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ERNEUTER AUFBRUCH
ОглавлениеAls Tom Crean im September 1904 zurück in der Zivilisation war, waren seine kühnsten Erwartungen übertroffen worden. Er hatte sich den Ruf eines überaus verlässlichen und wertvollen Mitglieds der Polarexpedition erworben – zu einer Zeit, in der es Klassenunterschiede und die strenge Trennung zwischen Ober- und Unterdeck für einfache Seeleute schwer machten, die Aufmerksamkeit der Offiziere zu erregen, eine wahrlich bemerkenswerte Leistung.
Zum ersten Mal in seinem Leben stach der bescheidene Ire aus der Masse heraus. Nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen konnte 1904 von sich behaupten, in Antarktika gewesen zu sein, und in diesen exklusiven Kreis gehörte der siebenundzwanzigjährige Mann aus Kerry. Der Spruch, mit dem die Navy für sich warb, hatte sich an ihm erfüllt: Er war »alles andere als Durchschnitt«.
Dass er bei Kameraden und Offizieren gleichermaßen beliebt war, hatte er sich durch seine Einsatzbereitschaft verdient, die es ihm auch ermöglicht hatte, sich schneller als andere mit den lebensfeindlichen Bedingungen in der Antarktis zu arrangieren. Sein Arbeitseifer, insbesondere im Zuggeschirr vor den Schlitten, hatte die Aufmerksamkeit seines direkten Vorgesetzten Barne erregt. Und auch Scott war nicht entgangen, wie wertvoll der Ire war, vor allem, weil er bei allen individuellen Stärken ein Teamplayer war – nahe dem Südpol, wo sich die Männer auch in kritischen Situationen aufeinander verlassen können mussten, ein wesentlicher Faktor.
Bevor Crean zufällig zur Discovery-Expedition gestoßen war, hatte er sich eher treiben lassen und den zum Ende des Viktorianischen Zeitalters wenig attraktiven und unbefriedigenden Dienst in der britischen Navy ohne jeden Ehrgeiz verrichtet. Er war ein Matrose unter vielen, der sich in kleinen Schritten der Pensionierung näherte.
Doch unterdessen war alles anders geworden. Antarktika, der abweisendste Ort der Welt, hatte seinem Leben einen Sinn und eine Richtung verliehen. Dort hatte er den Schritt vom Jungen zum Mann vollzogen und sich zu einem verantwortungsvollen und fähigen Matrosen und Polarreisenden entwickelt. Durch einen Zufall hatte er seine wahre Bestimmung gefunden.
Kein Zufall hingegen war es, dass Scott und Shackleton die Fähigkeiten des Iren aufgefallen waren und er zu jener Handvoll Männer gehörte, die sie auf den anstehenden Reisen gen Süden unbedingt dabeihaben wollten. Und schon gar kein Zufall war es, dass er, ohne zu zögern, zustimmte.
Für die gut zweieinhalb Jahre, die er unter widrigsten Bedingungen in der Einsamkeit der Antarktis verbracht hatte, wurde Crean mit 55 Pfund, vierzehn Shilling und elf Pence (entsprechend 2850 Pfund) entlohnt.1 Immerhin wurde sein Beitrag zur Discovery-Expedition offiziell anerkannt und von Scott im Bericht ausdrücklich erwähnt. Er schlug Crean zur Beförderung zum Bootsmann vor und empfahl, die Beförderung – samt der damit einhergehenden Erhöhung des Solds – rückwirkend auszusprechen und mit dem Tag der Heimkehr der Discovery beginnen zu lassen. Scotts Beurteilung, verfasst Anfang September 1904, legt ein beeindruckendes Zeugnis über den Mann aus Irland ab. Darin heißt es, Crean verdiene »Anerkennung für vorbildliche Führung und tadellose Ausübung des Dienstes während der gesamten Dauer der Antarktisexpedition in den Jahren 1901–04«.2
Wie allen Mitgliedern der Expedition wurde Crean für seine Leistungen im äußersten Süden die »Antarctic Medal« verliehen. Zusätzlich erhielt er eine Auszeichnung der Königlichen Geografischen Gesellschaft, und das uneingeschränkte Lob durch Scott wurde schließlich von Sir Clements Markham, dem »Vater« der Expedition, aufgegriffen. Nach der Rückkehr der Discovery und sicherlich nicht ohne Rücksprache mit Scott gab Markham eine eigene Beurteilung ab, die typischerweise eigenwillig und unkonventionell geriet. Darin vergleicht er den Mann aus Kerry mit einem der berühmtesten englischen Helden früherer Zeiten: »Ein ausgezeichneter Mann, groß gewachsen und an den Duke von Wellington erinnernd. Bei allen beliebt.«3
Nicht unterschlagen werden soll, dass Crean bei der Ankunft in Neuseeland erfahren hatte, dass seine Mutter Catherine unterdessen gestorben war. Markham zufolge wurde Crean daraufhin angeboten, abzumustern und in die Heimat zu reisen, doch weil er letztlich nichts mehr tun konnte, entschied sich Crean, zu bleiben. Seit mehr als elf Jahren war er nicht mehr zu Hause gewesen, und in dieser Zeit hatte er ein gänzlich anderes Leben gelebt, als er es aus der ländlichen Gemeinde in Kerry kannte.
Markhams Anmerkungen zum Tod von Creans Mutter lassen derweil jedes Verständnis vermissen und sind ein Beleg für die fehlende Sensibilität des älteren Herrn.
Weil seine Mutter gestorben war, haben wir ihm angeboten, abzumustern und von Bord zu gehen, aber er hat sich eines Besseren besonnen und sich für die Navy entschieden.4
Creans Beförderung zum Bootsmann wurde zum 9. September 1904 ausgesprochen, und schon bald darauf ging er wieder seinem Dienst nach. Seine Heldentaten waren ein beliebtes Gesprächsthema, und gelegentlich nahmen seine Kameraden sie zum Anlass, ihn zum Spaß aufzuziehen. Als waschechter Ire, der nicht auf den Mund gefallen war, wusste er solche Frechheiten aber leicht zu erwidern.
Die Aufgaben, die ihm zugewiesen wurden, bildeten in gewisser Weise einen Gegenpol zu den Abenteuern, die er mit der Discovery in der Antarktis erlebt hatte. Am 1. Oktober 1904 wurde er auf die HMS Pembroke abkommandiert, die in der Marinebasis von Chatham in Kent lag. Nach zweieinhalb Jahren in der Antarktis wird der Dienst dort eintönig und wenig aufregend gewesen sein, und mit Sicherheit sehnte sich Crean spannendere Aufgaben herbei. Sein Wunsch sollte sich schon bald erfüllen und er erneut mit Scott zusammenkommen. Die Beziehung der beiden sollte bis zum Tod des Polarforschers im Jahr 1912 andauern.
Doch zunächst wechselte Crean auf die HMS Vernon in Portsmouth, auf der Torpedoschützen ausgebildet wurden. Im Februar traf er dort zufällig Taff Evans wieder, seinen alten Bekannten von der Discovery, der unterdessen ebenfalls Bootsmann geworden war. Bei einem oder zwei Drinks ließen sie die alten Zeiten aufleben und wogen die Aussichten ab, bald erneut gen Süden zu fahren.
Scott wollte Crean wieder in seiner Nähe wissen. Er war niemand, der auf Menschen zuging, aber Crean hatte ihn auf der Reise in die Antarktis offenbar so sehr beeindruckt, dass er ein natürlicher Kandidat für die nächste Fahrt gen Süden war, die Scott um jeden Preis unternehmen wollte. Doch fast das ganze Jahr 1905 über war er vollauf damit beschäftigt, ein Buch über die Discovery-Expedition zu schreiben, das am 12. Oktober 1905 endlich erschien.
Kurz bevor es veröffentlicht wurde, schickte er allen Teilnehmern der Expedition ein Exemplar. Für Crean fügte er die persönliche Bitte hinzu, er möge ihn bei seinem nächsten Kommando als Steuermann begleiten. Crean war über das Angebot hocherfreut und jederzeit bereit, erneut unter Scott zu fahren. Am 10. Oktober, einen Tag bevor er nach Harwich verlegt wurde, schrieb Crean ihm:
Ich bin sehr dankbar dafür, dass Sie mir Ihr sehr gelungenes Buch über die Discovery-Expedition geschickt haben. Es wird mir dabei helfen, mich an gemeinsame Erlebnisse zu erinnern. Über das Angebot, Ihnen als Steuermann zu dienen, freue ich mich außerordentlich. Vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben, Sir.5
Im September 1906, genau zwei Jahre nach der Rückkehr der Discovery, wurde Crean erneut Scott zugeteilt. Die Chancen, in die Antarktis zurückzukehren, waren damit schlagartig größer geworden. Einstweilen verrichtete er seinen Dienst auf dem Schlachtschiff HMS Victorious, das zur Atlantikflotte gehörte und von Scott befehligt wurde.6
Zwar waren Scott und Crean keine engen Freunde, aber klar ist, dass Crean ein sehr hohes Ansehen bei seinem Vorgesetzten genoss. Klassenunterschiede und gesellschaftliche Abgrenzung machten eine Freundschaft nahezu unmöglich, zudem waren sie zwei höchst unterschiedliche Charaktere. Scott war introvertiert und launisch und ließ nur wenige Menschen an sich heran, wohingegen Crean offen, gesellig und selbstbewusst war und sich in Gesellschaft anderer wohlfühlte.
Was Scott an Crean besonders beeindruckte, war die unbedingte und verlässliche Loyalität, die sich vor allem unter den widrigen Bedingungen der Antarktis erwiesen hatte, wo derartige Tugenden überlebenswichtig sind. Auf Crean, so Scotts Überzeugung, konnte er sich verlassen, und deshalb wollte er ihn bei der nächsten Reise gen Süden unbedingt dabeihaben.
Gleiches galt für Taff Evans und Bill Lashly, zwei andere Teilnehmer der Discovery-Expedition. Wie Crean besaßen sie alle Eigenschaften, die Scott von Angehörigen der Navy erwartete, er vertraute ihnen und verließ sich auf sie, er übertrug ihnen Verantwortung und Kompetenzen, ja, er betrachtete sie fast als Glücksbringer.
Nachdem sein Versuch, weiter nach Süden zu gelangen als je ein Mensch zuvor, 1902/03 um ein Haar in einer Katastrophe geendet hätte, hat Scott nie wieder eine größere Exkursion im Eis unternommen, ohne dass mindestens einer der drei dabei gewesen wäre und sich vor einen der Schlitten gespannt hätte.
Zu Beginn des Jahres 1907 wechselten Crean und Scott auf das ebenfalls zur Atlantikflotte gehörende Schlachtschiff HMS Albermarle, Crean als Steuermann, Scott als Kapitän des Flaggschiffes mit einer Besatzung von siebenhundert Mann. Unterdessen plante er bereits seine zweite Reise in die Antarktis. 1908 folgte Crean Scott auch auf die HMS Essex und die HMS Bulwark. Dort tat der Marinearzt George Murray Levick Dienst, der später, gemeinsam mit Crean, Scott auf dessen schicksalhafter zweiter und letzter Expedition in die Antarktis begleiten sollte.
Im Frühjahr 1909 wurde Crean wieder einmal nach Chatham versetzt, wo er auf der HMS Pembroke Dienst tat. Dann aber kam der Moment, in dem Scott nach langem Ringen und reiflicher Überlegung beschloss, die Reise in den Süden zu wagen. In dieser historischen Stunde, in der Scott die folgenreiche Entscheidung traf, die Eroberung des Südpols anzugehen, war Crean zur Stelle.
Scotts Entschluss war gefallen, als im März 1909 die Nachricht die Runde machte, dass Shackleton mit der Nimrod aus der Antarktis zurückgekehrt war, Scotts Rekord überboten und dem Südpol so nahe gekommen war wie niemand zuvor. Shackleton und seine drei Begleiter – James Adams, Eric Marshall und Frank Wild, der wie Crean schon auf der Discovery gefahren war – hatten Übermenschliches geleistet und sich bei widrigsten Bedingungen bis auf 88°23' S vorgearbeitet. Nur 155 Kilometer vor dem Südpol hatten sie umkehren müssen, aber den Erfolg hätten sie nicht deutlicher verpasst, wären es 155 Millionen Kilometer gewesen.
Shackleton hatte bis zuletzt daran geglaubt, das Ziel erreichen und als erster Mensch am Südpol in die Geschichte eingehen zu können. Aber er wusste auch, dass sie den beschwerlichen Rückweg nicht überleben würden, weil sie durch eine Mischung aus Hunger und Skorbut stark geschwächt waren. Und auch wenn es ihm fast das Herz brach, musste er die Entscheidung treffen, kurz vor dem großen Ziel kehrtzumachen, auf Ruhm und Ehre zu verzichten und sich zurück zum Lager durchzukämpfen. Dass er richtig entschieden hatte, wird durch den Umstand belegt, dass die vier Männer nur mit knapper Not überlebten.
Shackleton war gleichwohl tief enttäuscht und ahnte, dass Scott, dessen Vorbereitung schon weit gediehen war, sich die Chance, als erster Mensch auf dem Südpol zu stehen, nicht entgehen lassen würde. In einem Brief an seine Frau Emily formulierte er jedoch die denkwürdige Einsicht, dass »ein lebender Affe von größerem Nutzen ist als ein toter Löwe«.
Wie es Shackleton ergangen war, erfuhr Scott im Frühjahr 1909, als er und Crean, zu jener Zeit Steuermann auf der HMS Bulwark, mit dem Zug nach London fahren wollten. Vor der Abfahrt hatte er eine Zeitung gekauft, in der über die denkwürdige Reise berichtet wurde. Scott hatte Crean im Gedränge auf dem Bahnsteig gesucht und erklärt: »Viel Zeit sollten wir uns nicht mehr lassen.«7 Dr. Edward Atkinson, dem auf der bevorstehenden Expedition eine Schlüsselrolle zukommen sollte, erinnerte sich Jahre später, dass mit diesem eher beiläufigen und unwichtig anmutenden Vorfall der Beginn von Scotts letzter Expedition eingeleitet war.
Zu diesem Zeitpunkt war Crean einunddreißig Jahre alt.
Im selben Jahr, in dem die Nachricht von Shackletons knappem Scheitern die Runde machte, behaupteten die Amerikaner Robert Peary und Dr. Frederick Cook unabhängig voneinander, sie hätten den Nordpol erreicht. Die Nachricht befeuerte überall auf der Welt den Wunsch, nun auch den Südpol zu bezwingen, den letzten »weißen Fleck« auf dem Globus.
Die dramatischen Geschichten von Shackletons denkwürdiger Expedition und sein Hang, öffentlich darüber zu reden, ließen den Wunsch zu einem Wettrennen werden. Gerüchten zufolge stand eine amerikanische Expedition unmittelbar bevor, Ähnliches wurde auch Deutschen und Japanern nachgesagt. Nur aus Norwegen war verdächtig wenig zu hören, obwohl dort die erfahrensten und angesehensten Polarforscher zu Hause waren.
Scott sah sich herausgefordert und ging die wenig erbauliche Aufgabe an, Geld für die Britische Antarktisexpedition zu sammeln, wie sie offiziell hieß. Auf diese Weise die erforderlichen Mittel zu beschaffen widerstrebte ihm, bestand sie doch vornehmlich darin, durch Bettelei und Schmeichelei bei Regierungen, Institutionen, Firmen, wohlhabenden Gönnern und zahllosen Spendern kleinerer Beträge Geld loszueisen.
Scott war weder ein Rattenfänger, noch besaß er den Charme und den Esprit, die Shackleton auszeichneten, um auf Veranstaltungen das Publikum dazu zu bewegen, die Portemonnaies zu öffnen. Im Gegenzug fehlte es Shackleton an Scotts administrativen Fähigkeiten.
Doch anders als Scott stand Shackleton zeitlebens in den entscheidenden Momenten auf der Sonnenseite. So kehrte er von der Nimrod-Expedition mit einem Schuldenberg in Höhe von 20 000 Pfund (nach heutigem Kurs mehr als eine Million Pfund) zurück, ohne realistische Aussicht, sie je zurückzahlen zu können. Dann aber sprang ihm die Regierung zur Seite, schlug ihn zum Ritter und tilgte seine Schuld.
Scott scheiterte derweil daran, die 40 000 Pfund zusammenzutragen, die er benötigte, sodass er sich letztlich aus unterschiedlichsten Quellen wie Zuschüssen der Regierung, Schenkungen wohlhabender Gönner, Einnahmen aus dem Verkauf von Rechten sowie Spenden bedienen musste. Die Regierung unter dem liberalen Premierminister Herbert Asquith steuerte 20 000 Pfund bei, aber die Königliche Geografische Gesellschaft und die Königliche Gesellschaft, die noch die Discovery-Expedition finanziert hatten, beteiligten sich an Scotts Versuch, den Südpol zu erobern, mit zusammen gerade einmal 750 Pfund.
Scott fuhr unermüdlich kreuz und quer durchs Land und rührte auf öffentlichen Veranstaltungen die Werbetrommel, oft ohne jeden Erfolg. In Wolverhampton brachte ein solcher Abend vergleichsweise lächerliche 25 Pfund ein. Einige Teilnehmer der Expedition beteiligten sich auch finanziell, sei es in Form von Spenden, sei es dadurch, dass sie auf Teile ihrer Heuer verzichteten. Der Kavallerieoffizier Lawrence »Titus« Oates etwa spendete 1000 Pfund für eine Expedition, die er nicht überleben sollte.
Ein weiteres Problem stellte die Wahl des Schiffes dar, vor allem deshalb, weil mit der Discovery die naheliegendste Lösung nicht zur Verfügung stand. Sie war an die Hudson’s Bay Company in Kanada verchartert worden, und so entschied sich Scott für die Terra Nova, die er recht gut kannte, weil sie der Discovery im Jahr 1904 zu Hilfe gekommen war. Er leistete eine Anzahlung in Höhe von 5000 Pfund (heute 240 000 Pfund) und versprach, die fehlenden 7500 Pfund zu bezahlen, sobald die Summe verfügbar war.
Als altes Walfangschiff war die Terra Nova für das, was nun von ihr erwartet wurde, bestens geeignet, wie die Fahrt zum McMurdo-Sund einige Jahre zuvor nachdrücklich bewiesen hatte. Sie war 1884 auf der Werft von Alexander Stephens gebaut worden, 57 Meter lang und verdrängte knapp 750 Tonnen. Erfahrene Seeleute schätzten sie als »gutmütiges Schiff« ein.
Während sich die Beschaffung des Geldes in die Länge zog, war die Besatzung, die die Reise bestreiten sollte, schnell gefunden. Scott mietete ein Büro in Londons Victoria Street an und wurde mit Bewerbungen geradezu überschüttet. Gut achttausend Freiwillige aus allen Landesteilen und sämtlichen Schichten meldeten sich. Die Discovery-Expedition hatte das Interesse der Menschen für Antarktika geweckt, aber Shackletons heroisches Scheitern hatte Aufsehen erregt. Nun sehnten sich die Menschen danach, dass der Südpol erobert wurde.
Scott wollte erfahrene und vertrauenswürdige Mitstreiter an seiner Seite wissen, darunter einige sorgfältig ausgewählte Männer, die er wie Crean von der Discovery kannte. Dabei kam ihm eine ungewöhnliche Entscheidung der Admiralität entgegen, die ihm erlaubte, die Crew selbst auszusuchen, obwohl die Expedition, anders als bei der Discovery, nicht unter der Federführung der Navy stand.
Crean stand als Teilnehmer fest, noch ehe die Expedition beschlossene Sache war. Offiziell bestätigt wurde seine Teilnahme, als Scott ihm am 23. März 1910 aus dem Büro der Britischen Antarktisexpedition in der Victoria Street einen Brief nach Chatham schickte. Darin hieß es:
Lieber Crean,
ich habe Sie unterdessen für die Expedition angefordert, und ich gehe davon aus, dass die Admiralität zustimmt und Sie in etwa zwei Wochen zu uns stoßen können, um dabei zu helfen, das Schiff auszurüsten. Wenn Sie den Marschbefehl haben, melden Sie sich bitte hier im Büro, dann können wir alles Weitere besprechen.8
Crean, inzwischen zweiunddreißig Jahre alt, traf am 14. April 1910 auf der Terra Nova ein. Er bekleidete den Rang eines Bootsmanns und erhielt eine Heuer von fünfzehn Shilling pro Woche beziehungsweise drei Pfund im Monat – ziemlich genau ein Drittel mehr als noch auf der Discovery. Das Ziel blieb hingegen das gleiche: die Antarktis, wohin er für die nächsten drei Jahre verschwinden sollte.
Mit Taff Evans und dem Oberheizer Lashly verpflichtete Scott zwei weitere Crewmitglieder der Discovery, die gemeinsam mit Crean bei der bevorstehenden Expedition von den niederen Dienstgraden die Hauptfiguren werden sollten.
Vertraute Gesichter waren auch die Bootsleute Williamson und William Heald. Darüber hinaus rekrutierte Scott seinen Freund, den Arzt Dr. Wilson, als Leiter des wissenschaftlichen Teams. Nach der Fahrt mit der Discovery hatte sich Wilson der Erforschung einer geheimnisvollen Krankheit gewidmet, der zahllose Moorhühner zum Opfer gefallen waren. 1905 war er dabei zufällig auch durch Creans Geburtsort Anascaul auf der Dingle-Halbinsel gekommen.
Das vordringlichste Ziel der Expedition war die Eroberung des Südpols, aber Scott wollte auch eine Vielzahl wissenschaftlicher Experimente durchführen, die der Mission ein hohes Maß an Ansehen und Glaubwürdigkeit bescheren würden. Von Wilson beraten, verpflichtete er Meteorologen, Geologen, Biologen, Physiker, einen Ingenieur und schließlich Herbert Ponting, einen vierzigjährigen Fotografen oder »Bildkünstler«, dem während der Reise einige unvergessliche Foto- und Filmaufnahmen von Antarktika gelangen.
Scotts Stellvertreter war Edward »Teddy« Evans, der 1903 der Discovery an Bord der Morning zu Hilfe geeilt war und die Antarktis von dieser Reise kannte. Auch für Henry Robertson Bowers, einen 1,60 Meter kleinen, gedrungenen, ungeheuer starken Mann, fand sich eine Aufgabe. Seine Hakennase brachte Bowers den Spitznamen »Birdie« ein.
Die Frage der Fortbewegung und des Transportes im Eis würde eine der entscheidenden werden, und so verpflichtete Scott den wortkargen Eton-Absolventen und Kavallerieoffizier Lawrence Oates, der sich der sibirischen Ponys annehmen sollte, die das Gros der Vorräte auf das Schelfeis bringen und damit die Männer in ihren Zuggeschirren entlasten würden. Cecil Meares, ein leicht exzentrischer, weit gereister Mann, kam an Bord, um sich um die Hunde zu kümmern, und Bernard Day, der Shackleton auf der Nimrod begleitet hatte, war für die Motorschlitten verantwortlich. Nach Rücksprache mit Fridtjof Nansen nahm Scott kurz vor der Abfahrt noch den groß gewachsenen, schneidigen, einundzwanzig Jahre jungen Norweger Tryggve Gran an Bord und übertrug ihm die Verantwortung für die Skier.
Vervollständigt wurde die Expedition von zwei Russen, Anton Omelchenko und Dimitri Gerof, die für die Pflege der Ponys verantwortlich waren und am Ziel bei Bedarf Hundeschlitten lenken sollten. Eine sechsköpfige Gruppe unter der Führung von Captain Victor Campbell war dazu auserkoren, die Küste der Edward-VII-Halbinsel zu erkunden.
Als Crean auf die Terra Nova kam, begegneten ihm auf Schritt und Tritt bekannte Gesichter wie die von Evans und Lashly, aber recht bald wurde er auch mit den anderen vertraut, die im Laufe der nächsten Wochen an Bord kamen. Er war zur Stelle, um das erste Aufeinandertreffen der Mannschaft mit dem unglückseligen Oates zu dokumentieren. Der kam im Mai auf die Terra Nova, die zu diesem Zeitpunkt in den South-West India Docks am Ufer der Themse lag. Die Ankunft des Kavallerieoffiziers, der sich im Burenkrieg hervorgetan hatte, war von den Seeleuten mit Spannung erwartet worden. Sie brannten darauf, die »Landratte«, wie es guter Brauch war, mit Hohn und Spott zu empfangen.
Doch als der dreißigjährige Oates endlich an Bord ging, trug er einen zerbeulten Bowler und einen abgewetzten Regenmantel, der bis zum Hals zugeknöpft war – kaum der Aufzug, der von einem biederen Kavallerieoffizier erwartet werden durfte. Die Seeleute staunten nicht schlecht, und einer Verwandten von Oates zufolge soll Crean geäußert haben:
Keiner von uns hätte sagen können, wer oder was da an Bord kam – nicht eine Sekunde lang hatten wir vermutet, einem Offizier gegenüberzustehen. Die sind sonst immer so elegant. Wir dachten eher, einen Bauern vor uns zu haben. Er war nett und freundlich, ganz wie einer von uns. Aber man sollte sich nicht vertun: Er war ein Gentleman, durch und durch ein Gentleman, und das rund um die Uhr.9
Ein merkwürdiger Zufall wollte es, dass Oates, den alle bald nur »Soldier« nennen sollten, einst an den Pferderennen von Tralee teilgenommen hatte, die nur wenige Kilometer von Creans Elternhaus entfernt auf der Dingle-Halbinsel ausgetragen wurden. Obwohl Crean und Oates aus gänzlich verschiedenen Schichten stammten und einen denkbar unterschiedlichen kulturellen Hintergrund hatten, empfanden sie wechselseitig großen Respekt füreinander.
Auf den South-West India Docks herrschte im Frühjahr 1910 reges Treiben, denn an die Terra Nova wurde letzte Hand angelegt. Gran, der Norweger, traf Mitte Mai ein und staunte über Menschen, die »wie Ameisen herumliefen«. Unmengen an Kisten mit Ausrüstung und Vorräten für die kommenden zwei Jahre mussten so an und unter Deck verstaut werden, dass noch genügend Platz für die fünfundsechzigköpfige Besatzung, dreißig Hunde und neunzehn Ponys blieb.
Schließlich und endlich waren die Vorbereitungen abgeschlossen, und am 1. Juni 1910 konnte die Terra Nova um 17 Uhr die Leinen losmachen und auf die Themse hinausfahren. Während sie flussabwärts fuhr, wird einige an Bord ein mulmiges Gefühl beschlichen haben, ausgelöst durch zwei bemerkenswerte Fügungen. Zum einen musste das Land erneut den Tod eines Königs beklagen. Edward VII. war drei Wochen zuvor nach nur neun Jahren auf dem Thron gestorben. 1901, als die Discovery vom selben Hafen aus in See gestochen war, hatte das Land noch unter dem Verlust von Königin Viktoria gelitten, die nach dreiundsechzig Jahren an der Macht das Zeitliche gesegnet hatte und von Edward abgelöst worden war, dessen Krönung seinerzeit unmittelbar bevorstand. Zum Zweiten musste die Terra Nova die Discovery passieren, die nun für die Hudson’s Bay Company fuhr und zufälligerweise im selben Hafenbecken festgemacht hatte.
Die Terra Nova verließ nach einem Zwischenstopp in Greenhithe die Themse und fuhr über Spithead nach Cardiff, wo hundert Tonnen Kohle gebunkert und eine großzügige Spende für die Bordkasse entgegengenommen wurde, die aus einer Sammlung in Südwales stammte. Die Fahrt der Terra Nova hatte die Fantasie der Menschen angeregt, und allein in Cardiff waren 2500 Pfund gespendet worden – die größte Einzelspende der insgesamt 14 000 Pfund (heute etwa 675 000 Pfund), die Privatleute zum Etat der Expedition beitrugen.
Doch noch eine weitere Angelegenheit musste erledigt werden, bevor das Schiff Großbritannien verlassen konnte. Auf der Fahrt nach Cardiff hatte Scott alle Besatzungsmitglieder auf dem Achterdeck antreten lassen und jedem Einzelnen nahegelegt, vor der Fahrt gen Süden den letzten Willen zu Papier zu bringen.
Im Royal Hotel von Cardiff wurde für die Offiziere ein Empfang gegeben, derweil die Besatzung im Barry’s Hotel, ganz in der Nähe, feierte. Als alle gegessen hatten, ließ Scott die niederen Dienstgrade herüberkommen. Taff Evans, der aus Südwales stammte, wurde die Ehre zuteil, zwischen Scott und dem Bürgermeister von Cardiff zu sitzen. Dort betrank er sich dermaßen sinnlos, dass sechs Kameraden nötig waren, um den korpulenten Evans zurück aufs Schiff zu bringen.
Am 15. Juni 1910 war die Terra Nova endlich bereit, der Heimat Lebewohl zu sagen und Kurs auf die Antarktis zu nehmen. Zahllose gut gelaunte Menschen hatten sich eingefunden, um die Expedition für die kommenden zwei Jahre zu verabschieden – mindestens. Die Erwartungen der Öffentlichkeit waren hoch, und viele waren davon überzeugt, dass die Eroberung des Südpols dem Land neues Selbstbewusstsein einhauchen würde. Nach dem Ende des Viktorianischen Zeitalters und der kurzen Regentschaft Edwards stand Großbritannien vor tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die von der liberalen Regierung unter Premierminister Asquith betrieben wurden und allenthalben für große Unsicherheit sorgten. Ein Erfolg am Südpol galt daher vielen als Symbol für die Stärke des Landes, ein Symbol, das in einer Zeit, in der ein Krieg mit Deutschland immer wahrscheinlicher wurde, von großer Bedeutung war.
Die Verabschiedung glich frappierend jener der Discovery fast ein Jahrzehnt zuvor. Der Start missglückte auch dieses Mal. Als die Terra Nova das Schleusentor passierte, fiel ein Crewmitglied in der Aufregung über Bord. Anders als der unglückselige Bonner neun Jahre zuvor kam der Mann jedoch mit dem Schrecken davon und konnte zurück an Bord klettern. Begleitet von einer Armada kleinerer Schiffe, fuhr die Terra Nova in den Bristolkanal hinaus. Auf einem der Begleitschiffe nahm die Kapelle des in Cardiff stationierten Artillerieregiments Aufstellung und spielte Auld Lang Syne – Nehmt Abschied, Brüder. Leutnant Evans griff zum Megafon und brüllte den Menschen seinen Dank entgegen. Kurz darauf geriet die Terra Nova außer Sicht.
Die Fahrt nach Süden sollte über Madeira, Simonstown an der Südspitze Afrikas und Melbourne nach Lyttelton auf Neuseeland führen. Es war die gleiche Route, die die Discovery neun Jahre zuvor genommen hatte.
Als das Schiff am 15. Juli den Äquator erreichte, beteiligte sich Crean an vorderster Front an einer Prozedur, der traditionell jeder unterzogen wurde, der zum ersten Mal den nullten Breitengrad überquerte, was in diesem Falle vor allem für die jungen Wissenschaftler galt. Taff Evans verkleidete sich als Neptun, der kräftige Bootsmann Frank Browning trat als Meeresnymphe Amphitrite auf, Williamson und Crean gaben zwei Polizisten, die die Opfer der rituellen Taufe unterzogen. Davon blieb auch Gran nicht verschont, wenn auch mit der fadenscheinigen Begründung, dass er den Äquator zwar schon überschritten hatte, aber noch nie auf einem britischen Schiff.
Scott hielt sich derweil immer noch in England auf, wo er unermüdlich Geld für die Expedition sammelte. Schließlich reiste er der Terra Nova nach Südafrika nach. In Simonstown ging er an Bord und trat die weite Fahrt über den Indischen Ozean nach Melbourne an.
Keiner an Bord war auf den Schock vorbereitet, der sie dort erwartete.
Als die Terra Nova am 12. Oktober 1910 in Melbourne eintraf, wurde Scott ein Telegramm zugestellt, das am 3. Oktober auf Madeira aufgegeben worden war, zu einem Zeitpunkt also, zu dem sich die Terra Nova irgendwo auf dem Indischen Ozean befand. Der Text lautete: »Erlaube mir mitzuteilen, dass die Fram Kurs auf Antarktis genommen hat. Amundsen.«