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AUFBRUCH INS UNBEKANNTE
ОглавлениеDie Vorbereitungen für die Verabschiedung aus Neuseeland beflügelten die Männer, und Scott plante, am 21. Dezember 1901 von Lyttelton, dem Hafen von Christchurch, aus in See zu stechen und in Port Chalmers, dem Hafen von Dunedin, einen letzten Zwischenhalt einzulegen, um den Kohlevorrat für die Fahrt über den tückischen Südlichen Ozean aufzustocken. Doch der Start des gewagten Unterfangens war infolge des tödlichen Unfalls von Charles Bonner alles andere als gelungen.
Der Tag der Abfahrt hatte gut begonnen, die Stimmung war fröhlich und ausgelassen. Die Einheimischen hatten die Ankunft der Discovery in Neuseeland mit großem Interesse verfolgt, und nun waren Tausende von ihnen in den kleinen Hafen gekommen, um Scott und seinen Begleitern Lebewohl zu sagen. Der Wunsch, einen letzten Blick auf die Entdecker zu werfen, war so verbreitet, dass Sonderzüge eingesetzt werden mussten, um die Schaulustigen aus dem nahen Christchurch heranzukarren. Im Hafen angekommen, wurden sie von Kapellen, tutenden Schiffssirenen und einer begeisterten Menschenmenge empfangen, die den mutigen Männern zuwinkte und sie hochleben ließ.
Der Bischof von Christchurch kam an Bord, hielt eine kurze Andacht ab und segnete die Forschungsreisenden. Kurz darauf geleiteten das Kriegsschiff Lizard und Creans früheres Schiff, die Ringarooma, die schwer beladene Discovery aus dem Hafen von Lyttelton hinaus. Scott berichtete gar von fünf weiteren, feierlich geflaggten Dampfern, die mit Menschen vollgepackt waren und sie auf den ersten Metern ihrer langen Reise begleiteten.
Auf Kais und Molen standen begeisterte Menschen dicht gedrängt. Es war tatsächlich eine würdige Verabschiedung.1
William Lashly, der Heizer, der gemeinsam mit Crean in die Annalen der Arktiserkundung eingehen sollte, sprach von »Hunderten«, die die Discovery hochleben ließen, und ergänzte:
Unser Aufenthalt in Lyttelton war anstrengend, aber schön. Die Menschen hier scheinen mir sehr nett und hilfsbereit zu sein. Und sie gehen offenbar davon aus, dass uns vor der Abfahrt etwas Unterhaltung guttun könnte. Die Verabschiedung war sehr herzlich. Alle Schiffe, die im Hafen lagen, haben uns bis an den Ausgang der Bucht begleitet, uns Gottes Segen und eine wohlbehaltene Rückkehr gewünscht.2
Doch dann kam Bonner zu Tode. Bonner, der junge Seemann, der erst dreiundzwanzig Jahre alt war und aus Bow im Londoner East End stammte, war im Juni 1901 von der HMS Jupiter auf die Discovery gewechselt. Er gehörte zu den ersten Männern, die Scott für seine Expedition rekrutierte.
Die emotionale Verabschiedung scheint den Seemann zum Leichtsinn verführt zu haben. Er hatte bereits stark dem Alkohol zugesprochen, und während die Discovery langsam den Hafen von Lyttelton verließ, kletterte er von seinem Platz im Krähennest zum Topp des Großmastes, um von dort einen exklusiven Ausblick auf die Vorgänge tief unter ihm zu genießen. Was dann geschah, hielt Scott in seinem Buch fest:
Hoch oben auf dem Flaggenkopf sitzend, hatte er wie die anderen gewinkt und gejubelt, bis er sich in einem Anflug von Übermut aufrichtete und sich nur noch an dem dünnen Flaggenstock im Topp halten konnte. Was genau dann geschah, werden wir nie erfahren; vielleicht war es eine Welle, die ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Zu uns, die wir an Deck standen, drang ein lauter Schrei, und als wir aufblickten, sahen wir eine Gestalt, die auf uns zuraste und dabei den Flaggenstock aus dem Topp fest umklammerte. Dann landete sie kopfüber auf der Ecke eines eisernen Deckshauses. Der Tod trat unmittelbar ein.3
Lashly, stets ein Mann der klaren Worte, notierte in seinem Tagebuch:
Er verlor das Gleichgewicht, als das Schiff in der ersten Welle überholte, und stürzte auf das Deck, den Flaggenstock noch in der Hand.4
Edward »Bill« Wilson, seines Zeichens Schiffsarzt und Zoologe auf der Discovery, hielt fest, dass viele der hartgesottenen Seeleute das Ereignis als Tragödie empfanden, an der sie schwer zu schlucken hatten. Seinem Tagebuch vertraute er an, dass viele Männer »weinten wie Kinder«, und der Schiffszimmermann James Duncan meinte, der Unfall habe »die Stimmung an Bord nachhaltig verschlechtert«.5 Matrose Sinclair, der Bonner wohl eine Flasche Whisky gegeben hatte, bevor der in den Großmast aufgeentert war, klaute sich daraufhin etwas Zivilkleidung zusammen und verschwand. Scott beschrieb den Vorfall als »eine jener Tragödien, die einem die harte Wirklichkeit des Lebens in Erinnerung rufen«, und wusste zu berichten, dass auf dem ganzen Schiff »Trauer und Betroffenheit« lasteten. Bonner wurde am 23. Dezember, kurz nach der Ankunft in Port Chalmers, bestattet. Und wie zum Beweis der These von der »harten Wirklichkeit des Lebens«, in diesem Falle des entbehrungsreichen Lebens, das unter Deck der Schiffe der britischen Navy zur Zeit König Edwards herrschte, führte Scott in seinem Bericht an die Königliche Geografische Gesellschaft aus, dass »Bonners persönliche Habe und die wenigen Kleidungsstücke, die ihm gehörten«, an Bord der Ringarooma verkauft werden sollten. Der Erlös, so der knappe Kommentar, »dürfte sehr gering ausfallen«.
Für Bonner kam nun aber nicht Crean an Bord, sondern Jesse Handsley aus Gloucester, der gemeinsam mit Crean auf der Ringarooma gedient und sich ebenfalls freiwillig gemeldet hatte.
Der Abschied von Port Chalmers am Weihnachtsabend 1901 fiel ungleich verhaltener aus als der von Lyttelton drei Tage zuvor, denn noch standen alle unter dem Eindruck des Todes von Bonner. Das Schiff, bis oben hin mit Kohle, Proviant und lebendem Vieh bepackt, verabschiedete sich um 9:30 Uhr Ortszeit von der Zivilisation und dampfte schwerfällig davon. Louis Bernacchi, der Physiker der Expedition, notierte, dass »kein Winkel und keine Nische des Schiffes ungenutzt geblieben« waren, sodass »die Freibordmarke so weit unter Wasser lag, dass sie in Vergessenheit geriet«. Die Verhältnisse an Bord beschrieb er als »ein Durcheinander, das eines Schiffes unwürdig war«.
Auch wenn dieser zweite Aufbruch still und leise verlief, ließ es sich die Ringarooma nicht nehmen, die Discovery auf den Weg zu bringen, und so konnte Crean seinen Kameraden persönlich Lebewohl sagen. Bis die Discovery aus dem Süden zurück sein und wieder in Lyttelton festmachen würde, sollten zweieinhalb Jahre vergehen.
Der Weihnachtstag 1901 verlief sicherlich anders, als Crean und die anderen Männer es sich je hätten erträumen lassen. Die Discovery bewegte sich langsam Richtung Süden – an Bord die erste britische Expedition, die wieder Richtung Antarktis fuhr, seit Sir James Clark Ross es sechzig Jahre zuvor zuletzt gewagt hatte. Nach Feiern war offenbar niemandem zumute, die Stimmung an Bord eher nachdenklich. Die Erinnerung an Bonners Tod war noch zu frisch, und einige der traditionell abergläubischen Seeleute werden den Unfall als schlechtes Omen für die gesamte Reise aufgefasst haben.
In der Gewissheit, dass er mindestens ein Jahr lang keinen Kontakt mit der Zivilisation haben würde, notierte Scott:
Den Weihnachtstag verbrachten wir in den endlosen Weiten des Südlichen Ozeans, aber der Abschied von unserem Freund lag erst so kurz zurück, dass niemandem von uns nach Feiern zumute war, und so verstrich der Tag ereignislos.6
In Gedanken an den Tod Bonners wurde das traditionelle Weihnachtsessen vertagt und am 5. Januar nachgeholt. Da hatte die Discovery den südlichen Polarkreis bereits gequert. Der Schiffszimmermann Duncan, der aus Dundee stammte, dem Heimathafen der Discovery, beschrieb die melancholische Stimmung, die zum Jahreswechsel an Bord herrschte, während das Schiff sich durch den Südlichen Ozean arbeitete, wie folgt:
Der Neujahrsmorgen begann mit gutem Wetter und ließ mich an die Lieben daheim denken, die gut 25 000 Kilometer entfernt sind. Wir befinden uns so weit im Süden wie seit einem Jahrhundert kein Schiff mehr und fernab jeglicher Zivilisation. Wann wir zurückkehren, steht in den Sternen. Hoffen wir das Beste.7
Immerhin war der Discovery gutes Wetter beschieden, was in Anbetracht der überquellenden Decks und des berüchtigten Reviers, in dem sie sich befanden, ein echter Glücksfall war. Der Südliche Ozean ist das wind- und wellenreichste Gewässer der Erde, und ein starker Sturm wäre für das Schiff eine ernsthafte Bedrohung gewesen. Scott war sich der Tatsache bewusst, dass schlechtes Wetter »extrem unangenehme Folgen« gehabt hätte, und innerlich darauf eingestellt, im Falle eines Falles die Decksladung aufzugeben – ein Wirrwarr aus Proviantkisten, Kohlehalden, fünfundvierzig verängstigten Schafen sowie dreiundzwanzig heulenden Hunden.
Den ersten Eisberg sichteten die Männer der Discovery am 2. Januar 1902 auf 65°30' südlicher Breite. Tags darauf querten sie den südlichen Polarkreis, der auf 66°33'55" S verläuft, und hielten sich Bernacchi zufolge an die alte Sitte, die es den Matrosen erlaubt, den aus diesem Anlass fälligen Drink auf dem Tisch der Messe stehend zu sich zu nehmen. Man stelle sich den kräftig gebauten Crean vor, wie er zum ersten Mal an diesem Ritual teilnimmt. Viele weitere Male sollten folgen.
Die erste Sichtung von Antarktika fand laut Logbuch am 8. Januar 1902 um 22:30 Uhr statt. Scott notierte:
Wer nicht an Deck war, kam angelaufen, um einen ersten Blick auf den antarktischen Kontinent zu werfen. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel über dem südlichen Horizont und beleuchtete die Szenerie taghell.8
Bernacchi, dessen Wurzeln in Italien lagen, äußerte sich ausführlicher und emotionaler zu dem Ereignis, obwohl er der Einzige an Bord war, der sich nicht zum ersten Mal in diesen Breiten aufhielt. Er hatte als Physiker die Expedition des Norwegers Carsten Borchgrevink mitgemacht, die 1899 an Bord der Southern Cross zum ersten Mal in der Geschichte einen Winter in der Antarktis verbracht hatte. Doch auch beim zweiten Mal hatte die Landschaft, die sich vor ihm auftat, nichts von ihrer Faszination verloren.
Der Anblick, der sich uns bot, war von einer überwältigenden, nicht für möglich gehaltenen Schönheit, und so blieben wir bis zum nächsten Morgen an Deck.9
Ungeachtet der langen Dauer der Expedition, zeichnete Bernacchi in seinem Buch The Saga of the Discovery ein durchweg positives Bild vom Alltag an Bord, ein Bild, das nicht in allen Punkten mit dem übereinstimmt, was andere berichteten. Bei ihm hieß es etwa:
Über die volle Länge der dreijährigen Reise betrachtet, kann man die Discovery durchaus als ein glückliches Schiff bezeichnen. Ich kann mich nicht an einen einzigen ernsthaften Streit erinnern, weder unter den Offizieren noch unter Mitgliedern der Mannschaft. Auf ihr herrschten Friede und Eintracht.10
Die Beschreibung widerspricht dem, was wir aus anderen Quellen wissen, und ignoriert, dass die einfachen Crewmitglieder durchaus Anlass hatten, sich zu beklagen. Denn ungeachtet der widrigen äußeren Bedingungen blieben sie den strengen Regeln der Dienstordnung und den rigiden Vorgaben des militärischen Gehorsams unterworfen. Thomas Williamson, einer von Creans Kameraden, hielt in seinem Tagebuch eine Beschreibung vom ebenso anstrengenden wie nervtötenden Alltag fest, die sich von Bernacchis Schilderung deutlich unterscheidet:
Die Monotonie, mit der wir jeden Morgen das Deck schrubben müssen, selbst in der Antarktis und bei Temperaturen, die weit unter dem Gefrierpunkt liegen, ist nur schwer zu ertragen. Offenbar sind die Vorgesetzten nicht fähig, die Vorschriften anders auszulegen als wortwörtlich (Du sollst das Deck schrubben, wo auch immer das Schiff sich befindet). … Sobald das Wasser aufs Deck trifft, gefriert es, und dann müssen wir mit Schaufeln das Eis aufsammeln, zu dem das Wasser erstarrt ist.11
Frank Wild, der sowohl mit Scott als auch mit Shackleton fahren und sich dabei stets bewähren sollte, machte keinen Hehl daraus, dass die Fahrt der Discovery seit dem Beginn der Reise auf der Isle of Wight von Problemen begleitet war, wie er in einem Brief in die Heimat bekannte: »Die Reise nach Neuseeland war weder interessant noch unbeschwert.«12
Der Chefmaschinist Reginald Skelton berichtete von einem Zwischenfall, der als weiterer Beleg für die Unzufriedenheit der Männer gelten kann. Zwei Heizern wurde die Ration Grog und Tabak gestrichen, weil sie sich, wie Skelton es nannte, in »deutlichen Worten« über ihr Essen beklagt hatten. Scotts Biograf Roland Huntford ist davon überzeugt, dass die Besatzung der Discovery unter der strengen Bordroutine litt, die unter den gegebenen Bedingungen gänzlich unangemessen war. Zudem seien die Männer schlecht informiert und deshalb verunsichert gewesen. Niemand, so Huntford, hatte es für nötig erachtet, sie darüber zu informieren, wohin die Reise ging und wie lange sie dauern würde.
Außerdem litt die am besten ausgerüstete Expedition, die das britische Königreich je Richtung Süden geschickt hatte, an einem eklatanten Mangel der Offiziere an Wissen um und Verständnis für die Bedingungen und Erfordernisse der Region, in der sie sich befanden. Nur drei Männer waren je zuvor im Eis gewesen. Bernacchi hatte Borchgrevink in die Antarktis begleitet, Kapitänleutnant Albert Armitage und der Schiffsarzt Reginald Koettlitz hatten vor einigen Jahren die Jackson-Harmsworth-Expedition in die Arktis mitgemacht.
Creans Kameraden an Bord der Discovery waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der vor allem durch die tiefe Verbundenheit jedes Einzelnen mit der Navy zusammengehalten wurde, eine Verbundenheit, die sich in erster Linie dem Einfluss Markhams verdankte.
Scotts Stellvertreter war Albert Armitage, ein Offizier der Handelsmarine, der von der Peninsular & Oriental Navigation Co. Ltd. kam. Zum Offizierskorps gehörten auch zwei Leutnants, die mit Scott schon auf der HMS Majestic gefahren waren: Michael Barne und Reginald Skelton. Leutnant Charles Royds konnte immerhin darauf verweisen, dass sein Onkel Wyatt Rawson früher einmal in der Arktis gewesen war. Der sechste und letzte Offizier war Ernest Shackleton, ein lebensfroher und beliebter Mann, der von der Handelsmarine gekommen war. Er stammte aus der irischen Provinz Kildare, war aber in Yorkshire und London aufgewachsen.
Neben Koettlitz war ein zweiter Arzt an Bord: Edward Adrian Wilson, den jedermann »Bill« nannte und der zu einem engen Freund Scotts wurde. Hartley Ferrar aus Dublin machte die Reise als Geologe mit, Thomas Hodgson, später Direktor des Plymouth Museum, als Biologe.
Die Männer von den unteren Decks waren zum Großteil bei der Royal Navy rekrutiert worden. Zu ihnen gehörten erfahrene Seeleute wie der Bootsmann Thomas Feather, der Zweite Maschinist James Dellbridge und der Maat Jacob Cross. Hinzu kamen Männer, die zu gefeierten Veteranen der Polarforschung während des Goldenen Zeitalters werden sollten, Männer wie Edgar »Taff« Evans, Ernest Joyce, Bill Lashly, Frank Wild und Thomas Williamson.
Bei aller Unterschiedlichkeit hatten diese Männer doch eines gemein: das Fehlen jeglicher Polarerfahrung. Bevor sie sich der Expedition anschlossen, hatten sich die wenigsten von ihnen für Fragen, die mit den Polen zusammenhingen, auch nur im Geringsten interessiert. Und so gab es auch keinen einleuchtenden Grund, warum ausgerechnet Scott die Leitung der Expedition übernahm. Das Einzige, was ihn dafür qualifizierte, war der Dienstgrad, den er in der Navy bekleidete. Interesse an der Antarktis hatte er bis dahin nicht erkennen lassen, und er hatte auch nie am eigenen Leib die Entbehrungen verspürt, die Kälte und Eis selbst den entschlossensten Männern abverlangen.
Zweifellos orientierte sich Scott bei seiner Fahrt gen Süden an fragwürdigen Strategien und Vorgaben, die der inzwischen siebzigjährige Markham obsessiv vertrat, obwohl er selbst nur auf einen kurzen Aufenthalt in der Arktis zurückblicken konnte, der überdies bereits fünfzig Jahre zurücklag.
In der Frage, wie man sich in Polarregionen am besten bewegen und das Überleben sichern kann, hatte es seit den 1850er-Jahren bedeutende Fortschritte gegeben, die in der Hauptsache auf die Reisen des erfahrenen und innovativen norwegischen Forschers Fridtjof Nansen zurückzuführen waren. Auch der Amerikaner Robert Peary galt als kompetenter Experte für Reisen zum Pol. Er hatte mehrere Bücher geschrieben, in denen die spezifischen Schwierigkeiten eines Aufenthaltes in der Arktis und deren Überwindung dargelegt waren.
Die Briten aber glaubten, eine unbekannte und menschenfeindliche Region wie die Antarktis bereisen zu können, ohne die Erkenntnisse und Errungenschaften der vergangenen fünfzig Jahre groß zur Kenntnis zu nehmen, und das mit einer Crew, die in der Hauptsache aus unerfahrenen und ungeübten Seeleuten und Wissenschaftlern bestand.
Die Discovery wagte sich weiter unter Land und ließ am 9. Januar 1902 in der Robertson Bay, unweit des Kap Adare, den Anker fallen, dort also, wo Borchgrevink – und Bernacchi – 1899 überwintert hatten. Ein paar der Männer statteten Borchgrevinks Hütte einen Besuch ab. Lashly ließ sich gar zu einer wehmütigen Geste hinreißen:
Ich habe einen Brief für meine Frau hinterlegt – vielleicht kommt eines Tages ein Briefträger vorbei und stellt ihn ihr zu.13
Für die Sicherheit der Expedition ungleich wichtiger war die Notiz, die in einem Metallzylinder deponiert wurde. Darauf vermerkt war die aktuelle Position der Discovery. Die Reise gen Süden hatte Scott mit nur sehr vagen Vorgaben angetreten, und so war es ihm überlassen, wo er anlanden und das Winterlager aufschlagen würde. Entsprechend schwer würde es Suchtrupps fallen, die Verschollenen aufzuspüren, sollte die Discovery vom Eis zerdrückt werden. In diesem Falle war die Botschaft, die im Zylinder steckte, die einzige Möglichkeit, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten.
Nachdem sie einige Wochen lang parallel zur Küste gefahren waren, erreichten sie am 30. Januar 1902 eine bis dahin unbekannte Halbinsel, die Scott zu Ehren des frisch gekrönten Königs Edward-VII-Land taufte. Es war die erste Entdeckung, die der Expedition in der Antarktis vergönnt war.
Am 3. Februar wurde ein Trupp losgeschickt, der auf Schlitten das Hinterland erkunden sollte. Mit dabei war auch Crean. Neben dem Iren waren Armitage, Bernacchi und drei weitere Männer ausgewählt worden, die sich auf eine kurze Exkursion nach Süden begaben, um die nähere Umgebung des Schiffes zu erkunden, insbesondere jenes Gebiet, in dem das Schelfeis auf Land traf. Die sechs Männer verbrachten eine ungemütliche Nacht in einem Zelt, das für drei Personen gedacht war, bevor sie am folgenden Nachmittag zur Discovery zurückkehrten. Trotz der Enge im Zelt hatten die Männer bitter frieren müssen, und so brachten sie die Erkenntnis mit zurück, dass die Temperaturen auf dem Schelfeis deutlich unter denen lagen, die auf dem Schiff herrschten. Bezahlt hatten sie diese Erkenntnis mit einer schmerzhaften Einführung in die Unbilden des antarktischen Klimas.
Neuland betraten gewissermaßen auch die, die an Bord geblieben waren. Sir Joseph Hooker, ein Veteran der Polarerkundung, hatte Scott geraten, vor Ort in einem mit Wasserstoff gefüllten Ballon aufzusteigen, um sich einen besseren Überblick über die Landschaft verschaffen zu können, in der sie sich befanden. Nun kletterte Scott persönlich in den winzig anmutenden Korb und wagte den Aufstieg. Dabei hätte er fast einen neuen »Rekord« aufgestellt – um ein Haar wäre er der erste Mensch geworden, der über der Antarktis mit einem Ballon abstürzt.
Nachdem Scott langsam bis auf 150 Meter Höhe aufgestiegen war, entschloss er sich, die Sandsäcke, die er als Ballast mitführte, abzuwerfen, woraufhin der Ballon rasant um gut hundert Meter in die Höhe schoss. Zu seinem Glück bremste das Gewicht der Kette den weiteren Aufstieg, und Scott konnte den Sinkflug einleiten. Von dem haarsträubenden Husarenstück seines Vorgesetzten unbeeindruckt, stieg der impulsive Shackleton in den Korb und hob seinerseits in die Lüfte ab. Ihm gelangen die ersten Luftaufnahmen von Antarktika, doch auch er sah nichts, was der Expedition irgend hätte weiterhelfen können. Wilson war durch das waghalsige Unterfangen derart verärgert, dass er es als »wahre Tollheit« bezeichnete, im Ballonfahren gänzlich Ungeübten zu erlauben, ihr Leben zu riskieren. Zu seiner Erleichterung wies der Ballon nach Shackletons Rückkehr ein Leck auf, und so wurde er nie wieder benutzt.
Weiterhin Sorgen bereiteten allerdings der Umstand, dass vor dem Wintereinbruch dringend ein Standort für das Lager gefunden werden musste, und vor allem die Gefahr, dass die Discovery vorher im Eis einfror. Am 8. Februar hatte das Schiff die Einfahrt in den McMurdo-Sund im Rossmeer erreicht, über den sich am Rande des Ross-Schelfeises der Vulkan Mount Erebus erhebt. Es wurde beschlossen, dort das Basislager der Expedition aufzuschlagen. Kurz darauf ging der erste Erkundungstrupp an Land und begann damit, auf einer felsigen Landzunge eine Holzhütte zu errichten. Sinnigerweise erhielt die Landzunge den Namen »Hut Point«.
Ursprünglich war vorgesehen, dass die Discovery rechtzeitig vor dem Winter nach Neuseeland zurückkehrte und nur eine kleinere Vorhut zurückließ, die für den kommenden Frühling und Sommer die eigentliche Expedition vorbereiten sollte. Doch als eine geschützte Bucht gefunden war, in der das Schiff den antarktischen Winter voraussichtlich schadlos überstehen konnte, änderte Scott die Planung. Er rechnete damit, dass das Schiff, selbst wenn es während des Winters einfrieren würde, spätestens im Frühjahr wieder einsatzfähig wäre. Das war ein Irrtum, wie sich herausstellte, und es sollte zwei Jahre dauern, bis das Eis die Discovery aus seinem Klammergriff wieder entließ.