Читать книгу Der stille Held - Michael Smith - Страница 16
ОглавлениеScott teilte die Begeisterung ausdrücklich nicht, denn mit den beiden Schiffen traf die unmissverständliche Anweisung ein, dass er die Discovery aufgeben sollte, wenn sie nicht binnen sechs Wochen flottgemacht werden könnte.
Ein Schiff aufzugeben ist für einen Seemann seit jeher das allerletzte Mittel, und durch den Befehl sah Scott sich und seine Männer vor ein Dilemma gestellt. Die Discovery auf ihrer ersten großen Fahrt ihrem Schicksal zu überlassen hätte dem Ruf des Kapitäns schwer geschadet. Sie aufzugeben war für ihn daher keine Option – umso mehr, als es auf seine Entscheidung, das Schiff vorsätzlich in jene Lage zu bringen, in der es nun war, einen dunklen Schatten geworfen hätte.
Dessen ungeachtet standen Offiziere und Mannschaft hinter ihrem Kapitän. Charles Ford, einer der Schiffsstewards, meinte, dass nie ein Befehl ergangen sei, der einem Offizier so wenig Optionen gelassen hätte. Scott litt erkennbar unter der Anweisung, und dass er sich Sorgen machte, war ihm deutlich anzumerken. Ford notierte:
Der Kapitän ist sichtlich betroffen und meint, dass er sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorstellen kann, das Schiff aufzugeben. Er hat allen für die Loyalität gedankt, die er erfährt. Die Mannschaft hat es ihm mit einem dreifachen Hurra gedankt.11
Colbecks Bericht über das Zusammentreffen mit der Discovery im Jahr 1903 hatte in London für einige Unruhe gesorgt. Auch wenn man mit den bislang erreichten Ergebnissen zufrieden war, gab es doch Sorgen hinsichtlich des Wohlergehens der Männer, sollte die Discovery einen weiteren Winter in der Antarktis verbringen müssen. Der Stimmung nicht zuträglich war das widersprüchliche Verhalten von Sir Clements Markham, der die Expedition weiterhin wie eine Privatsache behandelte.
Markham, inzwischen dreiundsiebzig Jahre alt, stimmte in die Zufriedenheit über die Leistungen der Discovery-Crew ein, schürte aber gleichzeitig Ängste um die Gesundheit der Männer. Er forderte, dass ein Schiff losgeschickt wurde, das den Eingeschlossenen zu Hilfe kommen sollte, ignorierte aber hartnäckig, dass die Kassen leer waren. Die Versuche, seinen Willen durchzusetzen, gerieten immer überspannter. Er warnte vor einer »schrecklichen Katastrophe«, sollte die Discovery nicht von außen befreit werden, und versteifte sich auf die These, es ginge »um Leben und Tod«.
Parallel dazu vergrößerte sich der Riss zwischen den Hauptgeldgebern der Expedition, der Königlichen Geografischen Gesellschaft und der Königlichen Gesellschaft. So wandte sich Markham schließlich direkt an die Regierung und erbat 12 000 Pfund (nach heutiger Kaufkraft 600 000 Pfund).
Doch zu seinem Leidwesen rissen die zuständigen Minister die Angelegenheit an sich und beriefen ein eigenes Komitee unter dem Vorsitz von Sir William Wharton ein, einem der führenden Hydrografen der Admiralität. Es fasste den Entschluss, dass die Regierung eine Hilfsexpedition finanzieren würde, sofern die beiden Gesellschaften die Morning zur Verfügung stellten. Begleitet werden sollte sie von einem weiteren Schiff. Vielleicht wollte die Regierung auf diese Weise sicherstellen, dass sie auf den Fortgang der Expedition mehr Einfluss nehmen konnte, als es Markham mit der ersten Entsendung der Morning gelungen war.
Die Zeit drängte, und so wurde mit Hochdruck nach einem Schiff gesucht, das für die Fahrt in die Antarktis ertüchtigt und schließlich zusammen mit der Morning in den Süden geschickt werden konnte. Das Komitee konzentrierte die Suche auf die britische Walfangflotte, aber auch der Norweger Amundsen wurde kontaktiert. Anfang Juli legte man sich schließlich auf die Terra Nova fest, einen Walfänger aus der Flotte von C. T. Bowring, der für 20 000 Pfund (heute mehr als eine Million Pfund) gekauft wurde. Rechnet man die Überholung der Morning hinzu, kostete die Aktion zur Befreiung der Discovery den Steuerzahler 35 000 oder, auf heutige Kaufkraft umgerechnet, 1,8 Millionen Pfund.
Bald stellte sich heraus, dass es nicht gelingen würde, den Umbau der Terra Nova rechtzeitig vor dem Abfahrtstermin Ende August abzuschließen. Später durfte es aber nicht werden, um sich nicht die Chance zu verbauen, den McMurdo-Sund nach einer Reise über 22 500 Kilometer tatsächlich zu erreichen. So beschloss Wharton kurzerhand, dass die Terra Nova große Teile der Fahrt ans andere Ende der Welt von Schiffen der Royal Navy geschleppt werden sollte.
Ironischerweise war einer der Männer, die für den Umbau der Terra Nova herangezogen wurden, Ernest Shackleton, der von Scott sechs Monate zuvor mit der Morning zurück nach London geschickt worden und erst vor Kurzem dort angekommen war.
Die Terra Nova stand unter dem Befehl des Schotten Henry Mackay, der auf eine langjährige Erfahrung im Walfang zurückblicken konnte. Sie erreichte wohlbehalten Hobart auf Tasmanien, wo Colbeck und die Morning sie schon erwarteten. Am 5. Januar 1904 und damit drei Wochen früher als die Morning im Jahr zuvor standen beide Schiffe vor der Packeisgrenze im McMurdo-Sund.
Die Besatzungen aller drei Schiffe bildeten eine schlagkräftige Truppe, die bis zu achtzehn Stunden am Tag schuftete und dabei nur ein Ziel verfolgte: die Discovery freizubekommen. Weil sie mit Eissägen keinen Erfolg hatten, setzten die Männer schließlich Sprengstoff ein. Der erste Sprengsatz zündete am 15. Januar, doch er verpuffte nahezu folgenlos, und die Stimmung verdüsterte sich. Während sich die Männer mühten, die Hoffnung nicht aufzugeben, ließ Scott die wertvollen wissenschaftlichen Instrumente und Aufzeichnungen umladen. Auch der Umzug der Männer auf die Terra Nova, das größere der beiden Schiffe, wurde vorbereitet.
Die Versuche, die Discovery freizubekommen, waren nicht ungefährlich, und Crean wäre tatsächlich beinahe ums Leben gekommen, als er unweit vom Hut Point an einem Tag gleich zweimal im Eis einbrach und im eiskalten Wasser landete. Beim ersten Mal war er zum Schiff zurückgekehrt, um sich trockene Kleidung anzuziehen, dann aber umgehend wieder an die Arbeit gegangen, nur um ein zweites Mal einzubrechen – nun um ein Haar mit tödlichen Konsequenzen.
Ford wurde Augenzeuge des Vorfalls. In sein Tagebuch notierte er:
Crean war außerstande, sich selbst aus dem Wasser zu ziehen, seine Kraft reichte gerade mal, um von der Strömung nicht unter das Eis gezogen zu werden.
Zum Glück waren ein paar Männer vor Ort, die ihn rufen hörten, und nach einigen Mühen (die Kälte hatte ihn quasi bewegungsunfähig gemacht) konnten sie ihm eine Schlinge umlegen, ihn aus dem Wasser ziehen und zurück zum Schiff bringen.12
Ohne seine geistesgegenwärtigen Kameraden wäre Crean von der vollgesogenen Kleidung nach unten gezogen worden und im eisigen Wasser ertrunken. Es sollte das erste, aber nicht das letzte Mal sein, dass er in der menschenfeindlichen Umgebung der Antarktis knapp dem Tod entkam. Der Vorfall, so lebensbedrohlich er auch gewesen sein mochte, scheint ihn aber ungerührt gelassen zu haben, denn Scott notierte, Crean habe an seinem Vollbad »viel Spaß« gehabt.
Zwar war deutlich zu merken, dass Bewegung in die Eisfläche kam, doch am 13. Februar war die Discovery immer noch drei Kilometer von den beiden anderen Schiffen entfernt. Es wurde zunehmend wahrscheinlich, dass sie die Discovery aufgeben mussten. Scott notierte niedergeschlagen:
Auch heute spielt das Wetter nicht mit. Von der Eiskante ist weit und breit nichts zu sehen. Noch hoffen wir auf ein Schlupfloch.13
Und siehe da, vierundzwanzig Stunden später, als wären die stillen Gebete jedes einzelnen Crewmitglieds erhört worden, brach das Eis plötzlich auf. Riesige Eisstücke lösten sich und trieben davon, sodass die Morning und die Terra Nova in den Sund hineinfahren und sich bereithalten konnten, um längsseits zu gehen. Dann ging alles sehr schnell, und die Discovery war frei.
Das Ereignis wurde die ganze Nacht hindurch lautstark gefeiert. Die Männer stellten am Ufer den Union Jack auf, und Colbeck gewann den Eindruck, dass es in dieser Nacht auf Erden keinen glücklicheren Menschen gab als Scott.
Dann wurden die letzten Vorbereitungen für die Abfahrt getroffen. Dazu gehörte auch, die verbliebenen Eisstücke zu beseitigen, die die Discovery umgaben. Am 16. Februar erfolgte eine letzte Detonation, die das Werk vollendete, das Schiff drehte herum, und »das blaue Wasser klatschte an den Rumpf«, wie Scott notierte. Er fügte eine emotionale Bemerkung hinzu, die die Stimmungslage aller an Bord zusammenfassen dürfte:
Ich wünschte, ich könnte auch nur annähernd beschreiben, was wir empfanden, als die Discovery wieder aus eigener Kraft schwamm, aber ich fürchte, es gibt keine Worte, die ausdrücken könnten, wie es sich anfühlte, auf der Brücke zu stehen und zu erleben, wie das Schiff sanft von einer Seite auf die andere rollt, das Pulsieren der Winde zu spüren, unter dem das Schiff beim Aufholen des Ankers leicht bebt, in die Takelage zu schauen und bestätigt zu finden, dass Segel und Leinen nicht von ungefähr an Bord sind, der Besatzung zuzusehen, die in ihrer abgewetzten Seemannskleidung übers Deck läuft, und zu wissen, dass unser Schiff endlich wieder das tun darf, wozu Schiffe nun einmal da sind. Es muss genügen, wenn ich sage, dass an diesem Tag eine stolzere und glücklichere Besatzung schwerlich zu finden gewesen sein dürfte.14
Am folgenden Tag gingen die Männer noch einer letzten feierlichen Pflicht nach und stellten auf dem Hut Point, nur hundert Meter von der Hütte, die sie dort errichtet hatten, entfernt, ein schlichtes, weiß gestrichenes Holzkreuz auf, das an ihren verstorbenen Kameraden Vince erinnern sollte. Die Männer nahmen die Mützen ab und hörten andächtig Scott zu, der ein Gebet sprach. Vince war der erste Mensch, der sein Leben im McMurdo-Sund verlor, und die Inschrift auf dem Kreuz ist bis heute gut lesbar.
Die drei Schiffe verließen Antarktika am 19. Februar 1904. Seit die Discovery den Kontinent erstmals gesichtet hatte, waren zwei Jahre und sechs Wochen vergangen. Scott verabschiedete sich von der vertraut gewordenen Umgebung mit gemischten Gefühlen, doch seine Männer waren nach zwei Jahren Gefangenschaft heilfroh, wieder auf dem Meer und auf dem Weg in die Zivilisation zu sein.
Sechs Wochen später, am 1. April 1904, fuhren die drei Schiffe unter Segeln in den Hafen von Lyttelton ein. Es war Karfreitag, das Wetter angenehm warm, noch wärmer war der Empfang, den ihnen die Neuseeländer bereiteten. Scott berichtete, dass sie mit »Zeichen der Gastfreundschaft und Gefälligkeiten regelrecht überschüttet« wurden. Nun, da sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, gönnten sich die Männer eine Pause von zwei Monaten, in denen sie sich von den Strapazen erholten. Dann erst machten sie sich auf den Weg nach England.
Am 10. September erreichte die Discovery Spithead, den östlichen Teil des Solent, von dort fuhr sie zu ihrem endgültigen Liegeplatz in den East India Docks am Ufer der Themse, wo sie am 15. September 1904 eintraf. Ihre Reise hatte drei Jahre und einen Monat gedauert. In ihrer Abwesenheit hatte der Burenkrieg ein Ende gefunden, die Brüder Wright hatten den ersten Motorflug absolviert, Russland und Japan einen blutigen Konflikt begonnen.