Читать книгу Eine Pilgerreise zum Ende der Welt - Michael Sohmen - Страница 10
Der Weinbrunnen
Оглавление6. August, Estella → Torres del Rio
Wie gewohnt werde ich schon früh vor Einbruch der Morgendämmerung geweckt. Hektisches Packen von Rucksäcken ist zu hören, hin und wieder blitzen Taschenlampen auf, halblautes Gemurmel hält mich wach. Ich verlasse zeitig, wie viele andere Pilger, die Stadt Estella morgens um 7 Uhr. Und kurze Zeit später erreiche ich ein Highlight des Jakobsweges: den Weinbrunnen! Aus diesem kann man laut Ausschilderung an dem linken Hahn Wein zapfen. Hocherfreut stelle ich mich an einer Schlange von Pilgern an, halte meine Trinkflasche schon bereit, um sie mit Wein zu füllen. Doch der Weinbrunnen bleibt trocken, nur ein Tropfen löst sich, das ist alles. Etwas enttäuscht mache ich mich weiter auf den Weg. Das erhoffte Frühstück muss wohl ausfallen.
Der Brunnen ist eine Marketingidee eines regionalen Weinproduzenten, der seit 1991 Pilgern einen Schluck Wein der ›Bodegas Irache‹ zum Verkosten anbietet. Wer dort zu früh vorbeikommt, hat Pech. Der Weinbrunnen ist erst ab 8 Uhr morgens in Betrieb.
Das Kloster Irache ist eines der ältesten auf dem Jakobsweg und existierte schon mehr als 100 Jahre vor der Gründung der benachbarten Siedlung Estella. Im frühen Mittelalter diente das Kloster als Pilgerhospiz. Später wurde die neugegründete Nachbarsiedlung zur Konkurrenz, als der Jakobsweg durch Sancho I, dem König von Navarra und Aragón, so verlegt wurde, dass er durch Estella verläuft. Die neue Siedlung expandierte über die Jahre und entwickelte sich zu einer Stadt, während Irache im Laufe der Zeit zunehmend an Bedeutung und zuletzt auch die Funktion als Kloster und Pilgerherberge verlor.
Es gibt eine Auswahl zwischen zwei Wegen - man kann links dem Pfad aufwärts folgen oder nach rechts abzweigen. Neugierig blättere ich in meinem kleinen Reiseführer, der empfiehlt: »dem Weg rechts folgen!« - auf einen Asphaltweg. Nach meiner Vermutung ist es ein Autopilger, der diesen Führer geschrieben hat. Wahrscheinlich hatte er in der Nähe geparkt, war bis zum Weinbrunnen gelaufen, hatte sich dort einen größeren Schluck gegönnt, ist wieder zu seinem Wagen zurückgekehrt, eingestiegen. Mit Vollgas zur nächsten Lokalität gefahren, die gute Fotos verspricht, einer Liste folgend, um die Sehenswürdigkeiten der Reihe nach abzuarbeiten.
Ich entscheide mich für die Abbiegung links. Der Weg führt über einen Trampelpfad durch das Unterholz eines Waldes, vermutlich die schönere Variante. Beide Wege führen bald wieder zusammen, man wandert an Feldern vorbei, durch eine idyllische Hügellandschaft. Die Hügel haben die Form von Vulkankegeln, auf deren Gipfel aus der Ferne gelegentlich Burgen oder Ruinen zu erkennen sind. Danach geht es wieder durch eine Landschaft mit abgeernteten Feldern und Strohballen, die zu Kathedralen ähnlichen Gebilde errichtet wurden. Vermutlich werden die Ballen zu dem Zweck übereinandergestapelt, um das Stroh vor dem Austrocknen zu schützen.
In Los Arcos angekommen, was nur ›die Bögen‹ bedeutet, finde ich im Zentrum des Ortes einen großen Platz vor, an dem sich Restaurants und Cafés aneinanderreihen. Gegenüber erhebt sich eine Kirche. Manchmal schaue ich mir Kirchen von innen an, wenn sie gerade auf dem Weg liegen - schließlich bin ich Pilger. Häufig bekommt man dort einen Stempel für den Pilgerausweis. Vor allem ist es angenehm, während der Mittagshitze eine Weile abkühlen zu können.
Das Eingangsportal ist geöffnet, ich trete ein und werde sofort von der inneren Gestaltung des Kuppelgebäudes überwältigt. Das von reich verzierten Säulen gestützte Gewölbe ist von der Mitte der Kuppel bis zum Boden bis ins kleinste Detail rundum mit barocken Holzschnitzereien versehen, kunstvoll bemalt und mit Blattgold überzogen. Der gesamte Raum wird geschickt erleuchtet durch einen kleinen verglasten Turm, der in der Mitte der Kuppel das Sonnenlicht hinein lenkt. Ein Gesamtkunstwerk in Perfektion, dem nichts fehlt, an dem man nichts verbessern könnte. Was man im hinteren Teil besichtigen kann, was ich auch in anderen Kirchen auf dem Weg öfters gesehen habe, ist ein Glassarg mit einer blutüberströmten Jesusfigur, auf dem geschnitzte Engel sitzen. Martialisch-religiöse Kunst, die nicht so ganz meinen Geschmack trifft.
Die Kirche ist für mich die Beeindruckendste überhaupt. Von den Pilgern, die ich später getroffen habe, hatte kein einziger diese von innen besichtigt. Mich wundert, dass kein Reiseführer – einige hatte ich nach der Tour durchgeblättert - die künstlerische Ausgestaltung des Gewölbes und des Innenraums erwähnt. Nur die Gesamtarchitektur des Gebäudes wird gelobt. Öfters frage ich mich, ob die Autoren von Reiseführern immer nur von anderen abschreiben, da alle mehr oder weniger dieselben Sehenswürdigkeiten erwähnen.
Die Tagesetappe endet in Torres del Rio, der Bedeutung nach »Türme, die am Fluss liegen«. Häufig haben die Orte sprechende Namen, beispielsweise benannt nach den ersten Gebäuden, die errichtetet wurden. Heute sucht man Türme hier vergeblich. Ich komme bald in der Herberge an, die mit einer Bar und einem Restaurant im Erdgeschoss recht gemütlich gestaltet ist, sowie einigen kleineren Schlafsälen in den oberen Stockwerken. Einen Minuspunkt gibt es für die Bäder, in denen man nur kalt duschen kann - im Gegensatz zur Herberge in Estella, in der es nur brühend heißes Wasser gibt.
Im Schlafsaal treffe ich eine Gruppe von Koreanern, die ich zuvor in der Herberge von Puente la Reina gesehen hatte. Und eine Deutsche, der ich in Roncesvalles begegnet bin, die mit dem Auto auf dem Jakobsweg unterwegs ist - begleitet von ihren zwei kleinen Kindern. Man könne zusammen Abendessen, schlägt sie mir vor, ebenso würde sich eine Belgierin anschließen. Was mich sehr freut, da ich auf der Wanderung bis jetzt noch keinen kennengelernt habe, mit dem ich mich unterhalten konnte bei einem Pilgermenü. Nur die Portionen der Speisen fallen etwas mager aus.
Von Deutschland habe ich immer noch eine Großpackung mit Gummibären im Rucksack übrig, auf die ich bisher keinen Appetit hatte. Die bekommen die Kinder, dafür wird mein Rucksack etwas leichter.
Eine verwinkelte, nette, kleine Siedlung, aber was findet man hier an Sehenswürdigkeiten? Es gibt eine romanische achteckige Kirche, in der typischen Bauweise des Templer-Ordens. Iglesia Santo Sepulcro, dem Namen nach ein Gotteshaus, das dem heiligen Grab zu Jerusalem gewidmet ist. Die Kirche von Innen zu besichtigen, dazu komme ich leider nicht mehr - zu spät nach den Öffnungszeiten, die am Eingang angebracht sind.