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Vorwort zur ersten Ausgabe
Оглавление»Herr Schwelien, Sie sind ein Yuppie«
Es war ein Freitagnachmittag im Frühjahr 1983. Obwohl es im April in Hamburg für gewöhnlich regnet, schien an diesem Tag die Sonne. Mein Kollege Erwin Brunner und ich wären gern nach Hause gegangen, aber freitags um 16. Uhr wurde damals immer die Hauptkonferenz der Zeit abgehalten. So mussten wir bleiben und warten.
Wir hatten vor, einen Artikel, eines jener umfangreichen Zeit-»Dossiers«, über atomwaffenfreie Zonen zu schreiben. Die Einrichtung solcher atomwaffenfreien Zonen war seit dem Zweiten Weltkrieg von namhaften Außen- und Sicherheitspolitikern immer wieder vorgeschlagen worden. Sie hofften, ganze Staaten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs zu entnuklearisieren und dadurch das Risiko eines Atomkriegs zu verringern. Aber jetzt, zu Beginn der Achtzigerjahre, war von einer anderen Art »atomwaffenfreier Zone« die Rede. Pfarreien, kleine Gemeinden, gelegentlich die eine oder andere Großstadt erklärten sich für »atomwaffenfrei«. Dadurch wurde natürlich nicht ein einziger atomarer Sprengkopf von einer Rakete abmontiert, nicht die Stationierung einer einzigen Cruise-Missile verhindert. Wenn jemand seinen Sprengel für atomwaffenfrei erklärte, dann war das nichts anderes als ein Ausdruck von Protest.
Allerdings war die Protestbewegung groß in jenen Jahren. Sie richtete sich gegen den sogenannten Doppelbeschluss der NATO. Das nordatlantische Militärbündnis hielt damals noch fest zusammen. Es hatte eine klare Zielsetzung, nämlich einen Angriff durch die Sowjetunion und ihre im Warschauer Pakt organisierten Vasallenstaaten zu verhindern und abzuwehren. Es war Helmut Schmidt, der ein »Fenster der Verwundbarkeit« entdeckt hatte. Die Sowjets rüsteten mit Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 mächtig auf. Diese Raketen bedrohten vor allem Westdeutschland. Und der deutsche Bundeskanzler befürchtete, nach einem Angriff auf die Bundesrepublik würden die Amerikaner womöglich nicht bereit sein, ihre Bündnispflicht zu erfüllen und ihrerseits mit Interkontinentalraketen gegen die Sowjets zurückzuschlagen. Denn, so argumentierte Schmidt, die Amerikaner dürften wenig geneigt sein, ihre Großstädte zu opfern, wenn eine deutsche Stadt zerbombt wird. Also führte er den Doppelbeschluss herbei. Es sollte zum einen mit der Sowjetunion verhandelt werden, damit diese ihre SS-20 zurückzöge. Und es sollte zum anderen der Westen seinerseits Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper nahe der Grenze aufstellen, um den Osten zum Einlenken zu zwingen. Der Protest richtete sich vor allem gegen diesen zweiten Teil des Doppelbeschlusses. Die Gegner meinten, der Westen solle nur verhandeln, aber auf eine eigene Nachrüstung verzichten, sonst drohe ein neuer Rüstungswettlauf. Später im Verlauf des Jahres 1983 blockierten sie den amerikanischen Armeestützpunkt im schwäbischen Mutlangen, wo die ersten Pershing-II-Raketen aufgestellt werden sollten. Zu den Blockierern, die nicht wichen, sondern sich von der Polizei wegtragen ließen, zählte auch Otto Schily. Knapp zwanzig Jahre später verurteilte er, inzwischen deutscher Innenminister mit einem Habitus von Unnachgiebigkeit, solche Aktionen aufs Schärfste. Damals wähnte er sich im Recht, sah sich als Teil einer moralisch legitimierten Mehrheit.
Der Protest zerriss die Bundesrepublik. Es kam zu den größten Demonstrationen ihrer Geschichte. Besonders schmerzlich für Bundeskanzler Schmidt war die Tatsache, dass seine eigene Partei, die SPD, mehrheitlich auf der Seite der Nachrüstungsgegner stand.
1983 war er allerdings schon nicht mehr im Amt. Die von ihm geführte rot-gelbe Koalition zerbrach am 17. September 1982, als die vier der FDP angehörenden Minister ihren Rücktritt erklärten.
In dem halben Jahr zwischen September 1982 und April 1983 war vom Altkanzler nicht allzu viel zu hören. Er hielt einige gut bezahlte Reden, beteiligte sich aber nur wenig an dem Wahlkampf, den sein Nachfolger Helmut Kohl durch die auf den März 1983 vorgezogene Neuwahl herausgefordert hatte. Vielmehr schlüpfte Schmidt in die Rolle des Elder Statesman. Ihm gefiel diese amerikanische Art, nach dem Ausscheiden aus dem Amt die Politik durch weise Ratschläge, sei es unter vier Augen, sei es durch öffentliche Erklärungen, weiterhin zu beeinflussen. Und natürlich wünschte er sich, dass der Doppelbeschluss, nun das Erbe des CDU-Politikers Kohl, den auf gegenseitiger nuklearer Abschreckung basierenden Frieden stabilisieren würde.
Brunner und ich hatten für unseren Artikel über die atomwaffenfreien Zonen im Archiv gestöbert. Wir gaben dem Beitrag die ironische Überschrift »Kleingärten des Friedens«. Nicht ohne Grund: Im hessischen Kirchspiel Mümling-Grumbach/Hummetroth schlug ein Pastor Klaus Schimmel ein Schild mit der Aufschrift »Atomwaffenfreie Zone« an sein Pfarrhaus. In Dieburg beantragte das Ehepaar Hans und Eleonore Kauffmann für sein Grundeigentum Flur 10 Nr. 273 und 275 einen Zusatzeintrag im Grundbuch: »Auf dem Grundstück dürfen weder Atomwaffen noch andere Waffen hergestellt, gelagert, transportiert oder gebraucht werden.« Sehr viel früher, nämlich im Herbst 1957, hatte der polnische Außenminister Adam Rapacki der UN-Vollversammlung eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa vorgeschlagen. Sie sollte die beiden deutschen Staaten, Polen und die Tschechoslowakei umfassen. Es war ein Gedanke, der auch auf der anderen Seite des Atlantiks Widerhall fand. Der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan stellte im Dezember jenes Jahres einen Disengagement-Plan vor: Keine Kernwaffen in Deutschland, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Abzug aller ausländischen Truppen aus diesen Ländern; Ausscheiden Deutschlands aus den Militärbündnissen. Kennan formulierte auch die Containment-Politik, die Politik zur Eindämmung des sowjetischen Einflusses. Diese wurde zur Richtschnur westlichen Handelns. Seine Gedanken zur Abrüstung gerieten hingegen in Vergessenheit – allerdings nicht völlig.
Wir waren im Archiv auch auf eine alte Rede von Helmut Schmidt gestoßen. Mit ihr fing unser »Dossier« an:
Eine stürmische Sitzung im Bundestag. Von ständigen Zwischenrufen aus den Reihen der CDU und CSU unterbrochen, versucht ein junger Sozialdemokrat, seine provozierende Rede zu Ende zu bringen: »Wir wollen Deutschland sicherlich nicht schutzlos lassen …« (Zuruf von der Mitte: »Das machen Sie aber!«) »… und erst recht nicht den Sowjets ausliefern … Weswegen sind Sie denn nicht bereit, über die atomwaffenfreie Zone zu sprechen, damit in Polen, damit in der DDR, damit in der Tschechoslowakei, damit bei uns keine Atomwaffen stationiert werden? Warum machen Sie keine Vorschläge?«
(Zuruf von der CDU/CSU: »Was hat denn Strauß gemacht?«)
»Weswegen kann man nicht aus der atomwaffenfreien Zone eine Zone entwickeln, aus der Schritt für Schritt und in gleichen Prozentsätzen die stationierten Kräfte der Sowjets wie auch der Amerikaner abgezogen werden?«
Der Abgeordnete, der sich da lautstark gegen die Regierungsparteien durchsetzt: Helmut Schmidt. Die Bundestagsdebatte fand am 22. März 1958 statt.
Wir hatten auch bei der Bezirksversammlung von Hamburg-Eimsbüttel recherchiert. Diese hatte mit den Stimmen von SPD und Grün-Alternativer Liste am 27. Januar 1983 den Beschluss gefasst, die Bundesregierung aufzufordern, »keine Maßnahmen auf dem Gebiet des Bezirks Eimsbüttel zu veranlassen, die der Produktion, dem Transport, der Stationierung oder der Lagerung von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungsmitteln dienen«. Uns war etwas von einem geselligen Eimsbütteler Sozialdemokraten zu Ohren gekommen, bei dem auch Schmidt zugegen war. Er hatte sich über den Beschluss seiner Genossen derb mokiert. Mit diesen Informationen setzten wir unseren Artikel fort:
Elder Statesman Helmut Schmidt dagegen hält nichts von den Beschlüssen einzelner Gemeinden und Stadtbezirke, sich zu atomwaffenfreien Kommunen zu erklären. Nachdem in seiner Heimatstadt die Bezirksversammlung Eimsbüttel mit den Stimmen von SPD und Grün-Alternativer Liste ebendas getan hatte, spottete er: »Da müssen die Eimsbütteler dem Marschall Ustinov erst einmal einen Stadtplan von Hamburg schicken, damit er weiß, wo Eimsbüttel aufhört und wo Harvestehude beginnt.«
An jenem Freitagnachmittag, während wir auf die Konferenz warteten, ging es plötzlich wie ein Lauffeuer durch die Redaktion: Gerd Bucerius, der Eigentümer der Zeit, hat Helmut Schmidt gewonnen: Der Altkanzler wird Mitherausgeber der Zeit.
Wie beinahe jeder in der Redaktion fragten auch Brunner und ich uns, was das für uns bedeuten konnte. Später, als Schmidt – wie immer eskortiert von seinen Leibwächtern des Bundeskriminalamts – zum ersten Mal durch die Redaktion schritt, sollte sich zeigen, wie stark die Zustimmung war. Alle standen vor ihren Zimmertüren und klatschten Beifall.
Redaktionen sind politisch heterogene Gebilde, besonders die der Zeit. Theo Sommer, der langjährige Chefredakteur, hatte gerade damals, im März 1983, in einem Leitartikel anlässlich der bevorstehenden Bundestagswahl geschrieben, »manche« in der Redaktion würden wohl CDU/CSU wählen, »andere« die SPD, »viele« die FDP und »ebenso viele« die Grünen. Darauf fragte Benjamin Henrichs, der bissige Theaterkritiker, woher Sommer das denn wisse, ob er wirklich gründlich recherchiert habe. Irgendjemand kam auf die Idee, sofort eine geheime Probeabstimmung durchzuführen. Und siehe da: Die allermeisten Redakteure wollten die Grünen wählen, viele die SPD, einige wenige die FDP und nur ein einziger die CDU/CSU. Sehr viel früher hätten die Redakteure bei der Zeit sicher anders abgestimmt, heute würden sie auch wieder anders votieren. Aber damals, kurz bevor Schmidt kam, hatten die Grünen und die Sozialdemokraten eine absolute Mehrheit in der Redaktion.
Würde Schmidt das Blatt zu sehr in Richtung seiner Partei SPD rücken? Das war die Sorge auch derer, die ihm nahestanden. Brunner und ich hatten noch ein spezielles Problem: unseren Artikel. Würden wir den frechen Anfang beibehalten dürfen? Und wie würde man zukünftig mit dem Politiker Schmidt umgehen, der ja fortan der Redaktion vorstehen sollte?
Theo Sommer war auf diese Fragen vorbereitet. Er hatte stets ein offenes Ohr für seine Leute. Der zupackende, sportliche Mann verlangte sich selbst stets das Äußerste ab. Sechzig-Stunden-Wochen waren für ihn keine Seltenheit. Er war bereit, wenn die Aktualität es forderte, die wichtigsten Seiten des Blatts, die »Eins« und die »Drei«, auch noch kurz vor Redaktionsschluss in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch neu aufzureißen. Dabei schrieb und redigierte er bis in die frühen Morgenstunden. Sommer führte, indem er die Leute mitriss und begeisterte. Wenn es zu Konflikten kam, und es gab immer wieder heftige Auseinandersetzungen, war er nie nachtragend. Niemand scheute sich, offen seine Meinung zu sagen. Dadurch gedieh ein politischer Pluralismus, der viel mehr Leser ansprach als der ängstliche Konservatismus, von dem die Zeit in früheren Jahren geprägt war. Und es herrschte ein inneres Klima, das den Chefredakteur in die Lage versetzte, stets auch zu wissen, worüber in der Redaktion gesprochen wurde.
Wir hätten unsere Frage eigentlich nicht zu stellen brauchen. Kaum hatte die Konferenz begonnen, da stellte Sommer klar: »Helmut Schmidt wird behandelt wie die Person der Zeitgeschichte, die er schließlich ist.« Helmut Schmidt würde von dieser Redaktion nicht in Watte gepackt werden, Kritik an ihm wäre nicht tabu. Unser »Dossier« erschien wie geplant in der nächsten Ausgabe.
Das Leitmotiv, das Sommer damals vorgab, soll heute, beinahe zwanzig Jahre später, auch für dieses Buch gelten. Schmidt ist eine herausragende Persönlichkeit. Er war der fähigste und intelligenteste Kanzler, den die Bundesrepublik Deutschland je hatte. Dass große Teile seiner eigenen Partei in der bedeutendsten außenpolitischen Entscheidung seiner Amtszeit, dem erwähnten NATO-Doppelbeschluss, nicht hinter ihm standen, schmerzte ihn – er war daran aber nicht ganz unschuldig. Die Kehrseite von Schmidts ungeheurer Auffassungsgabe ist die Ungeduld, die seines Pflichtbewusstseins die Arroganz.