Читать книгу Eine Pilgerreise zum Ende der Welt - Michael Sohmen - Страница 11

Die härteste Pilgerin des Jakobsweges

Оглавление

7. August, Torres del Rio → Navarrete

Ein letzter Blick zurück auf Torres del Rio. Die Morgendämmerung zaubert mit einem Farbenspiel am Horizont und dem Schatten der Häuser eine malerische Kulisse. Dem Weg weiter folgend, erreiche ich den nächsten Ort, Viana. Eine kleine Stadt mit vielen sakralen Gebäuden, am Ortsende findet man das Interessanteste, die Ruine einer gotischen Kirche. Danach schreitet man durch das Stadttor - eine Sandsteintafel erzählt etwas über die Geschichte der Stadtgründung.

Der Stadtkern der mittelalterlichen Ortschaft Viana wird von einem Kloster, mehreren Kirchen und einer Kirchenruine aus dem 13. Jahrhundert geprägt. Gegründet hat die Stadt Sancho VII ›der Starke‹, König von Navarra, im Jahr 1219. Seinen Beinamen hatte er wegen seiner gewaltigen Statur erhalten - ein Riese mit einer Körpergröße zwischen 2,20 und 2,30 Metern.

Nach der Überquerung der Grenze zwischen Frankreich und Spanien über den Pyrenäenpass habe ich die spanische Autonomieregion Navarra durchschritten. Nun liegt die nächste Region vor mir, deren Name durch ihren Wein weltbekannt ist. Seit dem Jahr 1833 erst existiert diese als selbständige Provinz, erhielt damals den Namen ihrer größten Stadt, Logroño. Im Jahr 1980 wurde die Provinz umbenannt - in La Rioja. Ihre Hauptstadt Logroño ist auch die erste Stadt, die man nach Verlassen der Provinz Navarra erreicht, dem Jakobsweg westwärts folgend. Und die einzige Großstadt.

Eine Brücke über den Rio Ebro soll es in Logroño schon im 11. Jahrhundert gegeben haben - weitere Theorien besagen, im 12. Jahrhundert wäre eine Brücke von dem Heiligen San Juan de Ortega errichtet worden. Aus dieser Zeit ist heute nichts davon erhalten, bis auf Theorien und Legenden.

Nach Überquerung der Nachfolgebrücke aus dem 19. Jahrhundert finde ich keine Wegmarkierung mehr, weshalb ich versuche, mich mit Hilfe von GPS und Smartphone zu orientieren. Dabei komme ich an keiner Sehenswürdigkeit vorbei - die Stadt wirkt mit den Häuserschluchten eher wie eine Industriestadt.

Den ganzen Tag bin ich an keinem Brunnen vorbeigekommen, an dem ich meine Wasserflasche hätte auffüllen können. Auf die Idee, eine Neue zu kaufen bin ich nicht gekommen - ich bin Pilger und das Schicksal soll über meinen Weg entscheiden. Spätestens jetzt bräuchte ich aber dringend neues Trinkwasser, um den Weg nachmittags weiter überleben zu können. Am Ende von Logroño wandere ich durch einen Park, die Grünanlage habe ich fast schon durchquert und mich schon darauf eingestellt, wieder umkehren zu müssen. Doch im letzten Moment, kurz vor dem Ende des Parks - was erscheint vor meinen trüben Augen? Ein Wasserbrunnen!

Bei der Gelegenheit lerne ich Jenny kennen, eine Pilgerin, die mit Duke unterwegs ist und gerade in dem Park verweilt. Zuerst sprechen wir miteinander in Englisch, bis wir feststellen, dass wir beide Deutsche sind. Während wir uns unterhalten, wird um uns herum das Gras gemäht, permanenter Lärm, der die Idylle stört. Ein Gärtner fährt wiederholt mit einem Rasentraktor vorbei, ein zweiter Parkpfleger mäht die Kanten mit einem Rasentrimmer. Das Gras war vorher schon auf das Minimum gekürzt - das pausenlose Mähen ändert nichts daran. Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vermutlich.

Jenny erzählt, sie befände sich ebenso auf dem Weg nach Santiago - pausiere derzeit, nachdem sie von gravierenden Knieproblemen geplagt wurde und deswegen einen Arzt aufgesucht hätte. Nach der Untersuchung wurde ihr verboten, mit dem Gewicht auf dem Rücken weiterzuwandern. Einem Rucksack, der 18 Kilo wiegt und bei der zierlichen Figur wahrscheinlich ein Drittel ihres Körpergewichts ausmacht. In welchem sie auch ein Zelt verstaut hat, da man mit Haustieren nur in wenigen Herbergen übernachten kann, und Vorräte an Futter mitschleppt - für Duke, ihren Schäferhund.

Wir unterhalten uns noch eine Weile und ich erfahre von ihrer Planung, für den weiteren Weg ein Fahrrad zu besorgen. Darauf könnte sie ihren Rucksack transportieren und so den Weg fortsetzen.

Nach einer halben Stunde wird es Zeit, aufzubrechen. Jenny versucht, ein Stück mit mir zu wandern, ein Stück weiter durch den Park. Nach kurzer Zeit melden sich jedoch ihre Knieschmerzen, kurzerhand gibt sie auf und wünscht mir eine gute Reise.

Häufig hatte ich mich unterwegs gefragt, was wohl aus ihr geworden ist. Lange Zeit bleibt sie verschollen. Es war anzunehmen, dass sie die Wanderung letztendlich wegen gravierender Probleme aufgeben müsste. Zu dem Zeitpunkt ahne ich noch nicht, dass ich sie nach vielen Wochen am Ende der Welt wiedertreffen würde.

Außerhalb von Logroño geht es aufwärts, ich komme an einem Stausee vorbei, dem Wasserreservoir der Stadt, das auch der Bewässerung von Weinreben dient. Wahrscheinlich ist die Region La Rioja besonders geeignet für den Weinbau. Könnte man denken.

Bei der Landschaft, durch die ich wandere, komme ich zu jedoch zu der Vermutung, hier könnte kaum etwas gedeihen - höchstens Kakteen. Das Land ist eine Steinwüste aus roten Sandsteinfelsen und rotem Lehmboden. Für den Anbau von Wein wird ausgiebige künstliche Bewässerung benötigt, da der trockene Felsboden kaum Feuchtigkeit zu speichern vermag. Wer hier erfolgreich Landwirtschaft betreibt, beherrscht die Kunst, Wasser in Wein zu verwandeln - nicht auf wundersame Weise, sondern als Ergebnis harter Arbeit.

Längere Zeit wandere ich durch die Weinberge und später durch Eukalyptus-Plantagen, die ebenfalls mit künstlicher Bewässerung kultiviert werden. Kurz vor der nächsten Ortschaft stehen die Ruinen eines Pilgerhospitals: San Juan de Acre, aus dem 12. Jahrhundert. Einige Kilometer weiter, nachdem ich die Felder hinter mit gelassen habe, erreiche ich Navarrete. Das Tor zu Navarra dem Namen nach - historisch. Und das Ende meiner Tagesetappe.

Bei einem Bier erzählt mir der Hospitalero, er wäre Architekt und hätte die letzten Jahre eine sehr gut bezahlte Beschäftigung gehabt, bis die Immobilienblase geplatzt wäre und er in der Krisenzeit seinen Job verloren hätte - seitdem kümmere er sich um die Pilgerherberge. Mieten wären hier sehr hoch, deswegen sei er wieder bei seinen Eltern eingezogen.

Wo man am besten essen gehen könnte, erkundige ich mich bei ihm. Der Hospitalero empfiehlt mir ein Restaurant mit Spezialitäten der typisch regionalen Küche.

Den Nachmittag in der Sonne wandere ich durch Navarrette und betrete die Kirche Mariä Himmelfahrt. In dieser ist ein Münzautomat zu finden, Einwurf 1 Euro, um die Beleuchtung anzuschalten. So viel Wert lege ich darauf nicht - das Gebäude ist von außen sicherlich interessanter.

Der Ort ist nicht besonders groß, das Restaurant mit Spezialitäten von Navarra liegt auch gleich in der Nähe. Früh abends ist es noch leicht, einen freien Tisch zu bekommen.

Die Speisekarte wird mir in Spanisch und Englisch ausgehändigt - mit Hilfe eines Wörterbuches versuche ich, herauszufinden, wobei es sich jeweils handelt. Bei den meisten Gerichten scheitere ich, eine Übersetzung zu finden, der Kellner wartet währenddessen ungeduldig - ich muss eine Auswahl treffen.

Eine der Speisen hört sich vielversprechend an: »Morros de Ternera en Salsa« - in englischer Übersetzung »Muzzles in Sauce«. Ich mag Meeresfrüchte und bestelle dieses Gericht. Der Kellner versucht in Spanisch, etwas zu erläutern - leider verstehe ich davon so gut wie gar nichts, nur insoweit, dass er etwas Anderes empfiehlt, gebratenes Steak.

Ich habe mich aber schon entschieden. Miesmuscheln in Soße, das ist eines meiner Lieblingsgerichte und ich kann es kaum noch erwarten. Mir knurrt der Magen, da ich kein Frühstück zu mir genommen habe, mittags nur ein paar Pfirsiche, und jetzt freue mich schon auf die Muscheln. Wahrscheinlich speziell zubereitet nach der Art Navarras.

Nach einiger Zeit erscheint der Kellner und stellt wortlos einen Teller vor mir ab, auf dem sich ein unerkennbares fettiges ETWAS befindet, das noch eine Weile vor sich hin schwabbelt, klebrig aussieht und mit Blutergüssen überzogen ist – die Bedienung hat es eilig, wieder zu verschwinden.

Was ist das? Pansen, Magenschleimhäute, denke ich im ersten Moment. Das hatte ich noch nie gemocht. Manche Franzosen essen so etwas gern. Aber selbst für Pansen sieht das zu eklig aus. Ich versuche, zu erkennen, was diese gallertartige Masse darstellen soll. Ich komme zu dem Schluss, in der Küche haben sich die Angestellten einen Scherz erlaubt, halb verweste Fleischreste zusammengeklaubt und für jemanden, der keine Ahnung hat, die Küchenabfälle serviert.

Wahrscheinlich schütteln sie sich gerade in der Küche vor Lachen bei der Vorstellung über den Deutschen, dem das Absonderliche von seinem Teller genauso fassungslos entgegenstarrt, wie er diesem entgegenblickt. Ich beherrsche aber zu wenig die spanische Sprache, um jetzt eine Beschwerde vorzubringen. Also probiere ich etwas von dieser glibberigen, undefinierbaren Substanz. Nach Paprika schmeckt es und ist leicht scharf gewürzt. Aufgrund meines hohen Kalorienbedarfes denke ich: egal was es ist, tierisches Fett kann nicht schaden. Trotz allem ist das Ganze nicht völlig ungenießbar, nur vor allem klebrig, so dass ich den Mund kaum noch öffnen kann.

Später erfahre ich, worum es sich bei dem Essen gehandelt hat: Ochsenmaul. Eine Spezialität in Navarra.

Eine Pilgerreise zum Ende der Welt

Подняться наверх