Читать книгу Eine Pilgerreise zum Ende der Welt - Michael Sohmen - Страница 9
Fiesta!
Оглавление5. August, Puente la Reina → Estella
Die morgendliche Wanderung beginnt mit einem längeren Aufstieg. Einige Kilometer weiter sehe ich einen Wegweiser: ›Cirauqui – Puente y Calzada Romana‹. Ein geschichtlicher Ort, hier gibt es also eine Brücke und eine Straße aus der Römerzeit.
Ein kurzes Stück über Kopfsteinpflaster geht es aufwärts und durch einen Torbogen, an dem man sich den Stempel für die Credentials holen kann. Einen Mini-Reiseführer habe ich mitgenommen, vielleicht erklärt er mir mehr über den Ort und ich lese: »Cirauqui. Wenn man zum Ortszentrum hinaufgeht, kommt man ziemlich ins Schnaufen«. Irritiert schüttele ich den Kopf, die anstrengende Strecke gab es weit vorher, kurz nach Puente la Reina. Der Autor des Büchleins war wohl ein Autopilger, der die 100 Meter Aufstieg in die Ortsmitte als besonders anstrengend empfindet.
Der Name Cirauqui ist baskisch und bedeutet Kreuzottern-Nest. Am Ortsende gehe ich etwas vorsichtiger und halte Abstand zu den hohen Grashalmen am Wegesrand. Nach einem Stück des Abstiegs überquert man die Römerbrücke. Es ist zwar eher eine Ruine, aber erfüllt immer noch ihren Zweck - ein ausgetretener Pfad führt über die Reste des Mauerwerks. Später sind auf dem Wanderweg stellenweise Platten aus Sandstein verlegt, in denen man Einkerbungen von Wagenrädern erkennen kann. Ich wandele also gerade einen antiken Pfad entlang, über die Reste einer alten Römerstraße. Was weiß man über ihre Entstehung? Nach aktuellem Stand nur, dass sie aus der römischen Zeit stammt.
Zum ersten Mal begegne ich südamerikanischen Pilgern. Vorher hatte ich gehört, im Sommer seien sehr viele Lateinamerikaner unterwegs, bis dahin hatte ich aber noch keinen gesehen. Abermals geht es bergab, bis man an die nächste Brücke gelangt. Über den Rio Salado, einen salzigen Fluss. Zuvor hatte ich gelesen, im ›Codex Calixtinus‹, dem berühmten Jakobsbuch des gelehrten Picaud aus dem 12. Jahrhundert, würde gewarnt: »trinke weder selbst von diesem Wasser, noch tränke deine Pferde darin. Denn das Wasser dieses Flusses ist giftig.«
Ein durch Umweltverschmutzung vergifteter Fluss schon im frühen Mittelalter? Neugierig schaue ich mir die Umgebung genauer an. Am gegenüberliegenden Ufer sehe ich Wasser aus einem Hügel sickern, dort haben sich eine Salzkruste und Blumen aus Salzkristallen gebildet - es muss sich dort ein größerer Salzstock befinden. Durchsickerndes Wasser wird mit Salz gesättigt, dieses läuft in den Fluss. Ungenießbares Wasser, das nicht durch Menschen verursacht wurde, sondern eine geologische Besonderheit ist.
Die Originalhandschrift des Codex Calixtinus, in der Kathedrale von Santiago gelagert, wurde übrigens zeitweise als gestohlen gemeldet. Dann, ein Jahr später, im Juli 2012, tauchte sie wieder auf - in der Garage eines Elektrikers, der zeitweise in der Kathedrale beschäftigt war.
Im nächsten Ort, Lorca, befindet sich ein Wasserbrunnen vor der Kirche, an dem ich meine Trinkwasservorräte auffüllen kann. Frisches Wasser habe ich auch dringend nötig, um den Weg in der nachmittäglichen Hitze durch eine steppenartige Landschaft, vorbei an Olivenhainen zu überstehen.
Bald entdecke ich, versteckt zwischen den Olivenbäumen, eine antike und verlassen wirkende Kapelle, bei der es sich um eine spirituell wichtige Pilgerstätte zu handeln scheint: Steinpodeste im Inneren, auf denen unzählige Steine und Zettel mit Botschaften abgelegt sind, vor allem mit religiösem Hintergrund - Wünsche und Dankschreiben, an den Herrn gerichtet.
Nachmittags komme ich in Estella an, benannt nach dem lateinischen Wort Stella - dem Stadtgründer soll ein leuchtender Stern erschienen sein. Gleich zu Anfang begeistert mich der Ort, als sich eine mittelalterliche Ruine an die andere reiht. Eine der Besonderheiten auf dem Jakobsweg: immer wieder ist Historisches zu entdecken, mittelalterliche Bauwerke, Ruinen aus sehr früher Zeit, deren Bedeutung im Dunkel der Jahrhunderte verschollen ist. Ich mag Ruinen - die haben immer etwas Mysteriöses an sich. Monumente, die Geschichten erzählen, aus vergangenen und in Vergessenheit geratenen Zeiten.
Eine Wegmarkierung weist zu einer Anhöhe: ›Ruinen des Kastells von Zalatambor‹. Hört sich an wie der Name eines Magiers, der oben auf einem Turm wohnte – der Blitze vom Himmel beschworen, Zaubertränke gemischt oder mit magischen Tänzen Untote herbeigerufen hat.
Nach dem alten Palast der Könige von Navarra, in der Nähe des Stadtzentrums, sind fast alle Spanier ganz in weiß gekleidet mit rotem Halstuch, oder einer weißen Hose mit einem roten Jackett oder einem rotem T-Shirt. Rot-weiße Tracht ... in Estella, vermute ich, muss heute irgendein besonderer Tag sein.
In dem Moment, als ich durch das Tor der Klosterherberge trete, sagt der Hospitalero, bevor ich die Frage nach einer Übernachtung stelle: »We are full!« Alle Betten sind belegt, obwohl es erst 14 Uhr nachmittags ist. Er verweist auf eine Jugendherberge - dort fände ich als Pilger auch Platz, ich müsste einfach dem Jakobsweg weiter folgen.
Diese befindet sich am Ende des Ortes. Am Empfang erkundige ich mich, ob in der Stadt ein besonderes Fest stattfinden würde. Die Dame meint, während sie meinen Pilgerausweis stempelt und mir ein Bett reserviert, davon hätte sie keine Ahnung - schon möglich, in der Stadt würde jeden Tag irgendetwas gefeiert. Sie händigt mir einige Zettel aus, auf denen Veranstaltungstermine und Zeiten aufgeführt sind. Einiges würde heute im Stadtzentrum stattfinden, unter anderem ein Feuerwerk. Das würde ich mir gerne anschauen.
Erst eine Dusche, die unangenehm ist, da es nur Heißwasser zur Auswahl gibt. Und zwar kochend heiß. Um sich nicht zu verbrühen, benötigt man eine Wasserflasche mit kaltem Wasser - für die Duschkabine, zum Mischen.
In der Zwischenzeit sind dunkle Wolken aufgezogen, ein Gewitter folgt und starke Regenschauer ergießen sich über das Land. Die Zeit des Regens vertreibe ich mir im Aufenthaltsraum. Irgendwann höre ich hysterische Schreie. Eine Weile herrscht Totenstille, später ertönen wieder markerschütternde Schreie. Die Herberge dient gleichzeitig als Psychiatrie.
Erst bei Einbruch der Dunkelheit lässt der Regen etwas nach. Ist noch Zeit genug, um zum Fest zu gehen? Viele Herbergen schließen um 22 Uhr ihre Pforten. Bei der Empfangsdame erkundige ich mich, wie lange abends geöffnet ist - erleichtert vernehme ich die Antwort, durchgehend bleibt der Eingang auch nachts unverschlossen, man könne jederzeit nachts wieder hineingelangen.
Die Jugendherberge liegt etwas abseits. Aber der Weg ins Zentrum, in dem das Fest stattfindet, ist leicht zu finden. Ich folge einfach den in weiß und rot gekleideten Spaniern. Auf dem ersten großen Platz findet eine Art Jahrmarkt statt - zahlreiche Fahrgeschäfte, Karussells, Schießbuden und Zuckerbäckereien sind dort aneinandergereiht – nicht das kulturelle Ereignis, was ich mir anschauen wollte. In der Altstadt sehe ich mich weiter um, Cafés und Restaurants befinden sich in den Gassen, ich erreiche die Plaza de los fueros - den Platz der Rechte. Außergewöhnlich hohe Preise schrecken mich ab, als ich die Speisekarten überfliege. Essen und Getränke sind teuer - für spanische Verhältnisse. Was ich in Pamplona schon gesehen habe, finde ich auch hier an einigen Häusern: Fahnen mit Slogans ›Indepentia Euskadi‹ - Unabhängigkeit für das Baskenland.
Nach einem Rundgang gelange ich wieder zurück zum zentralen Platz vor der Kirche, als sich der Stundenzeiger der Uhr auf 22 Uhr zubewegt. Eine Liveband spielt. Die in Spanien typische traditionelle Musik bei den Fiestas ist etwas gewöhnungsbedürftig, Melodien sind nur mit viel Phantasie zu erkennen. Es ist vor allem sehr, sehr laut, das scheint das Wichtigste zu sein. Die Band besteht aus vielen Musikern mit Trommeln und einem, der Trompete bläst.
Kurz nachdem die Kirchenglocke zur vollen Stunde geläutet hat, 22 Uhr, findet ein Stierrennen statt. Es beginnt mit einer lauten Explosion, jemand rennt mit einem brennenden Stier los, einige Kinder eilen in seine Richtung und laufen vor dem feuerspeienden Gefährt her. Kein echter Stier, der Toro de fuego ist ein Feuerwerk auf Rädern, eine Variante des populären Stierrennens - diese ist ungefährlicher und auch für Kinder geeignet, dennoch spektakulär.
Es ist fast Mitternacht, als ich zurück zur Unterkunft gelange, die wie versprochen noch geöffnet ist. Auf dem Gang in der Herberge begegne ich vielen Jugendlichen, die sich im Halloween-Stil verkleidet haben. Hexen, Gespenster, Skelette laufen an mir vorbei und machen sich auf den Weg zum Fest. Ich begebe mich in umgekehrter Richtung zum Schlafsaal, in dem schon lautes Schnarchen zu vernehmen ist. Wie häufig unter den Pilgern bin ich der Letzte, der sich zur Nachtruhe begibt.