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Exkurs: Eine Jugend im klassischen Arbeitermilieu – Willy Brandt

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Willy Brandt, Schmidts Vorgänger im Kanzleramt, hat immer wieder betont, er sei der letzte Sozialdemokrat in dieser Position gewesen, der noch aus dem klassischen Arbeitermilieu stamme.

Brandt, vaterlos aufgewachsen in Lübeck, der Stadt, die er bezeichnenderweise seine »Mutterstadt« nannte, hatte, wie er selbst sagte, sein »Zuhause« in der »Jugendbewegung« gesucht und gefunden. Das war die SAJ, die Sozialistische Arbeiterjugend der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Links und frei nannte Brandt im Jahr 1982 seine Memoiren über die Zeit von 1930 bis 1950. Er war am 18. Dezember 1913 als Herbert Ernst Karl Frahm geboren worden, fünf Jahre und fünf Tage vor Helmut Schmidt. Der relativ geringe Altersunterschied sollte sich später als bedeutsam erweisen, sowohl hinsichtlich der prägenden Jugendzeit als auch im reifen Alter, als es um die Macht ging.

Als 15-Jähriger war Herbert Frahm – den Tarnnamen Willy Brandt nahm er erst kurz vor seiner Emigration nach Norwegen an – Vorsitzender der Gruppe »Karl Marx«. Als 16-Jähriger wurde er in die SPD aufgenommen, eine Ausnahmeregelung für den besonders engagierten Jugendlichen. Diese Ehre wurde ihm 1929 zuteil, in dem Jahr, als der Steppke Schmidt auf die Lichtwarkschule kam. Die Arbeiterpartei pflegte die Tradition. Sie stellte eine Heimat dar, nicht nur im politischen Sinn. Aber sie war auch ein wenig muffig, spießig in Fragen der Moral, reformistisch in Fragen der Politik – jedenfalls aus der Sicht des jungen Frahm. Er hatte ein Faible für die heranwachsenden Genossinnen und wurde gerügt, weil er eine besonders hübsche vor aller Augen abknutschte. Sein damaliger SAJ-Stellvertreter Bruno Römer dazu: »So war er eben, sein Bedürfnis nach Liebe war durch die unbehauste Jugend nicht gedeckt.« Andere Genossen brachten für Brandts amouröse Heimatsuche weniger Verständnis auf, erst recht später, in den Kanzlerjahren und danach.

Die Suche nach der politischen Heimat wurde ihm, obwohl ebenso sprunghaft, nicht nur nachgesehen, sondern war vielmehr einer der Gründe für die Hochachtung, die ihm später von der jungen Generation entgegengebracht wurde. Im jungen Leben begeisterte er sich für den linksradikalen Weg, den Sozialismus. Bereits 1931 trat er aus der SPD wieder aus. Die Mutterpartei kam ihm zu »kompromisslerisch« daher. Einige aus der SPD ausgeschlossene Reichstagsabgeordnete gründeten eine radikalere Alternative, die Sozialistische Arbeiterpartei, SAP. In diese linkssozialistische Partei trat Herbert Frahm über. Die gesamte Arbeiterjugendgruppe »Karl Marx« ging mit. Dafür wurde er bestraft. Der Lübecker SPD-Vorsitzende und Chefredakteur der sozialdemokratischen Zeitung Lübecker Volksbote, der väterlich fördernde Julius Leber, kündigte ihm die Freundschaft und die Mitarbeit beim Blatt. Auch die Wähler machten nicht mit, die SAP bekam in der Hansestadt kaum mehr Stimmen, als sie Mitglieder hatte. Doch Willy Brandt bereute seinen Schritt nie. Zwar hielt er die Parteigründung im Rückblick für einen »politischen Fehler«, aber er schrieb auch: »Die Aufrichtigkeit, aus der heraus ich entschied, bedarf keiner Entschuldigung.«

Es war diese Aufrichtigkeit, die ihm die Diffamierung als Kommunist einbrachte und Konrad Adenauers bösartige Anrede »alias Frahm«, die ihn bei den Achtundsechzigern aber wiederum glaubwürdig und zur Integrationsfigur machte.

Helmut Schmidt sagte – auf andere Weise selbstbewusst – auch im hohen Alter noch gern, er habe gar nichts dagegen, »Sozi« genannt zu werden – solange damit Sozialdemokrat und nicht Sozialist gemeint sei. Aber er wurde auch nicht in einer Arbeiterjugend mit Hang zum Linksradikalismus sozialisiert, sondern in einer Schule, die viel Wert auf das Kulturelle und Musische legte und durchaus stolz das Elitäre betonte.

Helmut Schmidt - Ein Leben für Deutschland

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