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IN DIE WEIßE WÜSTE

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Scott plante mehrere Vorstöße in unbekanntes Terrain, die als Vorbereitung für sein Ansinnen dienen sollten, einen neuen Rekord aufzustellen und weiter nach Süden vorzudringen als je ein Mensch zuvor, ja, nach Möglichkeit sogar den Pol selbst in Angriff zu nehmen. Das war das eigentliche Anliegen der Expedition, obwohl zu diesem Zeitpunkt niemand sagen konnte, was sie jenseits der Eisbarriere und deren unmittelbarer Umgebung erwartete.

An zwei Bestleistungen, die bei diesen Vorstößen ins Landesinnere Antarktikas aufgestellt wurden, war auch Tom Crean beteiligt. Er gehörte zu der Gruppe, die Mitte November 1902 einen neuen »Süd-Rekord« aufstellte. Die zweite Premiere nimmt sich dagegen trivial aus: Er gehörte auch zu den ersten Menschen, die Weihnachten in einem Zelt auf dem antarktischen Eisschild verbrachten.

Zunächst gehörte Crean zu jenem Team, dessen Auftrag es war, die erste größere Expedition auf das Ross-Schelfeis vorzubereiten, die das Trio aus Scott, Wilson und Shackleton wagen wollte. Im Vorfeld sollten Helfer Vorratsdepots anlegen, aus denen sich die drei auf ihrer Rückkehr bedienen könnten.

Diese Helfer bildeten eine zwölfköpfige Gruppe, die, angeführt von Barne und begleitet von enthusiastischen Anfeuerungsrufen der Kameraden, am 30. Oktober aufbrach. Die Schlitten waren mit farbenfrohen Bannern und einem Union Jack bestückt. Eines der Banner ironisierte die Marotte der Briten, sich das Leben im Eis so schwer wie möglich zu machen. Die Inschrift lautete: »Bewerbung von Hunden unerwünscht«.


Scotts Männer treten den Versuch an, den Südpol zu erreichen. Tom Crean trägt den Union Jack, der mit der irischen Harfe versehen ist.

Der Schlitten, vor den Crean gespannt war, war leicht zu erkennen, denn er trug die irische Flagge. Barne beschrieb »das bunte Fahnenmeer«, das zum Abschied wehte, und erwähnte ausdrücklich »eine Flagge Irlands, die zum Obergefreiten Crean gehörte, ein grünes Tuch mit dem Union Jack in einer Ecke und einer goldenen Harfe im Zentrum«.1 Obwohl es ein rein englisches Unternehmen war, befand Crean es offenbar für nötig, seine Verbundenheit mit der Heimat zu dokumentieren.

Die Gruppe, die die Depots anlegen sollte, kehrte nach fünfunddreißig Tagen ins Lager zurück, brach jedoch am 20. Dezember erneut auf und verlebte das Weihnachtsfest auf dem Eis. Zuvor aber hatten die Männer manches erleiden müssen, um mit der eigenen Unerfahrenheit, der unzureichenden Ausrüstung und den Herausforderungen der ersten längeren Exkursion im Eis zurande zu kommen. Schließlich aber brachten sie die Mission erfolgreich zu Ende und waren zeitig genug zurück, um kurz vor Weihnachten erneut aufzubrechen.

Scott, Wilson und Shackleton machten sich am 2. November 1902 auf den Weg, und auch diese Gruppe wurde begeistert verabschiedet. Sie führte fünf schwer beladene Schlitten mit sich, die von neunzehn tatendurstigen Hunden gezogen wurden und mit Flaggen und Wimpeln geschmückt waren. Zusammen brachten sie 840 Kilogramm auf die Waage, der schwerste wog 200 Kilogramm, der leichteste immerhin noch 80. Ursprünglich hatte Scott geplant, bei der Querung des Schelfeises auf die Hundegespanne zu setzen, doch sehr schnell erwies sich, dass keiner der Männer recht wusste, wie er die Hunde bändigen und führen sollte. Und bis auf die Übungen zu Beginn des Winters hatte keiner nennenswerte Erfahrung auf Skiern vorzuweisen.

Im Grunde waren die Männer, die sich auf die gefährliche Reise in die weiße Wüste begaben, blutige Anfänger, die es zudem versäumt hatten, sich mit den beiden für den Zweck am ehesten geeigneten Transportmitteln zu befassen: Hunden und Skiern. Und so mussten sie schließlich zu dem veralteten und qualvollen Mittel greifen, mit dem sie vertraut waren, und sich selbst vor die Schlitten spannen.

So wurde die Exkursion schon nach kürzester Zeit zu einer Schinderei, bei der die Männer bis zu den Knien im Schnee versanken und die schweren Schlitten wieder und wieder in Eisspalten hängen blieben. Sechs der Begleiter machten sich am 13. November auf den Rückweg, die Übrigen erreichten zwei Tage später 79°15' S – so weit nach Süden war bis dahin noch niemand gekommen. Der Erfolg war bemerkenswert, aber auch hart erarbeitet.

Während Barne, Crean und die anderen umkehrten und nach Norden wanderten, ahnte Scott, dass jenen, die weiter nach Süden strebten, »extreme Anstrengungen« bevorstanden. Mit dieser Prophezeiung sollte er recht behalten, denn für die ersten 175 Kilometer benötigten die drei Männer dreißig Tage. Anders gesagt, schafften sie kaum mehr als fünf Kilometer am Tag. Verantwortlich dafür waren das Gewicht der Schlitten und die fehlende Übung im Umgang mit den Hunden, vor allem aber Scotts Entschluss, für den Transport der Ausrüstung eine Art Staffelsystem einzuführen – mit der Folge, dass die Männer drei Kilometer zurücklegen mussten, um ihrem Ziel einen Kilometer näher zu kommen: Zunächst nahmen sie einen Teil der Ladung auf die Schultern und trugen ihn einen Kilometer weit voraus, um anschließend in den eigenen Fußspuren zurückzugehen und die restliche Fracht zu holen.

Bis zu zehn Stunden pro Tag betrieben, war diese Art der Fortbewegung für Körper und Geist gleichermaßen Gift. Am 14. Dezember, zu einem Zeitpunkt also, an dem sich die Exkursion erst in der fünften Woche befand und die Männer noch halbwegs bei Kräften waren, legten sie sage und schreibe drei Kilometer zurück, und auch die nur »unter größten Anstrengungen«.

Je schwerer die Arbeit wurde, desto größer wurde der Hunger. Und schlimmer noch: Die ersten Anzeichen von Skorbut stellten sich ein. Besonders stark litten die Hunde, die notorisch unterversorgt waren. Der erste starb am 10. Dezember, und Scott sah sich gezwungen, darüber nachzudenken, wie lange sie gen Süden gehen konnten, wenn, womit zu rechnen war, weitere sterben sollten. So wurden die Hunde von einer Hilfe nach und nach zur Last.

Doch noch kamen die Männer, wenn auch langsam, voran, und jeden Tag sichteten sie Neuland. Am 28. Dezember schlugen sie ihr Lager auf 82°11' S auf. Von der unzureichenden Nahrung, der schweren Arbeit und dem fortschreitenden Skorbut waren sie stark geschwächt, sodass Scott in sein Tagebuch notierte: »Bald haben wir unser Pulver verschossen.«2

Shackleton litt unter den Umständen mehr als die anderen, und am 30. Dezember ließen Scott und Wilson ihn im Zelt zurück, übertrugen ihm die Aufsicht über Hunde und Ausrüstung und machten sich auf Skiern auf den Weg nach Süden. Sie gelangten bis auf 82°17' S und stellten damit einen neuen Rekord auf. Bis zum Südpol blieben aber noch immer gut 850 Kilometer. Dass er zurückgelassen worden war und am Teilerfolg nicht teilhaben konnte, empfand Shackleton als schwere Kränkung, die er zeitlebens nicht vergessen sollte.

Der Rückweg zum Schiff wurde zu einem verzweifelten Duell mit der Zeit. Der Hunger drohte überhandzunehmen, und der Skorbut setzte den Männern mehr und mehr zu. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie die Anstrengungen, die vor ihnen lagen, und den Bedarf an Lebensmitteln maßlos unterschätzt hatten. Nun hing ihr Leben von den Depots ab. Doch die waren nur unzureichend markiert und entsprechend schwer zu finden.

Shackletons Gesundheitszustand verschlechterte sich so sehr, dass er dem Zusammenbruch nahe war. So mussten zwei erschöpfte und ausgehungerte Männer die komplette Last schleppen, die eigentlich für drei gedacht war. Deshalb warf Scott alles weg, was nicht unbedingt gebraucht wurde, und tötete auch die verbliebenen Hunde. Shackleton hatte genug an seinem eigenen Gewicht zu schleppen, und so trottete er, nach Luft ringend, neben den Schlitten her, während Scott und Wilson mit letzter Kraft zogen. Scott hatte sie auch um die Skier erleichtert, die bis auf ein Paar zurückgeblieben waren.

Shackleton spuckte unterdessen Blut und kollabierte, weshalb er auf den Schlitten gelegt und von den beiden anderen gezogen wurde. Wilson war jedoch davon überzeugt, dass das Mehrgewicht sie heillos überfordern würde und sie schließlich alle drei zum Tode verurteilt wären. Eines Abends sagte er zu Scott, dass Shackleton die Nacht wohl nicht lebend überstehen würde. Shackleton schnappte die Bemerkung auf. Jahre später hatte er Anlass, sich daran zu erinnern, als Scott und Wilson auf dem Rückweg vom Südpol unweit jener Stelle auf dem Schelfeis zu Tode kamen.

Shackletons Zähigkeit und Willensstärke, die er bei späteren Expeditionen mehrfach unter Beweis stellen sollte, zeigten sich auch jetzt, und irgendwie gelang es ihm, das Martyrium zu überleben. Die Kraft dazu schöpfte er möglicherweise auch aus der Abneigung, die Scott ihm zunehmend entgegenbrachte. Der hatte auf Shackletons Schwäche überaus negativ reagiert und sie als »Versagen« gebrandmarkt. Wilson hatte eingreifen müssen, um zu verhindern, dass Scott den Kranken lautstark beschimpfte, obwohl sich letztlich alle drei in einem Wettlauf mit dem Tod befanden.

Am 3. Februar – noch waren sie knapp zwanzig Kilometer von der rettenden Discovery entfernt – trafen die Männer unverhofft auf Bernacchi und Skelton. Nach drei Monaten auf dem Schelfeis, halb verhungert und vom Skorbut gezeichnet, waren die drei Kameraden kaum mehr zu erkennen. Scott schrieb: »Es gibt guten Grund zu der Annahme, dass wir nicht zu früh zurückgekommen sind.«3

Während die Gruppe um Scott auf eine harte Probe gestellt wurde, unternahm die Gruppe um Barne, zu der auch Crean gehörte, eine zwar anstrengende, aber letztlich problemlose Exkursion Richtung Südwesten. Als sie am 20. Dezember 1902 loszogen, schleppten die Männer, auf zwei Schlitten verteilt, ein Gewicht von mehr als 500 Kilogramm hinter sich her, zu dem unter anderem Vorräte für fünf Wochen sowie Petroleum für sechs Wochen beitrugen. Fünf Tage nach dem Aufbruch verbrachten sie, in einem Zelt zusammengepfercht, als erste Menschen das Weihnachtsfest auf dem antarktischen Eisschild.

Aus diesem Anlass hatten ihnen die Kameraden von der Discovery Weihnachtskarten geschrieben, die den Weg über das Eis mitmachten. Williamson und die anderen waren trotz der bitteren Kälte darauf bedacht, das Fest nicht ausfallen zu lassen. Nach dem Essen quetschten sich alle sechs in ein Dreimannzelt, um dort, wie Barne es nannte, ein »Konzert« zu geben, an dem sich alle beteiligten, was insbesondere Crean gefallen haben dürfte.

Er war dafür bekannt, dass er gern sang und in jedes Lied einstimmte, das irgendwo erklang. Und was für »normale« Zeiten galt, galt unter den gegebenen Bedingungen umso mehr. Zudem wurde seine Stimme von einem »Weihnachtsgeschenk« geölt, das jemand auf einen der Schlitten geschmuggelt hatte: »Zusätzliche Motivation bezogen wir aus einer Flasche Portwein, die zu diesem Zweck ins Gepäck gelangt war«, bekannte Barne.4 Und er lobte seine Mitreisenden überschwänglich, wobei ihnen allen zugutekam, dass niemand unterwegs krank geworden war oder sich verletzt hatte, was den Erfolg der Exkursion bedroht hätte. An Scott gerichtet, schrieb er:

Ich kann die Männer, die sich vor die Schlitten spannten, nicht hoch genug loben. Jeder Einzelne von ihnen war während der gesamten Zeit guter Dinge, und keiner hat sich je über etwas beklagt oder Anzeichen von Unzufriedenheit erkennen lassen.5

Am 30. Januar kehrte die Gruppe um Barne zur Discovery zurück, die noch immer im McMurdo-Sund lag und in einer eineinhalb Kilometer großen Eisfläche gefangen war. Und wenn sie nicht bald freikäme, würde sie einen weiteren Winter im Süden verbringen müssen.

Während die Männer sich auf dem Eis aufgehalten hatten, war die Morning eingetroffen, die von Captain William Colbeck befehligt wurde und losgeschickt worden war, um nötigenfalls Hilfe zu leisten. Doch nun trieb Colbeck die Sorge um, selbst vom Eis eingeschlossen zu werden und zwölf Monate in Gefangenschaft verbringen zu müssen. Colbeck hatte gemeinsam mit Borchgrevink und Bernacchi die Southern Cross-Expedition mitgemacht und kannte die Gefahr, die vom Eis ausging. Dieser Gefahr wollte er in jedem Fall entgehen.

An Bord der Morning befand sich auch Edward »Teddy« Evans, ein junger Leutnant der Marine. In Antarktika traf Evans – der später Lord Mountevans hieß – auf Scott und die Matrosen Crean und Lashly, die auf diese oder jene Weise in seinem Leben noch eine wichtige Rolle spielen sollten.

Scott wusste, wie prekär seine Lage war, und begann umgehend damit, die nächste Überwinterung vorzubereiten. Die Lager wurden mit frischem Fleisch von Robben, Raubmöwen und Lamm aus Neuseeland aufgefüllt. Und er beschloss, acht seiner Männer, vornehmlich Mitglieder der Handelsmarine, mit Colbeck zurück in die Heimat zu schicken. Bezeichnenderweise war auch Shackleton unter denen, die die Discovery verlassen mussten.

Der war über diese Entscheidung tief gekränkt, weil ihm nun die Ehre versagt blieb, zu jenen zu gehören, die die Eroberung des Südpols in Angriff nahmen – möglicherweise erfolgreich. Das empfand er als unverdiente Strafe, und als die Morning am 2. März 1903 den McMurdo-Sund verließ und Kurs Richtung Norden nahm, verlor er die Fassung und weinte bitterlich.

Am Hut Point war die Stimmung nicht wesentlich besser, als die Morning am nördlichen Horizont verschwand und die Männer sich auf ein weiteres Jahr Einsamkeit einstellen mussten. Am 13. März 1903 notierte Scott: »Ich habe die Hoffnung, das Eis könnte sich doch noch zurückziehen, endgültig aufgegeben.«6

Den Winter verbrachten sie genauso wie den vorherigen und hielten sich mit wissenschaftlichen Untersuchungen, Pflichterfüllung und mancherlei Spielen so gut es ging bei Laune. Einmal veranstalteten sie bei –40 °C ein Fußballspiel – »Verheiratete und Verlobte gegen Junggesellen«. Wie es ausging, ist nicht überliefert, aber die Kälte zwang sie, die Halbzeiten auf jeweils dreißig Minuten zu verkürzen.

Der zweite Winter war kälter als der erste, aber nun konnten die Männer auf einige wertvolle Erfahrungen zurückgreifen. So gestand Bernacchi zwar ein, dass sich der zweite Winter »unendlich hinzog«, fügte aber hinzu:

Dank des Wissens, über das wir inzwischen verfügten, vor allem hinsichtlich der Ernährung, gingen wir 1903 wesentlich fitter in den Sommer, als das im Jahr zuvor der Fall gewesen war.7

Auch Lashly sehnte sich zurück in die Zivilisation – »um mal wieder was anderes zu sehen« – und notierte am 1. April 1903 in sein Tagebuch:

Die schlimmste Zeit des Jahres steht unmittelbar bevor. In drei Wochen geht die Sonne unter und lässt sich monatelang nicht sehen. Aber solange wir gesund bleiben, soll uns das nichts anhaben.8

Scott zufolge verlief der Winter, ungeachtet des Wetters, »ausgesprochen ruhig und unaufgeregt«. Trotzdem wurden unter Deck eifrig Pläne für den bevorstehenden Sommer und die anstehenden Schlittentouren geschmiedet. Scott hatte sich vorgenommen, mit einer Gruppe von Männern den Ferrar-Gletscher zu erkunden, Royds und Wilson sollten zum Kap Crozier gehen, um dort Eier des Kaiserpinguins einzusammeln. Unterstützt von Crean, sollte Barne schließlich eine Exkursion zu den Bergen antreten, die Scott im Vorjahr bei seinem Marsch Richtung Süden gesichtet hatte.

Dieses Mal standen die Vorbereitungen jedoch unter größerem Zeitdruck, weil Scott die Discovery um jeden Preis aus dem Eis befreien wollte, um nicht einen dritten Winter in der Antarktis verbringen zu müssen. So ordnete er an, dass die Exkursionen bis Mitte Dezember abgeschlossen sein mussten, damit sich jeder Einzelne auf die ungleich wichtigere Aufgabe konzentrieren konnte, die Discovery zu befreien.

Mitte September gehörte Crean zu einer von Barne angeführten Gruppe, die südöstlich der im Schelfeis gelegenen White Island Vorratsdepots anlegen wollte. Der Zeitpunkt war sehr früh gewählt und beschwor die Gefahr herauf, von widrigem Wetter überrascht zu werden. Tatsächlich sollten die Bedingungen schlechter werden, als es sich zuvor jemand hätte ausmalen können, und die Männer mussten viel erdulden.

Die sechs Männer – Barne, Leutnant Mulock (als Ersatz für Shackleton), Quartley, Smythe, Joyce und Crean – sahen sich Temperaturen von –40 °C ausgesetzt, kaum hatten sie das Schiff verlassen, und während sie die Schlitten übers Eis zogen, verschlechterte sich das Wetter weiter. Schnell wurde klar, dass die Lektionen des Vorjahres, die vor allem Scotts Trupp hatte schmerzlich lernen müssen, nur ein schaler Vorgeschmack gewesen waren.

Nun fielen die Temperaturen auf bis zu –60 °C. In seinem Tagebuch wies Scott darauf hin, dass nie zuvor das Überleben von Menschen von einem einfachen Zelt und einem schlichten Schlafsack abhängig gewesen war. Wie genau sich das grauenhafte Geschehen abspielte, berichtete er ebenfalls:

Als sie das Schiff verließen, lag die Temperatur unter –40 °C; als sie White Island erreichten, fiel sie auf –45 °C und schließlich bis auf –50 °C. Und auch dann war noch nicht Schluss, sie fiel und fiel, bis sie schließlich die Marke von –55 °C erreichte und unterschritt.

Bei exakt –55,4 °C zerbarst das Glasrohr mit dem Alkohol, das Thermometer war nicht zu reparieren. Wir werden daher nie erfahren, wie kalt es tatsächlich gewesen ist, aber Barne schwört, dass die Temperatur bis auf –60 °C gefallen ist.

Joyce war der Einzige, dem die Bedingungen empfindlich zusetzten. Nachdem er mehrfach Erfrierungen im Gesicht erlitten hatte, beschlossen die Männer, künftig nah beieinanderzubleiben. So mussten sie aus nächster Nähe beobachten, wie sein Gesicht weiß wie Schnee wurde. Die Folgen sind ihm zwar heute noch anzusehen, aber als es dazu kam, konnten sie ihm zunächst beispringen und die Durchblutung wieder in Gang bringen. Das Schlimmste stand ihm aber noch bevor, denn auf dem weiteren Weg äußerte er irgendwann gegenüber seinen Kameraden, dass er einen Fuß nicht mehr spürte. Nachdem rasch ein Zelt aufgestellt worden war, untersuchte Barne ihn und stellte fest, dass der Fuß bis zum Knöchel weiß angelaufen war. Es dauerte eine geschlagene Stunde, bis wieder Leben Einzug hielt, und auch das nur, weil die Offiziere es reihum übernahmen, den Fuß an ihrer Brust zu wärmen.

Alle Männer der Gruppe, selbst Joyce, der es besser wissen müsste, scheinen den Vorfall heute als großen Spaß zu betrachten. Ich fände es allerdings überhaupt nicht komisch, wenn mir die Füße erfrieren würden oder ich bei Temperaturen von –55 °C den Oberkörper frei machen müsste, um jemand anderem zu helfen. Dem Vernehmen nach hielten die, die das auf sich nahmen, es zehn Minuten lang aus, den Fuß an ihren Körper zu drücken, bis es Zeit wurde, sich ablösen zu lassen. Sie räumen auch ein, dass es kein angenehmes Gefühl war, behaupten aber, es habe vor allem ihren Appetit angeregt. Dank ihrer Fürsorge, so viel steht fest, konnte Joyce wohlbehalten und mit der vollen Anzahl an Zehen zum Schiff zurückkehren, und allein darauf kommt es letztlich an.9

Zum Glück mussten die Männer nur acht Tage auf dem Schelfeis verbringen. Und doch war es ein erschütterndes Erlebnis gewesen und eine erneute Erinnerung an die Gefahren. Ungeachtet dessen begannen Crean und seine Kameraden schon wenige Tage nach der Rückkehr mit den Vorbereitungen für die nächste Exkursion, die gut 300 Kilometer weit in südlicher Richtung über das Ross-Schelfeis in das Gebiet führen sollte, das heute Barne Inlet heißt. Und auch auf dieser Tour sollte das Wetter, das Stürme aus Süd herantrug, denkbar unvorteilhaft sein.

Mit Vorräten für siebzig Tage im Gepäck verließen die sechs Männer am 6. Oktober das Schiff. Nach neunundsechzig Tagen waren sie zurück, was in Anbetracht des schlechten Wetters nach einer optimalen Rationierung des Proviants klingt. Doch ein einziger Schneesturm zur falschen Zeit, der die Männer in ihren Zelten festgehalten hätte, hätte fatale Konsequenzen gehabt. Auch so zwang das schlechte Wetter die Männer, neun Tage in ihren Zelten zu bleiben, wenn auch zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch reichlich Proviant hatten. An weiteren vierzehn Tagen konnten sie entweder erst spät aufbrechen oder mussten halbe Tage in den Zelten verbringen. Jede weitere Verzögerung hätte ihren Spielraum gefährlich eingeschränkt.

Barne ärgerte sich darüber, dass sie nicht schneller vorankamen, doch Scott wusste das Wetter richtig einzuschätzen und notierte im Rückblick, dass der Trupp »von Beginn an vom Pech verfolgt« war. Zusätzlich ausgebremst wurden sie durch »Faltungen und Verwerfungen« an jener Stelle, an der das Schelfeis auf den vereisten Meeresarm traf, also am Fuß jenes Gletschers am Rande der Britannia Range, der heute Byrd-Gletscher heißt.

Es war die herausforderndste Exkursion, die Crean im Rahmen der Discovery-Expedition unternahm. Die Männer mussten tiefe Gletscherspalten und steile Höhenrücken queren, wurden aber für die Gefahren, denen sie sich aussetzten, und die Schufterei, die es bedeutete, die Schlitten über ein solches Gelände zu ziehen, schließlich belohnt. Allen Schwierigkeiten zum Trotz gelang es ihnen, zum ersten Mal den Verlauf der gebirgigen Küstenlinie zu kartieren, die sich bis zur Rossbarriere zieht – eine herausragende Leistung.

Der wichtigste Beitrag der Exkursion zur Discovery-Expedition gelang jedoch eher zufällig und als die Männer schon auf dem Rückweg zum Schiff waren. Dabei passierten sie auch das Depot A, das eine Vorhut dreizehn Monate zuvor auf der Halbinsel Minna Bluff, die vom Mount Discovery bis zum Schelfeis reicht, angelegt und fest verankert hatte. Doch zum Erstaunen aller hatte es sich in dieser Zeit um 556 Meter beziehungsweise 1,2 Meter pro Tag bewegt. Schon zuvor waren die die Expedition begleitenden Wissenschaftler der Überzeugung gewesen, dass sich das Schelfeis bewegte, doch der Zufallsfund erlaubte es ihnen erstmals, die Geschwindigkeit zu bestimmen, mit der es das tat. Scott nannte die Entdeckung »einen der größten Erfolge der gesamten Expedition«.

Barne grollte immer noch wegen der Strapazen und des langsamen Vorankommens. Umso mehr war er von den Männern angetan, die ihn begleitet hatten, und so berichtete er Scott:

Hinsichtlich des Verhaltens der Gruppe kann ich nur sagen, dass die Männer jedes erdenkliche Lob verdient haben. Jeder von ihnen hat sein Bestes gegeben, um den Erfolg der Exkursion zu sichern.10

Die Rundreise führte Crean und die anderen über 640 Kilometer, doch dem schlechten Wetter und den Anstrengungen war es geschuldet, dass sie dafür neunundsechzig Tage benötigten – ein Durchschnitt von lediglich knapp zehn Kilometern am Tag. Selbst wenn man die Zeit abzieht, die sie wegen Schneesturms in ihren Zelten verbringen mussten, legten sie durchschnittlich nicht mehr als zwölf Kilometer am Tag zurück.

Zum Vergleich: Scotts Marsch Richtung Westen dauerte einundachtzig Tage, aber in dieser Zeit legte er 1750 Kilometer zurück. Das mag als Beleg dafür dienen, dass Scott aus dem gescheiterten Marsch Richtung Südpol im Vorjahr mindestens eine Lehre gezogen hatte. Denn dieses Mal achtete er darauf, Matrosen einzusetzen, die sehr genau wussten, was es hieß, sich vor einen Schlitten zu spannen – Männer wie Evans und Lashly, deren diesbezügliche Fähigkeiten im Goldenen Zeitalter ihresgleichen suchten. Auf der Exkursion mit Wilson und Shackleton, der ersten ins Inland Antarktikas überhaupt, hatte Scott in dreiundneunzig Tagen lediglich 1500 Kilometer zurückgelegt. Der Unterschied war gewaltig.

Scott kehrte am Heiligabend 1903 zur Discovery zurück, traf an Bord aber nur vier Männer an. Alle anderen, auch Crean, waren mit dem verzweifelten Versuch beschäftigt, das Schiff aus der Gefangenschaft im Eis zu befreien.

Zum großen Verdruss der Mannschaft lag zwischen der Discovery und dem offenen Meer eine 32 Kilometer messende Eisfläche. Allmählich dämmerte den Männern, dass sie entweder ein Wunder benötigten oder das Schiff aufgeben und sich zur Morning durchschlagen mussten, die Neuseeland erneut verlassen hatte, um sie nötigenfalls aufzunehmen.

Die Männer machten sich ans Werk und versuchten verzweifelt, über eine Strecke von 32 Kilometern eine zwei Meter dicke Eisschicht durchzusägen. Nach zwölf Tagen harter Arbeit war der Ertrag vergleichsweise lächerlich, er bestand aus zwei parallel verlaufenden Schnitten von 137 Metern Länge. Der Versuch, sich auf diese Weise zu befreien, musste als gescheitert gelten, und so ordnete Scott an, ihn einzustellen. Stattdessen begann er umgehend mit den Vorbereitungen für einen weiteren Winter, während die Männer den Horizont nach der Morning absuchten, die jederzeit eintreffen konnte.

Sie staunten nicht schlecht, als am 5. Januar 1904 zwei Schiffe in Sicht kamen – die Morning und das in Dundee gebaute Walfangschiff Terra Nova. Die Männer, die unterdessen zwei Jahre in der Antarktis hinter sich hatten, waren von dem Anblick verständlicherweise begeistert. Williamson zufolge begannen sie, »wie Wilde herumzuspringen«.

Der stille Held

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