Читать книгу Helmut Schmidt - Ein Leben für Deutschland - Michael Schwelien - Страница 12
Modern, musisch, elitär – die Lichtwarkschule
ОглавлениеNeben der frühen musischen Prägung war für Helmut Schmidts Entwicklung die Tatsache entscheidend, dass die Eltern ihn, wie auch den Bruder, auf die Lichtwarkschule schickten. Diese avantgardistische Einrichtung war 1914 gegründet worden, konnte aber erst 1925, nach elfjähriger Bauzeit, ihr eigenes Schulgebäude beziehen. Sie war benannt nach Alfred Lichtwark, einem Förderer der Kunst für das Volk, der auch der erste Direktor der Hamburger Kunsthalle war. 1929 kam Schmidt als Zehnjähriger in die Sexta.
»Der Eintritt«, so schrieb er in der 1996 erschienenen Broschüre Die Lichtwarkschule, »führte mich in eine völlig unerwartete Atmosphäre.« Bescheiden wie so häufig schränkte er in diesem Rückblick ein, er sei zu der Zeit, als die Schule schon von den Nazis bedrängt wurde – also in der Endphase seiner Schulzeit 1933 –, »wahrscheinlich« noch zu jung gewesen, um Leistungen und Defizite der Schule beurteilen zu können. Doch noch als Achtzigjähriger vermochte er sich präzise an die drei wichtigsten Arbeiten zu erinnern, die er an der Lichtwarkschule abzuliefern hatte. Es waren »Projekte«, wie man heute sagen würde. Schmidt sprach von Jahresarbeiten. Das Wort »Projekt« mochte er nicht. Es entstammt der modernen Pädagogik von heute, von der er nicht sonderlich erbaut war. Für die moderne Pädagogik seiner Kinder- und Jugendzeit allerdings hatte Schmidt lobende Worte. Er habe damals »selbstständiges Arbeiten« gelernt.
Seine erste Jahresarbeit behandelte ein kunstgeschichtliches Thema, die »Weserrenaissance«. Schmidt schrieb über die Bauwerke in Hameln. Er war gerade 13 Jahre alt, und seine Klasse hatte, auch das war seinerzeit durchaus unüblich, eine Reise ins Weserbergland gemacht. Auf dieser Reise nach Hameln wurde eine Begeisterung in dem jungen Menschen geweckt, die ein Leben lang anhielt. Später sagte Schmidt häufig, er wäre vermutlich Architekt geworden, hätte er nach dem Krieg genügend Geld für das Studium gehabt. Ein bestimmtes Baumaterial hatte es ihm angetan, der Backstein. Schmidt mochte diesen norddeutschen Baustoff so sehr, dass er alles daransetzte, François Mitterrand nach Lübeck einzuladen. Angesichts der gotischen Lübecker Marienkirche aus Backstein und des Doms, befand Schmidt stolz, habe der Franzose »Bauklötze gestaunt«.
Ebenso dürfte es aber auch dem jungen Helmut ergangen sein, als er Hameln besuchte, die Stadt des sagenhaften Rattenfängers. Das im späten Mittelalter mit der Hanse verbundene Hameln war im 16. und 17. Jahrhundert eine bedeutende Handelsstadt. Dort kreuzten die alten Handelsstraßen von Minden nach Hildesheim und von Paderborn nach Hannover den schiffbaren Teil der in die Nordsee fließenden Weser. Die Welfen hatten sich Hameln bereits Ende des 13. Jahrhunderts unterworfen. Dreihundert Jahre später, zur wirtschaftlichen Blütezeit, wurden an der heutigen Osterstraße das Leist’sche Haus und das Hochzeitshaus gebaut. Ebenfalls zur Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entstanden der Rattenkrug, das Rattenfängerhaus, das Dempterhaus und das Stiftsherrenhaus, die Bauwerke der Weserrenaissance, die den jungen Schmidt so sehr beeindruckten, dass er sie zum Thema seiner Jahresarbeit wählte.
Das Thema des nächsten Jahres scheint eher auf die Interessen des späteren Weltökonomen hinzudeuten. Als 14-Jähriger untersuchte Helmut Schmidt die Konkurrenz der Seehäfen Antwerpen, Rotterdam, Bremen und Hamburg. Vielleicht hat er dieses Thema auch in einer gewissen Kontinuität zu dem vorherigen gesehen. Schließlich ging es in Hameln indirekt auch um Schifffahrt und Handel.
Bei der folgenden Arbeit kam wieder das Musische zum Vorschein. Schmidt, nun bald 17, setzte 20 Kinderlieder als vierstimmige Choräle, also in Alt, Sopran, Tenor und Bass. Am Chorsingen hatte er auch in der Schule mehr Spaß als am Klavierspiel. Sein Lieblingslehrer war der Zeichenlehrer John Börngen, genannt »Jonny«, der ihnen nicht nur das Zeichnen, Malen und Drucken beibrachte, sondern währenddessen auch mit den Schülern die Lieder der Dreigroschenoper schmetterte.
Die Lichtwarkschule hatte zwei Orchester und zwei Chore. In Schmidts Klasse unterrichtete Ludwig Moormann Musik. Er ließ die Schüler im Musikunterricht vierstimmig a cappella singen, bisweilen vom Blatt. Das war eine Leistung, die man, wie Schmidt es im Rückblick sah, »in den meisten heutigen Schulen kaum noch fertigbringen würde«. Größere Sympathien als für Herrn Moormann hegte Schmidt jedoch für den Orchester- und Chorleiter Hermann Schütt, den sie »Papi« nannten. Er führte mit den Schülern Opern auf und gab große Konzerte auf den Schulfesten. Sie spielten Bach, eine Selbstverständlichkeit in Hamburg. Aber Schütt führte auch Buxtehude und Hindemith, Orff und Strawinsky auf, teils äußerst schwierige Partituren. Der junge Schmidt, der daheim gar nicht so gern am Klavier übte, ließ sich im Orchester von Papi mitreißen.
Großer Wert wurde in der Lichtwarkschule auf Sport gelegt. An jedem Schultag gab es eine Stunde »Turnen«, wie es damals hieß. Neben den Lehrern Börngen und Schütt hatte Schmidt den Turnlehrer Ernst Schöning zu seinem dritten Leitbild auserkoren. Er schilderte ihn als einen »gütigen« Mann mit »großem Einfühlungsvermögen«. Das sind nicht gerade Attribute, die man mit einem Sportlehrer verbindet. Zwar, sagte Schmidt, habe Ernst Schöning es natürlich verstanden, den sportlichen Ehrgeiz der Jungen zu wecken. Aber er stellte vor allem Schönings Verständnis für die persönlichen Probleme heranwachsender Jungen heraus. In einer Zeit, da Jungen »hart wie Kruppstahl« sein sollten, zeigte ein Lehrer sich für die emotionalen Verwirrungen seiner pubertierenden Schüler aufgeschlossen, was Helmut Schmidt offensichtlich stark beeindruckt hat. Es ist ein weiterer Hinweis darauf, wie sehr die experimentierfreudige Bildungsstätte Helmut Schmidt geprägt hatte, obwohl dies dem Mann später, durch die Schrecken des Krieges und die Nöte der Nachkriegszeit buchstäblich gehärtet, kaum anzusehen war.
Ungewöhnlich für jene Zeit war auch, dass an der Lichtwarkschule Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden. »Koedukation« war damals sehr selten, und für die Nazis, die noch vor Ende von Schmidts Schulzeit die Macht an sich reißen sollten, war eine solche Schule schon beinahe eine Erscheinungsform des »Kulturbolschewismus«. Schmidt scheint indes von der Koedukation nicht sonderlich bewegt gewesen zu sein. »In der Lichtwarkschule bin ich zum ersten Mal mit Mädchen in Berührung gekommen; ich erinnere mich jedoch nicht, dass dies für mich eine Sensation gewesen wäre.«