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EINE ZUFALLSBEGEGNUNG

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Im Jahr 1901 endete eine Ära, die das britische Reich lange geprägt hatte. Königin Viktoria, die dem Zeitalter, in dem England zu einem Weltreich wurde, den Namen gegeben hatte, starb am 22. Januar nach gut dreiundsechzig Jahren auf dem Thron. Aber es war auch das Jahr, in dem Großbritannien unter der Führung von Robert Falcon Scott den ersten Versuch startete, den letzten unerforschten Kontinent der Erde zu erobern: Antarktika.

Mit einem Durchmesser von 4500 Kilometern und einer Fläche von vierzehn Millionen Quadratkilometern ist Antarktika, noch vor Australien und Europa, der fünftgrößte Kontinent der Erde, der zehn Prozent der gesamten Landmasse einnimmt. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte nur eine Handvoll Menschen ihn betreten.

Antarktika ist eine riesige Insel ohne Verbindung zur übrigen Welt und von jeder Zivilisation durch den stürmischen Südlichen Ozean getrennt. Südamerika ist 1000 Kilometer entfernt, Australien gar 2500. Gut 99 Prozent der Landmasse sind durchgehend von Eis bedeckt, in dem etwa 70 Prozent des gesamten Süßwasservorkommens der Erde gespeichert sind. Hier wurden Windgeschwindigkeiten von bis zu 320 Stundenkilometern gemessen. Mit –89,6°C hält Antarktika den Kälterekord der Erde.

Hier gibt es keine Inuit, von denen sich lernen ließe, wie man unter solchen Bedingungen überlebt, und auch sonst sind hier so gut wie nie Menschen anzutreffen. Heimisch sind hier lediglich Pinguine, Robben und Wale sowie Organismen wie Algen, Flechten und Moose. Wer Antarktika erobern will, muss folglich Nahrung und Ausrüstung mitbringen. Doch es gibt noch weitere Ungewöhnlichkeiten: Auch wenn alles von Eis bedeckt ist, schneit es hier nur selten, und an den weitaus meisten Tagen des Jahres ist der Kontinent rund um die Uhr entweder in tiefste Dunkelheit getaucht oder von grellem Sonnenlicht überflutet.

Dass Antarktika kein Hirngespinst ist, sondern tatsächlich existiert, davon waren die Menschen schon in der Antike überzeugt. Gut zweitausend Jahre vor der Entdeckung geisterte die Terra Australis Incognita bereits durch die Mythologie. Griechische Philosophen pochten darauf, dass als Gegengewicht zu den Landmassen des Nordens ein Südkontinent erforderlich sei. Und weil die nördliche Hemisphäre unter dem Sternbild des Großen Bären, griechisch arktos, lag, wurde die dem Norden gegenüberliegende südliche Landmasse kurzerhand antarktikos genannt. So war der Name Antarktika geboren.

Berühmte Seefahrer wie Magellan oder Drake hatten schon im 16. Jahrhundert mit einer Fahrt Richtung unbekannter Südkontinent geliebäugelt, und zwei kühne französische Entdecker – Jean-Baptiste Bouvet de Lozier und Yves Joseph de Kerguelen-Trémarec – drangen im 18. Jahrhundert bis zu einigen subantarktischen Inseln vor. Doch es war James Cook, dem wohl bedeutendsten aller Entdecker, vorbehalten, als Erster den südlichen Polarkreis zu überqueren. Am 17. Januar 1773 näherte er sich Antarktika mit seinen beiden Schiffen Resolute und Adventure bis auf 120 Kilometer, allerdings ohne den Kontinent selbst zu Gesicht zu bekommen. Was er mit zurücknahm, war der Zweifel daran, dass die kalte und menschenfeindliche Umgebung weitere Erkundungen wert war.

Die erste überlieferte Sichtung der Antarktis wird einer Expedition unter Leitung von Edward Bransfield aus Cork, Irland, zugeschrieben. Zugetragen haben soll sie sich am 30. Januar 1820. Nahezu zeitgleich berichteten Fabian von Bellingshausen, seines Zeichens Offizier der Kaiserlich Russischen Marine, und der US-Amerikaner Nathaniel Palmer von ähnlichen Ereignissen. Wirklich sicher war sich jedoch keiner von ihnen, und so wird in den Annalen der Robbenfänger John Biscoe genannt, der im Januar 1831 den antarktischen Kontinent als Erster umrundete.

1841 gelangte Sir James Clark Ross erstmals an das Schelfeis, das den Kontinent umgibt, und segelte mit den Schiffen Erebus und Terror an der Eiskante entlang. Den beiden markanten Bergen, die über die Einfahrt in jenen Teil des Südpolarmeeres wachen, der später nach Ross benannt werden sollte, verlieh er die Namen, die auch seine beide Schiffe trugen. Die Insel, auf der sie stehen, wurde zum Anlaufpunkt zahlreicher britischer Expeditionen. Auch sie trägt heute den Namen ihres Entdeckers.

Eine internationale Expedition unter der Führung des Belgiers Adrien de Gerlache stieß zwischen 1897 und 1899 mit der Belgica tief Richtung Südpol vor, bis sie in der Bellingshausensee unweit der Antarktischen Halbinsel, die hier wie ein ausgestreckter Finger Richtung Südamerika zeigt, vom Eis gestoppt und eingeschlossen wurde.

Nur ausgesprochen widerwillig und mit bangem Herzen fügten sich de Gerlache und seine Männer in das Unausweichliche und verbrachten als erste Menschen überhaupt den Winter in Antarktika, wo die Sonne sich vier Monate lang nicht zeigt. Die Strapazen, die bittere Kälte und die nicht enden wollende Dunkelheit forderten ihren Tribut. Ein Besatzungsmitglied starb während des Winters, zwei weitere büßten den Verstand ein.

Zu denen, die mit heiler Haut davonkamen, gehörten ein fünfundzwanzigjähriger Norweger namens Roald Amundsen sowie ein dreiunddreißigjähriger Amerikaner namens Frederick Cook. Amundsen, der wohl bedeutendste Polarreisende der Geschichte, durchfuhr später als erster Mensch die Nordwestpassage und erreichte den Südpol einen Monat vor seinem britischen Rivalen Captain Scott, der dabei sein Leben ließ. Cook, ein ebenso launischer wie talentierter Mann, bestand wider besseres Wissen bis zu seinem Tode darauf, eher am Nordpol gewesen zu sein als Robert Peary, dem das Verdienst, der Erste gewesen zu sein, tatsächlich zukommt.

Die ersten Menschen, die nicht nur die Antarktische Halbinsel, sondern den eigentlichen Kontinent betreten haben, waren vermutlich acht Besatzungsmitglieder des Walfängers Antarctic, der am 24. Januar 1895 Kap Adare erreichte. Wer von ihnen zuerst antarktisches Festland betrat, ist nicht überliefert und umstritten, aber der norwegische Naturforscher Carsten Borchgrevink behauptete, er sei vor seinen Kameraden aus dem Beiboot an Land gesprungen, weshalb die Ehre, der Erste gewesen zu sein, ihm zufalle. Später ließ Borchgrevink von der Behauptung ab und beschrieb seine Leistung nun damit, dass er der Leiter der ersten Expedition gewesen sei, die freiwillig und vorsätzlich auf Antarktika überwintert habe.

Borchgrevink landete 1899 unweit der Einfahrt in die Robertson Bay, die zwischen der Adare-Halbinsel und der Festlandküste Antarktikas liegt. Aus Material, das er aus Europa mitgebracht hatte, errichtete er dort zwei Hütten, in denen die zehnköpfige Gruppe den Winter verbrachte. Jene Hütte, die den Männern als »Wohnzimmer« diente, steht heute noch. Die Erträge von Borchgrevinks Aufenthalt waren bescheiden und beschränkten sich im Grunde auf einen Ausflug auf das Ross-Schelfeis.

Den ersten planmäßig angelegten Versuch, Antarktika zu erobern, hatte einige Jahre zuvor der Engländer Sir Clements Markham unternommen, der Jahrzehnte zuvor bereits die Arktis bereist hatte. Damals befand sich Markham, der im zarten Alter von dreizehn Jahren die Schule verlassen hatte und in die Navy eingetreten war, an Bord der Assistance, die sich in den Jahren 1850 und 1851 an der vergeblichen Suche nach Sir John Franklin beteiligt hatte. Der war 1845 mit zwei Schiffen und insgesamt 129 Mann Besatzung aufgebrochen, um die Nordwestpassage zu durchfahren, und seither verschollen.

Dieses Ereignis hatte Markham geprägt, hatte durch ihn aber auch gravierende Folgen für die Expeditionen, die das britische Königreich in der Folge Richtung Nordpol, später auch Richtung Südpol unternahm. Die Rolle, die Britannien im Goldenen Zeitalter spielte, wäre eine andere gewesen ohne Clements Markham, einen nicht nur wegen seines stattlichen Backenbartes charakteristischen Vertreter der Regierungszeit Königin Viktorias.

Markham, ein sturköpfiger und aufbrausender Mann, der an Winston Churchill denken lässt, machte die Erkundung der Polargebiete zu seiner persönlichen Angelegenheit, die ihm fast zur Obsession wurde. Mit an Fanatismus grenzender Leidenschaft setzte er seine Überzeugungs- und Überredungskünste ein, um sicherzustellen, dass Großbritannien neue und größere Expeditionen Richtung Südpol auf die Beine stellte, und zwar zu einer Zeit, in der sich andernorts niemand dafür interessierte. Zugleich drängte er darauf, dass solche Expeditionen künftig unter dem Kommando der Navy standen, um so einer ungläubig dreinblickenden Welt die Unerschrockenheit und Überlegenheit des britischen Königreichs zu demonstrieren.

Besonders am Herzen lag ihm, dass sich künftige Expeditionen typisch britischer Methoden bedienten, die sich auf früheren Reisen bewährt hatten, allen voran von Menschen gezogene Schlitten. Von modernen Errungenschaften wie Schlittenhunden und Skiern hielt er nichts, auch wenn Hunde deutlich schneller und ausdauernder waren und im Fall der Fälle einander oder sogar den Menschen als Nahrung dienen und so noch nach dem Ableben zum Erfolg der Mission beitragen konnten.

Doch Markham war ein Hundenarr, und obwohl andere Nationen, insbesondere die Norweger, gute Erfahrungen mit dem Einsatz von Hunden gemacht hatten, lehnte er es ab, sie als Nutz- und Lasttiere zu verwenden. Es kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass auch Scott, der auf seinen beiden Reisen zum Südpol nur sehr halbherzig auf die Hilfe von Hunden setzte, massiv von Markham beeinflusst war. Und so blieb es dabei, dass die Teilnehmer britischer Expeditionen ihren Proviant und ihre Ausrüstung selbst durch Eis und Schnee schleppen mussten – eine entsetzliche und qualvolle Plackerei, die die Männer zu Lasttieren degradierte.

Obwohl er kein offizielles Amt bekleidete, gerierte sich Markham, der auch vor Intrigen nicht zurückschreckte, als Sachverwalter der britischen Interessen an beiden Polen. Doch bis die erste Expedition Richtung Antarktis aufbrechen konnte, sollten fast zwei Jahrzehnte vergehen. In seinen Erinnerungen an die Ereignisse im Vorfeld der Discovery-Expedition schrieb Markham:

1885 begann ich, mein Augenmerk auf die Erforschung der Antarktis zu lenken, aber es dauerte sechzehn Jahre, bis meine Bemühungen zum Erfolg führten.1

Der Erfolg, auf den Markham anspielte, ist die britische Antarktisexpedition der Jahre 1901 bis 1904, mit der zugleich das erste Kapitel von Großbritanniens Beitrag zum Goldenen Zeitalter der Polarexpeditionen geschrieben wurde. 1885, als Markham dieses Kapitel in Angriff nahm, war Tom Crean acht Jahre alt, Scott, Markhams Protegé, sechzehn.

Markham bereitete die Eroberung der Antarktis mit großer Entschlossenheit und Bestimmtheit vor, insbesondere als es an der Zeit war, den Anführer und Leiter der ersten Expedition zu bestimmen. Auch wenn der vermutlich nicht seine erste Wahl war, entschied er sich für einen jungen Navy-Offizier, der die britische Flagge zum Südpol tragen sollte. Sein Name: Robert Falcon Scott.

Markham hatte einige Jahre lang in der Navy nach geeigneten Kandidaten Ausschau gehalten und sich kurz vor der Jahrhundertwende für Scott entschieden. Dabei geholfen hatte ihm eine Zufallsbegegnung unweit des Buckingham Palace im Juni 1899. In seinem berühmten Buch Die Reise der Discovery erinnerte sich Scott wie folgt:

Anfang Juni verbrachte ich ein paar dienstfreie Tage in London, wo ich die Buckingham Road entlangschlenderte, als ich auf der anderen Straßenseite plötzlich Sir Clements entdeckte. Ich begleitete ihn bis nach Hause. An diesem Nachmittag habe ich zum ersten Mal davon gehört, dass eine Expedition in die Antarktis geplant war.2

Zwei Tage später bewarb er sich offiziell als Kommandeur der Expedition. Markham wird ihm auf diese oder jene Weise vermittelt haben, dass er für diesen Posten zumindest infrage kam. Offiziell ernannt wurde Scott allerdings erst ein Jahr später, am 30. Juni 1900. Da war er zweiunddreißig Jahre alt und stand am Beginn einer Karriere, die ihn zur Legende werden ließ.

Markham versuchte derweil, die Summe von 90 000 Pfund zusammenzubringen, die er für die Expedition benötigte – auf heutige Kaufkraft umgerechnet 4,7 Millionen Pfund und der größte Betrag, der im Vereinigten Königreich je für eine Polarexpedition veranschlagt wurde. Entsprechend schwer fiel es Markham, das Geld aufzutreiben, und es erforderte viel Geduld, lange Gespräche und großes politisches Geschick, bis das Ziel erreicht war. Nun konnte Markhams Traum in Erfüllung gehen.

Die Nationale Britische Antarktisexpedition, so der Name, war startklar, einschließlich eines neuen, eigens für den Zweck erbauten Schiffes, der 52 Meter langen Discovery. Deren Bug war mit Eisen beschlagen, der Rumpf an den Seiten mit besonders dicken Holzplanken belegt, um gegen das Eis bestehen zu können. Die Reise war als Mischung aus Expedition und wissenschaftlicher Forschungsreise angelegt, ein Umstand, der zu erheblichen Spannungen unter den Geldgebern führte, hier der Königlichen Geografischen Gesellschaft, dort der Königlichen Gesellschaft. Den Streit um die vordringlichsten Aufgaben der Reise legte Markham bei, indem er ihn eigenmächtig entschied. Unmissverständlich beharrte er darauf, dass der Sinn und Zweck der Expedition vor allem »die Erkundung des Landesinneren von Antarktika« war.

Ebenso eigenmächtig ordnete er an, dass Scott vornehmlich den Bereich des Rossmeeres erkunden sollte, den sechzig Jahre zuvor der Namensgeber Sir James Ross befahren hatte und der bis heute aufs Engste mit den Leistungen der britischen Polarforschung während des Goldenen Zeitalters verbunden ist.

Markham plante und projektierte nicht nur das große Ganze, sondern nahm Einfluss auf jedes noch so kleine Detail. So entwarf er höchstpersönlich eine einen knappen Meter lange, dreieckige Flaggen, die die Männer, die sich vor die Schlitten spannten, auf ihrem Marsch übers Eis bei sich tragen und in unentdeckte Gebiete mitnehmen sollten.

Am 31. Juli 1901 – die Streitigkeiten waren weitgehend beigelegt – trat die Discovery die kurze Fahrt von London zur Isle of Wight an, wo sie im Rahmen der Cowes Week vorgestellt werden sollte. Dort erwartete sie ein königlicher Empfang. Noch stand das Land unter dem Schock, den der Tod Königin Viktorias nach ihrer so langen Amtszeit ausgelöst hatte. Ihr designierter Nachfolger Edward VII. und dessen Frau Königin Alexandra kamen am 5. August an Bord der Discovery, um die an der Expedition beteiligten Männer zu verabschieden. Scott zeigte sich tief beeindruckt.

Der Besuch war vergleichsweise zwanglos, wird allen, die dabei waren, aber unvergesslich bleiben, weil sich die königlichen Hoheiten selbst an Kleinigkeiten überaus interessiert zeigten und uns für die Umsetzung unserer Pläne von Herzen alles Gute wünschten. Und obwohl wir unser Land eigentlich ohne viel Aufhebens verlassen wollten, fühlten wir uns durch den Besuch Seiner Majestät und die aufrichtige Anteilnahme an unserem Vorhaben überaus geehrt.3

Die Discovery, in der Markhams Ehrgeiz seine Erfüllung fand, die aber auch den Grundstein für Englands führende Rolle im Goldenen Zeitalter und den Heldenstatus von Scott legte, verließ am Mittag des 6. August 1901 die Isle of Wight. Es sollte gut drei Jahre dauern, bis sie wieder heimische Gewässer erreichte.

Auf der anderen Seite der Erde hatte Tom Crean zu dieser Zeit die Hälfte einer zweijährigen Dienstzeit an Bord der HMS Ringarooma absolviert, eines Torpedokreuzers der P-Klasse, der zur britischen Flotte gehörte, die das Seegebiet zwischen Neuseeland und Australien kontrollierte. Und diese Ringarooma sollte zum Sprungbrett für Creans bemerkenswerte Laufbahn als Polarfahrer werden.

Der für ein Schiff der Royal Navy eigentümliche Name verdankt sich einer Vereinbarung zwischen Großbritannien und Australien in der Spätphase der Amtszeit Königin Viktorias, in der sich Australien dazu verpflichtete, den Bau von fünf Kriegsschiffen für die Royal Navy zu finanzieren – unter der Voraussetzung allerdings, dass sie im genannten Seegebiet eingesetzt wurden. Eines dieser Schiffe war die Ringarooma, die 1890 vom Stapel lief und wie die vier anderen von der Royal Navy betrieben wurde, aber einen Namen bekam, den sich die Australier ausgesucht hatten.

Obermaat Crean war am 15. Februar 1900 auf die Ringarooma gekommen, hatte sich aber schon bald Ärger mit seinen Vorgesetzten eingehandelt. Am 18. Dezember wurde er wegen nicht näher beschriebenen Fehlverhaltens zum Obergefreiten degradiert, ein Dienstgrad, den er in den kommenden zwölf Monaten behalten sollte.4

Im November 1901 steuerte Scotts Expedition Neuseeland an, den letzten Außenposten der Zivilisation vor den unerforschten Regionen des Südens. Und ohne es zu wissen, sehnte Tom Crean die Ankunft der Discovery förmlich herbei.

Die genauen Umstände, die dazu führten, dass Crean sich der Expedition anschloss und so zu einem Hauptdarsteller auf der Bühne der Polarforschung wurde, sind umstritten. Fast alle Berichte, die über die Jahre in Büchern, Illustrierten und Zeitungen erschienen, machen einen tragischen und viel beachteten Unfall dafür verantwortlich, bei dem ein anderer Seemann sein Leben verlor. Der Vollmatrose Charles Bonner kam kurz vor Weihnachten 1901 in der neuseeländischen Stadt Lyttelton zu Tode, wo die Discovery für die Fahrt gen Süden ausgerüstet wurde. Und doch kann Creans Aufstieg aus der Anonymität des Mannschaftsdecks zu einem illustren Mitglied der Discovery-Expedition mit diesem Unglück nichts zu tun haben. Crean war bereits an Bord, als Bonner starb, und schon knapp zwei Wochen zuvor hatte er sich durch seine Unterschrift verpflichtet. Dass aus dem Seemann ein Entdecker und Polarreisender wurde, ist einer gänzlich anderen Fügung des Schicksals geschuldet, die allerdings bisher wenig Aufmerksamkeit erfahren hat.

Dass Crean mit der Expedition überhaupt in Berührung kam, ist damit erklärt, dass die Ringarooma und ein Schwesterschiff, die HMS Lizard, von der Admiralität den Auftrag bekommen hatten, Scott und seinen Männern bei ihrem Aufenthalt in Neuseeland jede erdenkliche Unterstützung zukommen zu lassen. Das Logbuch der Ringarooma nennt als Zeitpunkt der ersten Sichtung der Discovery vor der neuseeländischen Küste Freitag, den 29. November, um 4:45 Uhr.5 Crean wird ebenso wie seine Kameraden erpicht gewesen sein, das Schiff, das vor einer der großartigsten Reisen aller Zeiten stand, mit eigenen Augen zu sehen.

Die Discovery-Expedition zu einem der letzten blinden Flecke auf der Weltkarte hatte in der englischsprachigen Welt für Furore gesorgt. Nicht wenige sahen darin ein Symbol für die Kraft und Leistungsfähigkeit des britischen Königreiches, das mit dem Ende des Viktorianischen Zeitalters und sich abzeichnenden Umbrüchen in Ländern wie Südafrika und Irland an Glanz verloren hatte.

Später an diesem 29. November erreichte die Discovery die Bucht von Lyttelton südlich von Christchurch, und Kapitän Rich von der Ringarooma machte sich umgehend daran, den Befehl der Admiralität in die Tat umzusetzen. Er teilte einige Männer ein, die Scott bei seinen Vorbereitungen für die Weiterreise unterstützen sollten. Dazu gehörten Arbeiten am Rumpf und am Rigg ebenso wie ein Kurzaufenthalt im Trockendock, den ein hartnäckiges Leck erforderlich machte, durch das ein Teil des Proviants ungenießbar geworden war.

Aus dem Logbuch der Ringarooma geht hervor, dass die erste Gruppe von Männern am 3. Dezember 1901 auf die Discovery delegiert wurde.6 Möglicherweise gehörte Crean schon zu dieser Gruppe, vielleicht wurde er aber auch später auf die andere Seite der Bucht geschickt, wo die Discovery im Dock lag, denn laut Logbuch herrschte vom 3. bis zum 20. Dezember ein reger Verkehr von Seeleuten, die morgens die Ringarooma verließen, um sich auf der Discovery nützlich zu machen, und am späten Abend nach getaner Arbeit zurückkehrten.

Als einer dieser Helfer konnte sich Crean vergleichsweise schnell mit der Discovery und der Stimmung an Bord vertraut machen. Das könnte als Erklärung dafür herhalten, dass er freiwillig auf ein Schiff wechselte, das im Begriff war, für zwei oder gar drei Jahre in eine weitgehend unbekannte Weltgegend vorzustoßen.

Und doch war eine weitere Laune des Schicksals nötig, um Crean neben Männer wie Scott, Shackleton, Wilson, Evans und Wild ins Scheinwerferlicht zu rücken, einige der führenden Figuren des Goldenen Zeitalters, die sich sämtlich an Bord der Discovery und in Lyttelton befanden.

Creans Stunde war gekommen, als Harry J. Baker, ein Crewmitglied der Discovery, seinem Kapitän ein massives Problem einbrockte. Und interessanterweise kommen Baker und sein Verhalten in zeitgenössischen Berichten kaum vor.

Baker, der offenbar ein Querulant war, hatte aus Gründen, die wir nicht kennen, einen Unteroffizier geschlagen und sich anschließend aus dem Staub gemacht. So stand Scott unversehens mit einem Mann weniger da. Bis zur Abfahrt blieben nur noch wenige Tage, und in seiner Not wandte sich Scott an Captain Rich von der Ringarooma.

Scott verzichtete darauf, den Baker-Vorfall in seinem Reisebericht zu erwähnen, ja, sein Name wird in dem zweibändigen Werk nicht ein einziges Mal erwähnt – nicht einmal in der Crewliste. Es ist, als habe ein Mann dieses Namens nie existiert. Und doch war es die nur unzureichend dokumentierte Fahnenflucht von Harry J. Baker, die dafür sorgte, dass Tom Crean auf der Bildfläche der Polarforschung und -erkundung erschien.

Vollmatrose Baker, fünfundzwanzig Jahre alt und gebürtig aus Sandgate in Kent, scheint schon auf der Überfahrt von England mehrfach unangenehm aufgefallen zu sein und war bei seinen Kameraden nicht sonderlich beliebt. Der einzige Beleg für sein Fehlverhalten findet sich aber in einem handschriftlichen Brief von Scott an die Königliche Geografische Gesellschaft vom 18. Dezember 1901, als die Discovery im Begriff war, sich von Neuseeland zu verabschieden.7 Der Brief entstand drei Tage vor Bonners tödlichem Unfall und kurz bevor sich mit dem Matrosen Sinclair ein weiteres Besatzungsmitglied unerlaubt vom Dienst entfernte. Sinclair hatte immerhin einen ehrenhaften Grund vorzuweisen, denn mit der Fahnenflucht zog er die Konsequenzen daraus, dass er sich für Bonners Tod verantwortlich fühlte.

In seinem Brief kam Scott auch darauf zu sprechen, dass Baker schon früher für Ärger gesorgt hatte. Dort schrieb er: »Baker war ein guter Seemann, aber bei seinen Kameraden alles andere als beliebt.«8

Einen Vorgesetzten zu schlagen war ein Vergehen, das unter keinen Umständen geduldet werden konnte, und Scott ordnete an, Baker umgehend in Arrest zu nehmen. In seinem Brief an die Königliche Geografische Gesellschaft hieß es dazu:

Nachdem Baker den Unteroffizier geschlagen hatte, habe ich ihn darüber informiert, dass er unmöglich an Bord bleiben könne – woraufhin er Reißaus nahm. Ich erließ umgehend einen Haftbefehl und setzte auf seine Ergreifung eine Belohnung aus, aber er war und blieb verschwunden.9

Sir Clements Markham hielt seine eigene, deutlich verkürzte Version der Ereignisse fest – fraglos aufgrund von Informationen, die von Scott stammten. In seinen Memoiren heißt es über Baker: »In Lyttelton als ungeeignet aussortiert. Fahnenflüchtig. Bei seinen Kameraden unbeliebt.«10 Einige Seiten später fällt das Urteil über denselben Mann noch kürzer aus: »In Lyttelton desertiert. Ungeeignet.«11

Auch das Logbuch der Ringarooma liefert uns keine weiteren Informationen zu den Umständen, die zu Creans Wechsel auf die Discovery führten. Aber es belegt, dass der Wechsel vor Bonners tödlichem Unfall erfolgte. Am 9. Dezember hieß es dort schlicht: »Obergefreiten Crean auf die SS Discovery abkommandiert.«12

Aus Aufzeichnungen, die von der Discovery-Expedition stammen und heute von der Königlichen Geografischen Gesellschaft aufbewahrt werden, geht hervor, dass Crean am 10. Dezember 1901 zur Besatzung stieß. In dem besagten Brief Scotts an die Gesellschaft hieß es dazu:

Mit Billigung des Admirals hat Captain Rich von der Ringarooma mir freundlicherweise einen Mann namens Crean überlassen, der das verlustig gegangene Besatzungsmitglied (Baker) ersetzt.13

Der von einem Bauernhof stammende Seemann gehörte nun zu einer Elite, deren Ziel eine noch weitgehend unbekannte Region der Welt war. Dafür wurde er mit der Heuer entlohnt, die einem Obergefreiten zustand: zwei Pfund, fünf Shilling, sieben Pence im Monat (nach heutigem Stand etwa 120,70 Pfund). Bis heute herrscht die Ansicht vor, dass sich Crean in den Tagen kurz vor Weihnachten 1901 freiwillig für den Dienst auf der Discovery gemeldet hat, ein Beleg dafür findet sich in den Marineunterlagen jedoch nicht.

Überliefert ist hingegen eine Anekdote, laut der ein Besatzungsmitglied der Ringarooma gehört haben will, wie Crean sich für den Posten meldete, woraufhin er ihm gesagt haben soll: »Ich hätte nicht gedacht, dass du so verrückt bist, freiwillig eine Reise ans Ende der Welt mitzumachen.« Crean soll geantwortet haben: »Ich war ja auch verrückt genug, von der anderen Seite der Welt hierherzukommen.«

Weil Crean zu jenen Männern gehörte, die täglich zum Arbeitseinsatz auf der Discovery fuhren, wird er gewusst haben, dass seit Bakers Angriff auf den Unteroffizier ein Posten vakant war. Doch es mag auch weitere Motive gegeben haben. Ein Seemann, der sich für eine solche Reise freiwillig meldete, verdiente sich damit den Respekt und die Bewunderung der Kameraden. Und wer sich auch nur halbwegs in der Geschichte der Navy auskannte, wusste, dass seit den Tagen von Cook und anderen mit einer solchen Reise in aller Regel eine Beförderung verbunden war.

Im Entschluss, sich freiwillig zu melden, äußern sich aber auch das Crean eigene Selbstvertrauen und der Glaube an seine Fähigkeiten. Denkt man das Streben nach Unabhängigkeit hinzu, das er schon in frühester Kindheit entwickelte, hat man die Puzzleteile zusammen, aus denen sich seine Charakterstärke erklärt.

Dass Crean mit großer Wahrscheinlichkeit freiwillig auf die Discovery wechselte, belegt nur, wie wahllos die Schiffsbesatzungen in den Anfangsjahren der Polarexpeditionen letztlich zusammengestellt waren. Wie Crean hatten auch die meisten Kameraden keinerlei Erfahrung mit den Bedingungen, die sie erwarteten, und keinerlei Ausbildung erhalten, die sie auf die vor ihnen liegenden Entbehrungen vorbereitet hätte. Ihre »Qualifikation« bestand in erster Linie darin, dass sie etwas erleben wollten; was sie reizte, war die Aussicht, im Wortsinn Neuland zu betreten. In Creans Fall kam hinzu, dass er zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort war.


Bestandene Feuertaufe. Nach der Rückkehr aus der Antarktis im September 1904 nimmt die Besatzung der Discovery Aufstellung für ein Erinnerungsfoto. Crean sitzt in der hintersten Reihe (8. von links). Auf der Discovery waren einige der führenden Vertreter des Goldenen Zeitalters versammelt: Robert Scott (vorn, 8. von links), Ernest Shackleton (vorn, 5. von links, mit vor der Brust verschränkten Armen), Edward Wilson (vorn, 6. von links), Frank Wild (hinten, 3. von links), William Lashly (hinten, 7. von links) und Edgar »Taff« Evans (hinten, 10. von links).

Das Durchschnittsalter der Besatzung der Discovery betrug lediglich siebenundzwanzig Jahre, sodass Crean, der vierundzwanzig Lenze zählte, an Bord viele Gleichaltrige vorfand. So gesehen war die Reise ins Ungewisse, von der niemand wusste, wie lange sie dauern würde, für jemanden, der sein Geburtsdatum im Dunkeln gelassen hatte, um mit fünfzehn Jahren bei der Navy das Abenteuer zu suchen, eine willkommene Herausforderung.

In seiner fast zweijährigen Dienstzeit auf der Ringarooma hatte sich Crean bei seinen Kameraden beliebt gemacht. Sie dankten es ihm, indem sie Geld sammelten und ihm ein Abschiedsgeschenk mit auf den Weg gaben, ein Fotoalbum mit einer Widmung, die viel über das Ansehen verrät, das Crean genoss.

Für Thos Crean, überreicht von seinen Kameraden der HMS Ringarooma als Zeichen des Respekts, der guten Wünsche für sein weiteres Wohlergehen und eine sichere Heimkehr, aus Anlass seines Aufbruchs in die Antarktis als Freiwilliger auf dem britischen Schiff Discovery am 20. Dezember 1901.

Ein weiterer Talisman, der Crean auf seine Reise gen Süden begleitete, war das kleine Skapulier, das nach wie vor an einem Lederband um seinen Hals baumelte.

Der stille Held

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