die Stockwerke waren
durch eine einzelne schmale Treppe verbunden, die für einen Angreifer wohl
nur schwer zu erstürmen war.
Die Gardisten des Königreichs trugen im Gegensatz zu den Pferdelords
eine einheitliche Rüstung aus silbergrauem Metall, die Unterleib und
Oberkörper vollständig bedeckte. Der Brustpanzer lief nach vorn keilförmig
zu und zeigte das eingeprägte Wappen des Königreichs. Die seltsam spitze
Form erschwerte es entgegenkommenden Geschossen, die Panzer zu
durchdringen. Die Helme bedeckten den Kopf bis zum Nacken, ließen jedoch
die Ohren frei. Nach oben hin liefen sie zu Spitzen aus, in denen Federn
steckten. Deren Anzahl und Farbe gaben Auskunft über Rang und
Waffengattung ihrer Träger.
So kennzeichnete eine einzelne Feder den einfachen Gardisten, zwei
Federn waren dem Rang eines Hauptmanns vorbehalten, ein
Legionskommandeur führte drei, und ein Oberbefehlshaber schmückte seinen
Helm mit vier Federn. Waren sie blau, so handelte es sich um Schwertmänner
und Spießträger, die rote Farbe war den Bogenschützen vorbehalten, während
Gelb die Reiterei des Königreichs repräsentierte.
Von der Turmbesatzung trugen nur vier Männer die volle Rüstung, die
anderen hatten die Panzerung gar nicht erst angelegt, und so konnte man ihre
grauen Beinkleider und Wämse sehen. Der Hauptmann trug zu seinem Wams
als Zeichen seiner Würde lediglich den Helm mit den beiden schwingenden
Federn.
»Ich bin erfreut, Euch wiederzusehen, guter Herr Lomorwin«, sagte der
Hauptmann wohlgelaunt und reichte dem Händler die Hand. In Alnoa war
dies eine Geste der freundlichen Begrüßung, denn es wurde die Schwerthand
gereicht, um zu zeigen, dass man keine Waffe hielt und friedliche Absichten
hegte. »Ihr seid auf dem Heimweg in die Nordmark?«
»Sogar noch weiter hinauf«, erwiderte Lomorwin und reichte einem
Soldaten die Zügel seines Pferdes. »Mein Ziel ist die Hochmark des
Pferdefürsten Garodem.«
»Garodem? Ja, von dem habe ich gehört. Er soll sich vor Jahren recht
wacker geschlagen haben.« Der Hauptmann musterte Lomorwins Lasttiere.
»Ihr wollt bei uns nur eine kurze Rast einlegen?«
»Und Ihr wollt sicherlich einen kurzen Blick auf mein bescheidenes
Angebot werfen, nicht wahr, guter Herr Hauptmann?« Lomorwin lachte
freundlich. »Dafür reicht die Zeit immer.«
Lomorwin handelte ausschließlich mit Waren, die in den Ländern seiner
Kunden nicht hergestellt oder zumindest sehr selten waren. Die Bewohner des
Königreichs Alnoa interessierten sich besonders für die Lederarbeiten der
Pferdelords, obwohl sie sich selbst auf die feinsten Arbeiten verstanden. Doch
war Hornvieh im Land der weißen Bäume selten, und so waren die Waren aus
den Marken des Pferdevolkes wegen der günstigen Preise begehrt. Im Land
der Pferdelords fanden hingegen die feinen Stoffe und Schmuckstücke aus
Alneris reißenden Absatz. Die Stoffe waren weich und fließend und nicht so
grob gewebt wie das Wolltuch der Pferdelords. Vor allem die Frauen wussten
dieses feine Tuch zu schätzen.
Nach kurzer Rast und schnellem Handel zog Lomorwins kleine Karawane
weiter, denn der Händler wollte bis zum Abend noch die alte Handelsstraße
erreichen, die ihn entlang der Südmark in die Königsmark führen würde.
Dann sollte es weiter in nordwestlicher Richtung gehen, am Westgebirge
entlang, an dem die alte Bergfestung des Pferdevolkes lag, und schließlich
hinauf zum Fluss Eisen und seinen Furten. Es war ein weiter Weg, der viele
Tage in Anspruch nehmen würde.
Als Lomorwin und seine Gruppe endlich die Furten des Eisen erreichten,
hatte sich das Warenangebot bereits deutlich reduziert. Zwei der Pferde waren
inzwischen ganz ohne Last, und der Treiber Helipator aus Alneris nahm das
Angebot gerne an, auf einem der Tiere zu reiten.
»Der hat sich das Abenteuer wohl anders vorgestellt«, grunzte Ildorenim
missbilligend. »Vor allem für seine Füße. Ah, diese verweichten
Stadtbewohner.«
»Sieh es ihm nach, guter Freund«, erwiderte Lomorwin lachend. »Erst
nach der Reise werden wir wissen, wie weit ihn seine Füße tragen können.
Zudem genieße auch ich den Ritt.«
»Ihr seid auch der Herr, und es steht Euch wohl an«, brummte Ildorenim.
»Das fehlte noch, dass der Herr zu Fuß geht und der Treiber reitet.«
Zwei Tage zuvor hatten sie die Hauptstadt des Königs der Pferdelords
verlassen und vor einem Tag die Grenze zur Reitermark überschritten. Die
Reitermark bestand überwiegend aus einer großen Ebene, die üppig mit Gras
bewachsen war und auf der die besten Pferde gediehen. Sanfte Hügel erhoben
sich über die Ebene, die nur von wenigen Wäldern bestanden war. Der Fluss
Eisen bildete die Grenze zwischen der Reitermark und der Westmark, hinter
welcher das Dünenland der Barbaren begann.
Die Handelsstraße wurde hier seltener benutzt und war daher nicht so gut
gepflegt. Einige der Platten hatten sich im Laufe der Jahre gesenkt, andere
waren unter der Einwirkung der Witterung gesprungen, doch noch immer lief
der Warenverkehr über diese Straße.
Um Handel mit der Westmark oder der Hochmark zu treiben, musste man
auf die andere Seite des Flusses Eisen wechseln. Er entsprang im Gebirge, ein
gutes Stück südlich der Hochmark, und da er von vielen Gebirgsbächen
gespeist wurde, gewann er rasch an Kraft. Besonders an den Engstellen wurde
er reißend und bot auch sonst nur wenige Stellen, an denen ein Reiter es
riskieren würde, ihn zu durchqueren. Doch beladene Fahrzeuge konnten ihn
nur an den großen Furten gefahrlos passieren, wo der Fluss sich stark
verbreiterte und über kiesbedeckte Bänke verlief. Auf der anderen Seite des
Flusses führte ein Abzweig der alten Handelsstraße zunächst nach Norden
und zog dann westlich an der Hochmark vorbei zu den oberen Dünenländern.
Auf seinem anfänglichen Verlauf führte dieser Abzweig zwischen dem Fluss
und einem ausgedehnten Waldgebiet entlang, an dessen nördlichem Ende sich
die südlichen Ausläufer des Hochmarkgebirges anschlossen.
Schon viele Reisende und Handelswagen hatten die Furten genutzt, sodass
man hier ein großes Gehöft mit einer Schenke errichtet hatte, die Reisenden
Unterkunft und Erfrischung bot. Vor Jahren war das Gehöft bei der Schlacht
um die Furten von den Orks niedergebrannt worden. Damals hatte hier auch
ein Pferdefürst zusammen mit vielen seiner Männer sein Leben lassen
müssen.
Doch nun war das Gehöft wieder aufgebaut worden und bot fast hundert
Menschen ein Heim. Neben dem großen Bau der Schenke standen mehrere
kleine Holzgebäude, die zusammen ein unregelmäßiges Viereck formten. Für
die Tiere der Reisenden gab es eine Pferdekoppel, und wer wollte, konnte hier
auch Pferde tauschen oder erwerben.
Ein Stück abseits weideten ein paar Hornviecher, und eine Schar von
Kratzläufern rannte gackernd auseinander, als Lomorwins Gruppe das Gehöft
erreichte. Es war ein friedvolles Bild. Nur auf einem kleinen Hügel jenseits
der Ansiedlung erhoben sich zwei verwitterte Lanzen, auf denen die
ausgeblichenen Schädel von Orks steckten. Sie sollten an die Schlacht
erinnern, die hier einst getobt hatte.
Ildorenim wies auf den Platz vor der Schenke. »Es ist noch ein anderer
Händler hier, guter Herr Lomorwin. Seht Ihr den Wagen? Eine eigenartige
Konstruktion.«
Der Wagen war wirklich ungewöhnlich. Lomorwin saß ab, schritt zu dem
Fahrzeug hinüber und betrachtete interessiert die Räder des Wagens. Bislang
hatte er nur die massiven Scheibenräder gesehen, doch diese Räder waren
anders. Sie bestanden aus einem dünnen, zerbrechlich wirkenden Reifen aus
Holz, der von einem stabilen Eisenband umgeben war und durch
strahlenförmig vom Mittelpunkt ausgehende Streben gestützt wurde. Das
recht massive Mittelteil wiederum steckte auf der Achse des Wagens.
»Gefällt er Euch?«
Lomorwin blickte auf und sah einen Mann vor das Gasthaus treten. Der
Gürtel mit den vielen Taschen daran wies ihn sofort als Händler aus, doch da
man einander als Händler kannte, musste Lomorwin nicht weiter forschen.
»Guter Händler Waltram, es ist eine Freude, Euch zu sehen. Ja, mir ist Euer
Wagen aufgefallen. Dergleichen Räder sah ich noch nie zuvor.«
Waltram hakte mit stolzer Geste seine Daumen hinter den Leibgurt und
nickte. »Das glaube ich wohl, guter Händler Lomorwin. Die Räder sind sehr
leicht, wie Ihr seht, und dennoch sehr stabil. Dadurch kann der Wagen mehr
Last tragen. Ich habe ihn aus der Hochmark. Nur dort bauen sie diese Räder.«
»Aus der Hochmark, sagt Ihr? Genau dorthin führt mich mein Weg.«
Waltrams Gesicht verfinsterte sich. »Wenn Ihr in die Hochmark reist, guter
Händler Lomorwin«, sagte er eindringlich, »dann seid wachsam und haltet
Ausschau nach Barbaren. Dort, wo das Gebirge beginnt und sich die alte
Straße nach Westen wendet, gibt es zwar einen kleinen Posten der
Pferdelords, doch immer wieder schlüpfen räuberische Barbaren an
unübersichtlichen Stellen hindurch. Ihr wisst ja, guter Händler Lomorwin, die
Streifscharen der Pferdelords patrouillieren an den Grenzen, doch sie können
nicht überall zugleich sein.«
»Habt Dank für Eure Sorge«, erwiderte Lomorwin. »Aber soweit ich hörte,
sind die Grenzen ruhig. Wir werden unsere Augen dennoch offen halten, und
glaubt mir, mein grauhaariger Pferdelord Ildorenim hat noch immer scharfe
Augen.«
»Nun, mir selbst sind keine Barbaren begegnet«, bekannte Waltram. »Ich
war zuvor in der Westmark und hörte dort ebenfalls, dass es an den Grenzen
zu den Barbaren ruhig sein soll. Allerdings habe ich ein ungutes Gefühl, es ist
schon etwas zu lange her, dass sie einen Raubzug versuchten.«
Ildorenim lachte leise auf. »Sie haben sich jedes Mal blutige Nasen geholt.
Vielleicht haben sie nun genug.«
Waltram sah den grauhaarigen Pferdelord an und seufzte. »Einst waren sie
es, die uns blutige Nasen verpassten, guter Herr Pferdelord. Vergesst nicht,
dass sie uns aus unserer Heimat vertrieben haben.«
»Das wird ihnen nicht noch einmal gelingen«, knurrte Ildorenim grimmig.
Waltram lachte auf. »Aber was sollen solch trübe Gedanken, Ihr guten
Herren. Unser Handwerk ist der Handel, und der entwickelt sich prächtig.«
Während Waltrams Tross mitsamt den Wagen weiterzog, übernachtete
Lomorwin mit seinen Leuten im Gasthaus. Am nächsten Morgen wechselten
sie auf die andere Seite des Flusses und zogen dem Gebirge entgegen. Der
Weg führte sie am legendären Hammerturm vorbei, der sich über einem
kreisförmigen Areal erhob, das wohl zwei Tausendlängen umfasste und einen
wüsten, trostlosen Anblick bot. Klaffende Spalten durchfurchten den Boden,
über den noch immer die zermalmten und verbrannten Überreste von Waffen
und anderem Kriegsgerät verstreut lagen. Es war offensichtlich, dass hier
einst eine furchtbare Schlacht getobt hatte. Welche Mächte mussten hier
aufeinandergeprallt sein, um so eine Zerstörung zu bewirken? Der Boden war
noch immer an einigen Stellen verbrannt, doch inzwischen schob sich neues
Gras über diese Wunden, und Bäume begannen das Areal von Neuem zu
erobern. Die Natur holte sich zurück, was Menschen und Orks ihr genommen
hatten.
Menschen, Orks und der Weiße Zauberer. Denn es war ungewiss, welcher
Seite man die Weißen Zauberer überhaupt zurechnen sollte. In früheren
Zeiten waren die Weißen und Grauen Zauberer die Freunde der Menschen
gewesen, doch seit der großen Schlacht auf der Ebene von Alneris hatte
niemand mehr von einem Zauberer gehört. Lomorwin konnte nicht glauben,
dass diese mächtigen Wesen nicht mehr existierten. Irgendwo musste es sie
noch geben, aber keiner wusste, wo, und keiner wusste, ob sie den Menschen
noch wohl gesinnt waren. Zur Zeit der letzten großen Schlacht hatten
jedenfalls einige der Zauberer auf der Seite des Schwarzen Lords gewirkt.
Die Zauberer waren eigenartige Wesen, niemand wusste genau zu sagen,
woher sie kamen. Sie waren unsterblich wie die Elfen und verfügten über
starke Zauberkräfte und großes Wissen. Sie begannen als Graue Zauberer und
zogen in dieser Phase ihres Lebens durch die Länder, sammelten Kenntnisse
und taten wunderliche Dinge, meist zur Freude der anderen Lebewesen, denn
die Zauberer waren stets freundlich und hilfsbereit. Irgendwann stiegen sie
dann in die Phase des Weißen Zauberers auf. Von diesem Moment an lebten
sie an einem festen Ort, wie dem Hammerturm. Doch nun schien es keine
Zauberer mehr zu geben, weder Graue noch Weiße.
Lomorwin und seine Begleiter betrachteten den Hammerturm mit
Unbehagen und waren froh, als sie ihn und die umliegenden Wälder hinter
sich gelassen hatten. Das Gelände vor ihnen stieg nun erst sanft, dann immer
steiler an, bis es sich zu den Ausläufern des Gebirges auffaltete.
Lomorwin registrierte mit Unbehagen den Sonnenstand. »Wir werden die
Hochmark nicht vor der Nacht erreichen.« Ildorenim nickte zustimmend. »Ich
denke, wir sollten uns einen geschützten Platz für das Nachtlager suchen. Die
Worte des Händlers gehen mir nicht aus dem Sinn.«
»Ja, ich spüre deine Anspannung, mein guter Freund.«
Vor ihnen tauchten die Überreste einer alten Festung auf. Ildorenim wies
auf die Ruinen. »Ein ehemaliger Grenzposten. Vielleicht noch aus der Zeit
der ersten Könige, guter Herr Lomorwin. Er scheint zerfallen, aber ich denke,
seine Mauern bieten noch immer Schutz.«
Lomorwin nickte. »Du hast sicher recht. Nun gut, verbringen wir die Nacht
im Schutz der alten Mauern. Morgen ziehen wir dann weiter in die
Hochmark.«