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AUF DEM EIS ZU HAUSE
ОглавлениеHut Point, jener Ort, an dem die Discovery ihr Winterlager bezog, ist eine kleine vulkanische Landspitze am südlichen Ende der gleichnamigen, zur Ross-Insel gehörenden Halbinsel im McMurdo-Sund. Von hier aus sieht man den Gipfel des Mount Erebus, des südlichsten Vulkans der Erde, der sich majestätisch bis auf 3794 Meter über Meereshöhe erhebt.
Die flache Halbinsel reicht fast bis ans Ross-Schelfeis heran – jene gigantische Eismasse, die auf dem Südlichen Ozean schwimmt, mehrere Hundert Meter dick und etwa so groß wie Frankreich ist. Ihr Durchmesser beträgt bis zu 800 Kilometer, die Rossbarriere genannte Front ist 650 Kilometer lang. Die Fläche, die das Schelfeis bedeckt, gleicht einem überdimensionalen Dreieck, das auf der einen Seite von einer eindrucksvollen Bergkette gesäumt ist, die Richtung Südpol weist. Das Ross-Schelfeis bildet die hoch aufragende, Furcht einflößende und abweisende Pforte zum Transantarktischen Gebirge, das auf das bis zu 3000 Meter hohe Polarplateau und zum Südpol führt.
Benannt wurde es nach Sir James Clark Ross, den der faszinierende Anblick schon sechzig Jahre zuvor in Staunen versetzt hatte, weil die Barriere aus Eis höher war als die Masten seines Schiffes. Als Ross die Barriere passierte, verglich er es mit einer Fahrt »durch die Klippen von Dover«.
Bis die Sonne ein letztes Mal untergehen und sich vier lange Monate nicht zeigen würde, gab es für Crean und seine Kameraden alle Hände voll zu tun. Selbst Offizieren und Wissenschaftlern blieb keine Zeit, um sich mit den vor ihnen liegenden Strapazen zu befassen. Vorräte für drei Jahre wurden vom Schiff gebracht, darunter 19 000 Kilogramm Mehl, 1360 Kilogramm Roastbeef, 3600 Liter Rum und fünfundvierzig Schafe, die die Reise bislang schadlos überstanden hatten. Kaum weniger umfangreich war die Ausrüstung, zu der Kleidung, Zelte, Schlitten und ein Windrad gehörten, das einen Dynamo antreiben und die Männer mit Licht versorgen sollte. Sogar eine Druckerpresse wurde an Land geschafft, auf der später die South Polar Times entstand – die erste in Antarktika produzierte Zeitung.
Auch wenn die Hütte schon stand, wurde entschieden, den Winter an Bord der Discovery zu verbringen. Crean hatte sich derweil als beliebtes und anpassungsfähiges Mitglied der Besatzung erwiesen, der sich fast alle Arbeiten zutraute und dem keine Aufgabe lästig wurde. Armitage, der Navigationsoffizier und Stellvertreter Scotts, fand offenbar Gefallen an dem Mann aus Kerry, der im Begriff war, charakteristische Eigenarten zu entwickeln. In seinem Buch Two Years in the Antarctic schrieb Armitage: »Der Ire Crean paarte einen scharfen Verstand mit Gleichmut und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen.«
Als die Discovery in See stach, war Crean fünfundzwanzig Jahre alt und körperlich topfit, ein kräftiger, breitschultriger Mann, überdurchschnittlich groß, aber doch kleiner, als es auf Fotos mitunter wirkt. Seit er acht Jahre zuvor zur Navy gegangen war, war er noch einmal gewachsen und maß laut Seefahrtsbuch 1,80 Meter. Sein Markenzeichen waren ein breites, freundliches Lächeln und ein offenes, argloses Gesicht.
Schnell galt Crean als absolut zuverlässiges und unverzichtbares Crewmitglied. An das Leben auf dem Eis gewöhnte er sich schnell, ebenso schnell entwickelte er sich zu einem gefragten Mann im Zuggeschirr vor dem Schlitten, der diszipliniert und zugleich belastbar war. Dass er seine Kindheit auf einer irischen Farm verbracht hatte und harte Arbeit von klein auf kannte, kam ihm dabei sicherlich zugute. Doch auch seine Anpassungsfähigkeit, seine Zuverlässigkeit und sein Sinn für Humor hoben ihn aus der Masse hervor. Für die Offiziere war außerdem wichtig, dass sie in ihm jemanden hatten, der ihre Befehle klaglos befolgte.
Kap Evans und Hut Point auf der Ross-Insel am Rande des Schelfeises. Hier befand sich auf zwei Expeditionen von Scott das jeweilige Basislager.
Das erste Bild von Crean, das in der Antarktis entstand. Er sitzt rechts außen in der 1. Reihe. Zu sehen ist auch Frank Wild (1. Reihe, 1. von links), der sich mit Crean anfreundete und an insgesamt fünf Antarktisexpeditionen teilnahm.
Dass er für die erste Exkursion unmittelbar nach der Landung ausgewählt wurde, beweist zudem, dass er schneller als andere begriffen hatte, was verlangt war, wenn man sich vor einen Schlitten spannte. Für einen Mann, der zwischen grünen Wiesen und sanften Hügeln im Südwesten Irlands aufgewachsen war, besaß er für diese beschwerliche Aufgabe ungewöhnlich viel Talent.
Ein weiterer Beleg dafür, dass er schnell lernte, ist der Umstand, dass er öfter auf dem Eis eingesetzt wurde als die meisten anderen Crewmitglieder. Aus den Aufzeichnungen der Expedition geht hervor, dass Crean in den gut zwei Jahren, die er mit der Discovery in der Antarktis war, insgesamt 149 Tage vor dem Schlitten eingespannt war. Nur sieben Mitglieder der achtundvierzigköpfigen Besatzung verbrachten mehr Zeit im Zuggeschirr. Übertroffen wurde Crean lediglich von Scott mit 193 Tagen, »Taff« Evans mit 173, Skelton mit 171, Albert Quartley mit 169, Barne mit 162, Wilson mit 158 und Handsley mit 153 Tagen.1 Um Tage, die sich schnell zu Wochen addierten, überbot er hingegen Männer wie Lashly oder Wild, die beide selbst als vortreffliche Kräfte im Geschirr galten.
Crean begleitete Leutnant Barne auf drei bemerkenswerten Exkursionen, deren Ziel jeweils eine Mischung aus Forschung und dem Anlegen von Nahrungsmitteldepots für andere Trupps war. Diese Fahrten liefern auch ein frühes Beispiel für die Schwierigkeit der Fortbewegung im ewigen Eis und für die Gefahren, die das menschenfeindliche Klima an den Polen bereithält und denen Crean mehrfach nur mit knapper Not entkam. In den ersten Wochen auf dem Eis, in denen die Besatzung bemüht war, mit den widrigen Bedingungen zurechtzukommen, wurde er einem harten Charaktertest unterzogen. Bestanden hat er ihn mit Bravour.
In dieser Zeit entwickelte sich auch eine enge Freundschaft zu Evans und Lashly, zwei Seeleuten, die gemeinsam mit Crean bei der Polarerkundung eine gewichtige Rolle spielen sollten.
Crean war durch nichts aus der Ruhe zu bringen und behielt in fast allen Situationen den Überblick. Trotzdem haftete ihm der Ruf an, Unfälle und Missgeschicke anzuziehen. Dabei blieb der Ire in der Regel auch dann gelassen, wenn es gefährlich oder gar lebensbedrohlich wurde, und das auf allen drei Expeditionen, an denen er teilnahm. Durch seine ganze Laufbahn hindurch finden sich Stimmen seiner Kameraden, die seine Freundlichkeit und seine Fähigkeit, im richtigen Moment ein Lied anzustimmen, in den höchsten Tönen loben. Ein Kamerad brachte es auf die Formulierung, Crean habe »das Herz eines Löwen«.
Die Discovery-Expedition war gewissermaßen Creans Lehrzeit, und es steht außer Frage, dass er ohne die Erfahrungen, die er in jungen Jahren machte, nicht jene Rolle in der Geschichte der Polarforschung hätte spielen können, die ihm durch die Beteiligung an den späteren Reisen zukommt. Sowohl Shackleton als auch Scott erkannten frühzeitig die besonderen Fähigkeiten des Iren, und beide nahmen ihn auf späteren Reisen in die Antarktis wie selbstverständlich mit.
Auf ihrem provisorischen Liegeplatz war die Discovery mit Eisankern gesichert. Um das Schiff davor zu bewahren, vom Eis zerdrückt zu werden, blieben die Kessel aber ständig unter Feuer, damit es, so die Theorie, im Notfall in Sicherheit gebracht werden konnte. Die Wirklichkeit hielt sich aber nicht an die Theorie. Die Discovery wurde vom Eis eingeschlossen und zu seinem Gefangenen.
Ungeachtet dessen beschrieb Wilson das Winterquartier der Discovery als den »idealen Naturhafen« – wohl auch, weil es hier zahllose Weddellrobben gab. Die stete Versorgung mit frischem Fleisch, so Wilsons Hoffnung, würde Skorbut vorbeugen, jener gefürchteten Krankheit, die durch den Mangel an Vitamin C entsteht und seit Hunderten von Jahren die Geißel aller Seefahrer war. Doch wie die Überlegungen zur Flucht vor dem Packeis erwies sich auch Wilsons Hoffnung, Skorbut vermeiden zu können, als reines Wunschdenken. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass die Besatzung der Discovery schon bei dieser ersten Überwinterung Anzeichen von Skorbut zeigte, weil es nicht genügend frisches Rind- oder Schweinefleisch oder gar Gemüse zu essen gab. Zudem missfiel den Männern der extrem fischige Geschmack des Robbenfleisches, weshalb sie Dosenfleisch bevorzugten. Und so waren sie körperlich bereits geschwächt, ehe ihre eigentliche Arbeit auch nur begonnen hatte.
Als Erstes errichteten sie unweit des Schiffes eine zweite Hütte, um schließlich mit dem blutigen, aber notwendigen Geschäft des Schlachtens von Robben und Pinguinen zu beginnen. Der Geschmack des Fleisches mochte abstoßend sein, aber im Winter würden sie es brauchen. Nachdem sie sich halbwegs akklimatisiert und mit der Umgebung vertraut gemacht hatten, unternahmen sie auch kürzere Erkundungstouren. Auch der Umgang mit Skiern wurde geübt, trotz der Vorbehalte, die Scott dem Fortbewegungsmittel in diesem frühen Stadium der Expedition entgegenbrachte. Andere dachten anders darüber und hatten es unterdessen zu einigem Können gebracht, allen voran der Chefmaschinist Skelton, der, wie Scott notierte, sich von allen Offizieren am geschicktesten anstellte, um einschränkend hinzuzufügen: »Ein paar Männer liegen aber fast gleichauf.« Er selbst unternahm merkwürdigerweise aber nichts, um das Training auf Skiern zu fördern. Ein Grund für seine Zurückhaltung mag gewesen sein, dass er in einen Zwischenfall verwickelt war, bei dem er stürzte und sich eine Oberschenkelzerrung zuzog.
Merkwürdig mutet auch an, dass es keinerlei Training mit den Schlittenhunden gab, die die Reise gen Süden mitgemacht hatten, um vor Ort die Ausrüstung übers Eis zu ziehen, solange die Bedingungen es zuließen, und es den Männern zu ersparen, sich selbst vor die Schlitten spannen zu müssen. Wie bereits angedeutet, galten Schlittenhunde als die beste Art der Fortbewegung übers Eis, propagiert nicht zuletzt von Amundsen. Scott aber ließ sich von den veralteten Ansichten Markhams leiten und setzte auf die ungleich mühsamere und eintönigere Methode, bei der sich die Männer selbst ins Geschirr einspannen und den schwer beladenen Schlitten übers Eis ziehen – die wohl strapaziöseste Art der Fortbewegung, die sich auf Erden denken lässt. Einen 360 Kilogramm schweren Schlitten im Schneckentempo über unebenes, von Rissen und Spalten durchzogenes Eis zu manövrieren ist eine Herausforderung ganz eigener Art. Bei Temperaturen von bis zu –40 °C, Schneetreiben und starkem Wind wird es zu einer Tortur.
Das Zuggeschirr ist so konstruiert, dass der größte Druck auf der Hüfte lastet, doch wenn der Schlitten festsitzt, muss man ihn hin und her bewegen und sogar anheben, um ihn wieder flottzubekommen. Auf weichem Schnee ist die Anstrengung besonders groß, weil der Schlitten permanent einsinkt. Ihn dann vorwärtszubewegen gleicht dem Versuch, ein schweres Gewicht durch tiefen Sand zu ziehen. In jedem Fall war die Arbeit eine Plackerei, vor der alle Besatzungsmitglieder, ungeachtet ihres Dienstgrades, gleich waren. Offiziere und Mannschaft waren ins selbe Geschirr eingespannt und kämpften gemeinsam einen schweren Kampf, in dem jeder Einzelne sein Bestes gab.
Zum Ausgleich für die Strapazen war genügend nahrhaftes Essen unerlässlich, doch sobald die Männer das Lager verlassen hatten, gab es keine Robben, Pinguine oder Vögel mehr, die ihnen hätten Fleisch liefern können. Und so mussten sie jedes Gramm, das sie unterwegs essen wollten, auf den Schlitten mitschleppen.
Die derart bepackten Schlitten über eine größere Distanz zu bewegen war eine Herkulesaufgabe, die die Männer vor das Problem stellte, das Gewicht des Schlittens und die zu überwindende Distanz in das richtige Verhältnis zu bringen – ein nahezu unmögliches Unterfangen, von dessen Gelingen aber doch ihr Leben abhing. Je größer die Entfernung, desto mehr Vorräte mussten mit, und je mehr sie schleppen mussten, desto schwächer wurden sie und desto langsamer kamen sie voran. Die richtige Menge Vorräte für die vorgesehene Distanz zu bestimmen glich daher einem Balanceakt.
Zur Lösung des Problems war es üblich, dass Forschungsreisende in regelmäßigen Abständen Vorratsdepots anlegten, aus denen sie sich bei Bedarf bedienen konnten. Doch auch diese Methode änderte nichts daran, dass sie mit der Art der Fortbewegung nur so weit kamen, wie der Vorrat reichte, den sie auf die Schlitten packten. Und das waren im besten Fall 400 Kilogramm. Ein Schlitten wurde im Regelfall von vier Personen gezogen, von denen jede folglich bis zu hundert Kilogramm durch weichen Schnee schleppen musste, dabei gelegentlich bis zur Gürtellinie einsank und permanent eiskaltem Wind ausgesetzt war. Fast noch schwerer wog die Angst, das Eis unter dem Schnee könnte brechen, die Männer verschlucken und in eine eisige Hölle schicken, in der der Tod auf sie wartete.
Obwohl diese Gefahr jedem bekannt sein musste, wurde die Notwendigkeit, die Männer mit ausreichend Nahrung bei Kräften zu halten, immer wieder ignoriert. Über Kalorien und Vitamine wusste man damals noch sehr wenig, entsprechend unausgewogen war das Essen, das die Männer bekamen. Zudem nahmen sie notorisch zu wenig Flüssigkeit zu sich. Um etwas trinken zu können, musste zunächst Eis oder Schnee geschmolzen werden, doch der Brennstoff, der dafür nötig war, war rationiert und für die Zubereitung der Mahlzeiten reserviert. Das führte dazu, dass sich unterwegs niemand die Mühe machte, bei einer Pause erst das Zelt aufzubauen und den Primuskocher anzuwerfen, nur um eine Tasse Tee trinken zu können.
Die Männer im Zuggeschirr waren der grimmigen Kälte, Erfrierungen, Schneestürmen, extremen Winden, Schneeblindheit und den Gefahren durch Spalten im Eis ausgesetzt, doch das Schlimmste waren wohl der permanente Durst und Hunger.
Traditionell bildeten sich die Briten viel auf ihre Fähigkeit ein, selbst mit den widrigsten Bedingungen fertigzuwerden. Unter dem Einfluss Markhams war der Glaube an die eigenen Fähigkeiten noch gewachsen. Und so warfen sich die Männer mit der stillen Entschlossenheit ins Geschirr, die Leine, durch die sie mit dem Schlitten verbunden waren, auf Zug zu halten und mindestens so lange durchzuhalten wie der Nebenmann. Die Anstrengungen begriffen sie als Ritterschlag, und sie weigerten sich, moderne, weniger qualvolle Methoden der Fortbewegung im Eis mit Hunden oder Skiern zur Kenntnis zu nehmen.
Amundsen beherrschte den Umgang mit Schlittenhunden und Skiern, lange bevor er nach Antarktika aufbrach. Zu Hause in Norwegen und andernorts in der Arktis hatte er sich mit diesen Fortbewegungsarten und den Überlebenstechniken der Einheimischen vertraut gemacht.
Die intensive Vorbereitung hatte sich mehrfach ausgezahlt, und auf der erfolgreichen Expedition zum Südpol 1911 legten er und seine Begleiter bei optimalen Bedingungen bis zu 100 Kilometer am Tag zurück. Im Schnitt kam die norwegische Expedition am Tag 37 Kilometer voran, wohingegen die britischen Expeditionen unter Scott und Shackleton, die noch auf Menschenkraft setzten, ungleich langsamer waren: Bei ihnen galt eine zurückgelegte Strecke von 20 Kilometern als viel, 25 Kilometer als seltener Glücksfall.
Mitunter schafften die britischen Schlittengespanne des Goldenen Zeitalters trotz aller Anstrengungen gar nur fünf, sechs Kilometer am Tag. Dafür musste jeder der Männer über einen Zeitraum von zehn, zwölf Stunden bis zu einhundert Kilogramm ziehen, gelegentlich auch länger. Entsprechend erschöpft waren sie am Ende eines solchen Tages. Manchmal reichte die Kraft nur noch dafür, das Zelt aufzubauen und eine Mahlzeit zuzubereiten, nach der sie erschöpft in ihre Schlafsäcke krochen.
Amundsen und seine Hundegespanne hingegen legten meist nur Etappen von fünf Stunden zurück, was es ihnen erlaubte, mehr Pausen zu machen, und genügend Zeit ließ, sich auf Zwischenfälle einzustellen. Der Unterschied hinsichtlich der Arbeits- und Ruhezeiten zwischen Norwegern und Briten war in jedem Fall gewaltig.
Die Expedition, die mit dem Tod des Seemanns Bonner in Lyttelton denkbar schlecht begonnen hatte, wurde wenige Wochen nach der Ankunft in Antarktika von einer zweiten Tragödie heimgesucht, als sich eine harmlos anmutende Fahrt über das Eis zu einem albtraumhaften Martyrium entwickelte, das ein weiteres Menschenleben forderte – eine frühe und dringende Mahnung und Erinnerung an die eigene Verletzlichkeit.
Crean gehörte nicht zu jenen zwölf Männern, die im frühen März eine Exkursion über etwa sechzig Kilometer zum Kap Crozier unternehmen sollten, um dort, wo im Bedarfsfall eine Suchaktion starten würde, eine Nachricht mit der Position der Discovery zu hinterlegen. Der Preis für diese Briefbeförderung war hoch.
Die Gruppe, die sich auf den Weg zum Kap Crozier machte, teilte sich in zwei Parteien auf. Je sechs Männer zogen einen Schlitten, jeweils unterstützt von vier Hunden. Doch die Männer hatten nur sehr wenig Erfahrung auf dem Eis, und die Exkursion war ausgesprochen nachlässig vorbereitet worden. Scott äußerte sich später beschämt darüber, wie gedankenlos die Schlitten bepackt worden und wie unzureichend die Männer gekleidet gewesen waren.
Auch wenn das eindeutig in Scotts Verantwortung fiel, gelang es ihm, die Schuld an dem Vorfall, den es zur Folge haben sollte, auf elegante Weise von sich zu schieben, so wie jemand, der zwar das Feuer gelegt hat, aber das Haus nicht angezündet haben will. In dem Buch, das er nach seiner Rückkehr verfasste, gab er folgende Erklärung für den Vorfall:
Zu diesem Zeitpunkt war unsere Unwissenheit beklagenswert groß. Wir wussten nicht, wie viel Proviant für welchen Zeitraum angemessen war, wie die Kocher zu bedienen waren, wie wir die Zelte aufstellen mussten, ja, nicht einmal, wie wir uns anzuziehen hatten. Kein Bestandteil der Ausrüstung war von uns ausprobiert worden, und neben unserem Unwissen machte sich das Fehlen jeglichen methodischen Vorgehens besonders schmerzhaft bemerkbar.2
Blind für das Wagnis, auf das sie sich einließ, machte sich die Gruppe am 4. März 1902 auf den Weg. Kurz nach dem Aufbruch wurden die Männer von einem Schneesturm überrascht, der ihnen jegliche Sicht nahm. Hinzu kamen Unerfahrenheit und fehlendes Wissen – in der Summe ein Gemisch, das tödliche Folgen haben sollte.
Obwohl die Zelte aufgebaut waren, bekamen es die Männer mit der Angst zu tun und reagierten panisch. Die meisten von ihnen waren zum ersten Mal in einer derartigen Situation, und statt sich in die Zelte zu verkriechen und zu warten, bis der Sturm sich ausgetobt hatte, beschlossen sie, kehrtzumachen und zu versuchen, sich zum Schiff durchzuschlagen. Zelte und Ausrüstung ließen sie zurück und irrten durch das Schneetreiben, bis sie sich an einem steilen, vereisten Abhang wiederfanden, der zu einer Klippe führte, die hoch über dem Eiswasser des Rossmeeres lag. Erst als sie schon den Abhang hinunterglitten, wurde ihnen klar, wie groß die Gefahr war, den Halt zu verlieren und über die Klippe und damit in den sicheren Tod zu stürzen.
George Vince, einem Matrosen, der Fellstiefel, aber weder Nagelsohlen noch moderne Steigeisen trug, geschah genau das. Er rutschte aus, an seinen verdutzten und ohnmächtigen Kameraden vorbei und über die Klippe in ein Grab aus Eis. Die anderen Männern konnten nur zusehen, wie er »hundert Meter tief senkrecht ins Meer fiel«. Sein Leichnam wurde nie gefunden.
Die Männer, verängstigter als zuvor und durch den Verlust des Kameraden zusätzlich verunsichert, irrten durch die Landschaft aus Eis, ohne dass irgendjemand wusste, wo sie waren und wie viele von ihnen noch lebten. Crean schloss sich dem Suchtrupp an, der losgeschickt wurde und schon nach kurzer Zeit auf Barne, Evans und Quartley stieß, die benommen und ziellos am Fuße des Castle Rock umherirrten. Am späten Abend kehrten Royds und einige andere Männer aus eigener Kraft zum Schiff zurück. Damit fehlten nur noch zwei: der Steward Clarence Hare und George Vince – der eine sicher, der andere vermutlich tot.
Für Scott war dies »einer unserer schwärzesten Tage«, und wie jeder andere am Hut Point ging er davon aus, dass Hare auf dieselbe Weise zu Tode gekommen war wie der unglückselige Vince. Doch um zehn Uhr am nächsten Vormittag tastete sich eine einzelne Gestalt den Abhang hinunter, der zum Schiff führte. Es war Hare, der fast sechsunddreißig Stunden im Freien verbracht und seit sechzig Stunden keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte. Er war orientierungslos herumgelaufen, bis er nicht mehr konnte, und hatte sich dann einfach in den Schnee gelegt, um zu schlafen. Wilson zufolge soll Scott bei Hares Ankunft geschaut haben, als käme ihm »der Tod persönlich« entgegen.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Hare großes Glück hatte. Doch auch die, die mit heiler Haut davongekommen waren, hatten auf nachdrückliche und schmerzhafte Weise lernen müssen, wie gefährlich der Aufenthalt in diesem Teil der Erde war, wie schnell das Wetter umschlagen und Tod und Vernichtung bringen konnte. Der Katastrophe waren sie nur denkbar knapp entgangen, aber mindestens die Hälfte der Männer hatte Frostbeulen und Erfrierungen erlitten.
Wild stellte lapidar fest, dass Evans »von Glück sagen« konnte, »dass ihm nicht die Ohren abgefroren waren«. Doch auch so war die Warnung angekommen. Zudem hatte der Vorfall extrem auf die Stimmung der Gruppe gedrückt, die laut Frank Plumley von einer »tiefen Niedergeschlagenheit« geprägt war.
Je weiter der Winter fortschritt, desto kälter wurde es, und am 23. April verschwand schließlich die Sonne für vier lange Monate. Bernacchi, der dieses Phänomen bereits kannte, bereitete der bisherige Verlauf der Expedition Kopfzerbrechen. Er schrieb:
Der Herbst geht zu Ende. Alle Versuche, uns mit Schlitten fortzubewegen, sind gescheitert. Essen, Kleidung – durchweg ungeeignet. Es gibt vieles, worüber sich nachzudenken lohnt, und vieles, was in der langen Winternacht verbessert werden kann.3
Scott insistierte darauf, dass während des gesamten Aufenthaltes in Antarktika Wachroutine und Disziplin aufrechterhalten blieben, allen voran die strikte Trennung von Offizieren und Mannschaft, die, um ein Beispiel zu nennen, sogar zu unterschiedlichen Zeiten aßen. Die Engstirnigkeit ihres Vorgesetzten, insbesondere sein stures Festhalten an überkommenen Regeln und Vorschriften, irritierte die Männer, und Matrose Williamson berichtete von einem hohen Maß an Unzufriedenheit auf dem beengten Mannschaftsdeck. Steward Hare beklagte sich nur wenige Wochen nach seinem wundersamen Überleben in seinem Tagebuch über Eintönigkeit und schlechte Stimmung.
Duncan sah derweil Anlass, die Enge in den Mannschaftsquartieren zu beanstanden, und monierte, dass die Männer oft ohne ersichtlichen Grund zum Appell an Deck gerufen wurden, nur um dort frierend in der Kälte herumzustehen. An einer Stelle seines Tagebuches hieß es:
Wir mussten ausnahmslos zwei Stunden in der Kälte stehen (–23 °C), obwohl es stürmte. Man behandelt uns wie kleine Kinder.4
Zu einem typischen Tagesablauf gehörte es, dass ein Teil der Männer früh aufstehen und Eisstücke heranschleppen musste, die zu Trinkwasser geschmolzen wurden. Um 8:30 Uhr wurde das Frühstück ausgegeben, die Hauptmahlzeit des Tages, die in der Regel mit einer Kelle Porridge und einem Klacks Sirup eröffnet wurde. Wer mochte, konnte auch Robbenleber bekommen, dazu selbst gebackenes Brot und eine klebrige Marmelade nach Belieben.
Die einfachen Seeleute aßen und schliefen alle gemeinsam auf dem engen Mannschaftsdeck, wo auch die Hängematten aufgespannt waren. Privatsphäre gab es nicht. Offiziere und Wissenschaftler hingegen hatten jeder eine eigene kleine Kabine, und die Mahlzeiten nahmen sie gemeinsam in der Offiziersmesse an einem Tisch aus Mahagoni ein, sie benutzten silbernes Besteck und tranken guten Wein. In einer Ecke des Raumes stand ein Klavier.
Nach dem Frühstück fand eine Andacht statt, dann wurden die Männer in Gruppen aufgeteilt und kümmerten sich um Reparaturen und Wartung von Schiff und Ausrüstung. Um 13 Uhr gab es Mittagessen, dazu wurde die tägliche Ration Rum und Tabak ausgeteilt. Zu den Aufgaben der Wissenschaftler gehörte es, sich um die zahlreichen Instrumente zu kümmern und meteorologische, magnetische und weitere Messungen vorzunehmen. Andere widmeten sich derweil ihren Fachgebieten Geologie, Biologie, Botanik und Physik. Schon um 17 Uhr wurde zum Abendessen gerufen, danach blieb Zeit für Geselligkeit und Spiele.
Das Mannschaftsdeck war rund um die Uhr in eine Rauchwolke eingehüllt, die von dem minderwertigen Grobschnitt-Tabak der Marine stammte, denn anders als die tradierten Regeln es vorschrieben, durften die Männer rauchen, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Crean, sein Leben lang Pfeifenraucher, war also in seinem Element, während sich einige Nichtraucher über die stickige Luft beschwerten.
Die Freizeit nutzten manche, um Briefe zu schreiben oder Tagebuch zu führen, andere zogen es vor, sich zu unterhalten oder in bester Marine-Tradition Seemannsgarn zu spinnen. Das geriet mitunter derart blumig, dass sich der Zeitraum, den die »aufregenden Abenteuer«, die Charles Clark, der Koch der Discovery, auf den sieben Weltmeeren erlebt haben wollte, auf geschätzte 590 Jahre summierte.
Dann und wann wurde die Eintönigkeit dadurch unterbrochen, dass einer der Wissenschaftler oder Offiziere einen Vortrag hielt, und manch ein Matrose verdiente sich ein paar Pennys dazu, indem er sich einmal pro Woche um die Wäsche eines Offiziers kümmerte, der sich zu fein war, selbst zu waschen. Sonntags wurde ein Gottesdienst abgehalten, doch da Crean Katholik war, musste er nicht daran teilnehmen, sondern durfte selbst entscheiden, wie er seinem Glauben nachging.
Die Männer durften sich auch im Freien aufhalten, wenn auch auf eigene Gefahr – es sei denn, die wissenschaftlichen Instrumente mussten abgelesen werden, was den ganzen Winter über fortgesetzt wurde. Die Kälte war abschreckend genug. Die größte Gefahr ging jedoch von dem Wind aus, der pausenlos wehte und, sobald er etwas stärker wurde, Unmengen von Schnee aufwirbelte, mit der Folge, dass die Männer »taub und blind« wurden, wie Bernacchi schrieb. Selbst in unmittelbarer Nähe des Schiffes oder der Hütte konnten sie die Orientierung verlieren und sich verlaufen.
Das größte Ereignis des gesamten Winters war der Tag der Wintersonnenwende. Die Männer begingen ihn wie ein Weihnachtsfest, nur ohne Religion, aber dafür mit, wie Bernacchi sich ausdrückte, »einem heidnischen Gelage«. Luftschlangen schmückten das Mannschaftsdeck und die Offiziersmesse. Dort wurde ein festliches Menü serviert, bestehend aus Schildkrötensuppe, neuseeländischem Lamm, Plumpudding und Pasteten. Dazu wurden Champagner und Portwein gereicht. Nur geringfügig anders geriet der Speiseplan der Mannschaft, auf dem Schildkrötensuppe (ein etwas weniger aufwendiges Rezept), Kochschinken, weiße Bohnen und Kartoffeln standen, gefolgt von Plumpudding mit Weinbrandsoße. Anschließend wurden Geschenke ausgetauscht, unter anderem für jedes Besatzungsmitglied eine kleine Aufmerksamkeit von Mrs. Royds, der Mutter von Leutnant Royds.
Mit großer Erleichterung nahmen die Männer zur Kenntnis, dass sich nach viermonatiger Dunkelheit am 22. August die Sonne erstmals wieder zeigte. Doch die Rückkehr des Tageslichts bedeutete auch, dass die Monate der Untätigkeit beendet waren und die eigentliche Arbeit der Expedition begann.