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Die Nazis und die Reformschule

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Als die Nazis nach der Macht griffen, war ihnen die fortschrittliche Lichtwarkschule längst ein Dorn im Auge. Nicht nur, weil jeder sechste Schüler dort aus einem jüdischen Elternhaus stammte, nicht nur, weil viele Lehrer Juden waren. Das ganze Konzept passte den braunen Machthabern nicht. Die Koedukation nicht, die Wahlfreiheit der Schüler nicht, die Vermischung von Deutsch, Geschichte und Religion zum Fach »Kulturkunde« nicht. Und auch der friedliche, demokratische Pluralismus nicht. Loki Schmidt fand es besonders wichtig – auch dies ein Hinweis, worüber sie sich mit Helmut Schmidt »zankte« –, dass die Einstellungen der Lehrer »vom Konservativismus bis zum Kommunismus reichten, obwohl sie pädagogisch dieselben Ziele verfolgten«.

Die Nationalsozialisten schlossen die Schule nicht gleich nach der Machtergreifung. Überzeugte Nationalsozialisten waren durchaus imstande, einen Teil der Lichtwarkpädagogik zu akzeptieren. Ein Lehrer namens Erich Witter, Obmann des Nationalsozialistischen Lehrerbunds, versuchte, »die Jungen und Mädchen, die dem Nationalsozialismus noch mit Hemmungen gegenüberstanden, für die Ideen des Dritten Reichs« zu gewinnen. Witter war im April 1933, drei Monate nach der Machtergreifung also, an die Lichtwarkschule versetzt worden.

Er sah gute Voraussetzungen, dort Lehrer und Schüler »zu einer geistig begnadeten und gläubigen Gemeinde« zu vereinen. Er forderte zwar »Gesinnungsunterricht«, aber auch »Erlebnisunterricht« – und glaubte so, an die Klassenreisen und Jahresarbeiten anknüpfen zu können. Auf gewisse Weise war die Lichtwarkschule eine weiterführende Schule für die ärmeren Bürger. Hier waren weit mehr Eltern von den Schulgeldzahlungen befreit als an anderen Gymnasien in besseren Vierteln. Der Lehrer Witter, der sich nach dem Krieg als »geborener Demokrat und Pazifist« bezeichnete, um so eine Wiedereinstellung zu erreichen, wollte seinerzeit wohl durchaus »Einzelinteressen« unterdrücken, aber das, was die Nazis an Disziplin forderten, ging ihm dann doch zu weit. »Abfragen«, »Eintrichtern«, einen »gezückten Bleistift, der gute oder schlechte Ergebnisse bis zum Endzeugnis unwiderruflich aufbewahrt«, hielt der nationalsozialistische Obmann nicht für geeignete Methoden. Er wollte, dass »Werte lebendig und unzerstörbar dem jungen Herzen eingebrannt« werden, dies aber auch mit reformpädagogischen Methoden. Witter wurde indes bereits 1935 wieder versetzt, zwei Jahre bevor die Lichtwarkschule von den Nazis ganz geschlossen wurde.

Helmut Schmidt erlebte bis zum Abitur im Jahr 1937 die Veränderungen ziemlich bewusst. Bis 1933 wurde an der Schule Theater gespielt, dann war Schluss damit. Für ihn war ein viertägiges Goethe-Fest im Jahr 1932 der »absolute Höhepunkt« der Schulzeit gewesen. So etwas gab es nicht mehr, nachdem die Nazis Ostern 1933 die Schule umkrempelten. Sie begannen damit, indem sie den Direktor Heinrich Landahl absetzten. Schmidt erinnerte sich gut daran, dass sich Lehrer und Schüler auf der Treppe versammelten und dem »geliebten« Schulleiter »Auf Wiedersehen« sagten. Der Nachfolger, Erwin Zindler, musste hingegen anordnen, dass sich alle Schüler auf dem Hof aufstellten. Er hielt eine Rede durch ein geöffnetes Fenster im ersten Stock. Am Ende brüllte Zindler: »Ich werde diesen roten Saustall schon ausmisten.«

Helmut Schmidt glaubte trotzdem bis zuletzt, er habe damals, 14-jährig, nicht recht begriffen, weshalb Landahl gehen musste. Der Schulleiter war Mitglied der Deutschen Staatspartei, einer liberalen Partei, die Ideen wie die der sozialen Verantwortung vertrat, rechtsstaatlich ausgerichtet war, aber auch die Einheitsschule forderte. Nach dem Krieg wurde Landahl Mitglied der SPD und Schulsenator in Hamburg.

Sein Nachfolger Zindler hatte das mit dem »Saustall ausmisten« wohl zunächst ernst gemeint. Doch die Lichtwarkschule war, wie gesagt, nicht wirklich rot. Es herrschte ein pädagogischer Eifer, im besten Sinne des Wortes. Die Gründungsgruppe begeisterter Lehrer mit ihren neuen Ideen hatte sich schließlich 1925 zu einem Wahlkollegium zusammengetan und von der Schulbehörde die Erlaubnis erhalten, die Lehranstalt nach ihren eigenen Plänen auszurichten. Das Konzept riss konservative Lehrer genauso mit wie Kommunisten – und später wohl auch den einen oder anderen Nationalsozialisten. Viel deutet darauf hin, dass der erwähnte Erich Witter eben doch nicht nur ein Betonkopf war, sondern sich von der fortschrittlichen Pädagogik überzeugen ließ, und auch Schulleiter Zindler schien, das glauben etliche Lichtwarkschüler, es ehrlich zu bedauern, als die Schule endgültig geschlossen wurde. Womöglich hatte auch er eingesehen, dass diese Lehranstalt keineswegs eine rote Kaderschmiede war.

Helmut Schmidt meinte, die anderen Nazis, die von 1933 an zur Lichtwarkschule kamen, seien überwiegend »dumme Pauker« gewesen, Versager, die von anderen Schulen versetzt wurden oder sich versetzen ließen, weil sie sich aus politischen Gründen Chancen zum Fortkommen ausrechneten, die sie wegen mangelnder geistiger Fähigkeiten sonst nicht gehabt hätten. Aber Schmidt schränkte auch ein, dass er nicht allzu viel davon durchschaute. Er glaubte jedoch, dass die Schule durch ihre einzigartige Prägung so manchen Nazi-Lehrer schlicht »umgedreht« hatte. Offensichtlich und schmerzlich war für ihn, ebenso wie für Loki, dass ihnen die hochverehrte Klassenlehrerin Ida Eberhardt, die Biologin, die sie »Idl« nannten und von der sich Loki immer inspiriert fühlte, genommen wurde. Unübersehbar war die Tatsache, dass von 1933 an eine Flaggenparade eingeführt wurde. Die wichtigste pädagogische Umkehr war jedoch das Ende des übergreifenden Fachs Kulturkunde – fortan wurden Deutsch und Geschichte im herkömmlichen Sinn unterrichtet. Der junge Herr Schmidt und das junge Fräulein Glaser erlebten es jedoch nicht, dass der Geschichtsunterricht von nun an im Sinne der nationalsozialistischen Lehre verfälscht worden wäre.

Wie die alten Lehrer mit Witz und Ironie verhinderten, dass sich braune Ideologie in den Köpfen der Schüler festsetzte, zeigt folgende Episode: Nachdem Frau Eberhardt hinausgedrängt worden war, bekam die Klasse 1934 Herrn Roemer. Er hatte sie schon einmal auf einer der legendären Klassenfahrten begleitet, ins Weserbergland. Hans Roemer war, wie Loki Schmidt noch genau wusste, ein »freundlicher Hans-Albers-Typ«. Als er nun Klassenlehrer geworden war, kam es zu einer eigentümlichen Unterrichtsstunde.

Loki Glaser war einige Tage zuvor zu Schulleiter Zindler zitiert worden. Seit Kindestagen hatte sie einen Pony getragen. Zindler befahl ihr, die Frisur zu ändern. So sehe sie aus wie ein Chinese. Sie war folgsam und kämmte sich fortan einen Mittelscheitel. Eines Tages kam Roemer mit einem ironischen Lächeln in die Klasse. Er unterrichtete zwar Geschichte, nie aber hatte ein Schüler von ihm politische Äußerungen vernommen. An diesem bewussten Tag hielt der promovierte Lehrer ein eigenartiges Instrument in der Hand, das entfernt einem Zirkel ähnelte. Zum Erstaunen der Klasse trug er nun ganz im Sinne der Nazis vor, es gebe »nordische«, »dinarische« und »ostische« Menschenrassen. Sie hätten unverkennbare Schädelmerkmale, die mit dem zirkelähnlichen Instrument bestimmt werden könnten. Und ohne Frage, fuhr er fort, sei die nordische Rasse die wertvollste.

Der Lehrer nahm sich zunächst einen großen blonden, also im Sinne der Nazis vermeintlich »arischen« Typ vor, Hans-Friedrich Lenkeit. Er maß und maß. Ergebnis: Der Schädel Lenkeits wies eindeutig auf die dinarische Rasse hin. Roemer maß weitere Schädel. Schließlich verkündete er das Resultat seiner Berechnungen: »Den nordischsten Schädel hat ausgerechnet Loki, die aussieht wie ein Chinese.« Worauf die ganze Klasse in Gelächter ausbrach und der eigentliche Geschichtsunterricht endlich beginnen konnte.

Helmut Schmidt war besonders traurig, als in der Nazizeit die Klassenreisen gestrichen werden sollten. Aber die Schüler protestierten und – siehe da – der Beschluss wurde wieder rückgängig gemacht. Diese Klassenfahrten waren eigentlich Wanderungen, und die Ziele lagen längst nicht so fern wie die der heutigen Schüler. Es ging zur Ostsee und in den Harz. Die Klasse wanderte von Ort zu Ort und schlief beinahe jeden Tag in einer anderen Jugendherberge. So lernte der Schüler Schmidt die nahen Mittelgebirge bis zur Porta Westfalica kennen und die Küste von Neustadt bis Stralsund. Er sah die Hansestädte, war beeindruckt von deren Backsteingotik. Daraus entwickelte sich seine, wie er sagte, »Liebe zur Heimat«. Drei wesentliche Eigenschaften hatte er dieser außergewöhnlichen, im besten Sinne elitären Schule für seinen Lebensweg zu verdanken: die Freude an der Musik, die Fähigkeit zum freien, über einzelne Disziplinen hinausgehenden Denken und die unverkrampfte Zuneigung zum Vaterland.

Er legte sein Abitur gerade noch rechtzeitig ab, bevor die Schule aufgelöst wurde. »Schmiddel«, wie manche ihn nannten, war Klassenprimus: Deutsch gut und sehr gut; Geschichte sehr gut; Religion gut; Englisch mündlich und schriftlich sehr erfreuliche Leistungen; Mathematik mündlich und schriftlich sehr erfreuliche Leistungen; Physik guter Überblick; Chemie-Kenntnisse und -Verständnis sind erfreulich; Musik-Begabung und Leistung sehr gut; Turnen: Seine Mitarbeit und sein kameradschaftliches Verhalten sind tadellos.

Es sollte nicht mehr lange dauern, bis er eingezogen wurde und in den Krieg musste. Und es dauerte noch viel länger, bis er seine Heimat, bis seine Heimat ihn wiederhatte.

Helmut Schmidt - Ein Leben für Deutschland

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