Читать книгу Eine Pilgerreise zum Ende der Welt - Michael Sohmen - Страница 3
Gestrandet
Оглавление1. August, St.-Jean-Pied-de-Port
Irgendwo an einer Busstation 5 Uhr morgens in Frankreich oder in Spanien. Genaugenommen habe ich keine Ahnung, wo ich gerade gelandet bin.
Der Bus hatte gehalten, der Fahrer sagte etwas durch, ich habe jedoch kein Wort davon verstanden. Um diese Zeit sollte der Fernbus in der baskischen Stadt San Sebastian ankommen. Also habe ich mir meinen Rucksack gegriffen und bin ausgestiegen.
Allen Freunden und Verwandten hatte ich erzählt, dass ich den Jakobsweg gehen werde, Spannendes werde ich berichten. Damit entwickelte sich ein ›Point of no return‹. Ein Rückzieher im letzten Moment, das wäre eine Blamage. Also habe ich mich in den Fernbus gesetzt, um ohne Übernachtung zum Anfang des Camino Francés zu gelangen.
Mit der technischen Unterstützung, meinem neuen Smartphone und GPS, so die Planung, werde ich den Weg zum Strand finden. Dort warten, bis die Sonne aufgeht und schauen, wie ich weiterkomme. Einzelne Personen sind zu dieser Nachtstunde mit ihrem Hund unterwegs – und eine Gruppe von Halbstarken, die mich in verschiedenen Sprachen begrüßt, mir aber etwas unheimlich erscheint. Südländische Städte haben den Ruf, nachts ein gefährliches Pflaster zu sein. Ich grüße kurz zurück und setze den Weg mit einem schnelleren Schritt durch die Nacht fort.
Die Orientierung mit der technischen Lösung gelingt nicht, daher versuche ich es mit einer anderen Strategie. In zunehmend weiten Kreisen laufen, bis etwas nach Strand aussieht – oder bis ich einen Fluss erreiche, dem ich bis zum Meer folgen kann. Dies funktioniert. Dem Fluss folge ich stromabwärts bis zu einem Sandstrand. Dort lädt mich, passend für ein Frühstück, eine gemütliche Sitzbank ein. Einige Brötchen besitze ich noch, Nektarinen, reichlich Vorrat an Mineralwasser und genieße die Morgendämmerung am Strand. Als geübter Langschläfer sehe ich nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder Frühsportler – eine Spezies, die beim ersten Sonnenstrahl schon auf den Beinen ist.
Von San Sebastian - inzwischen bin ich sicher, dass ich mich wie geplant dort befinde - gibt es die Möglichkeit, mit dem Zug zum Startpunkt des Camino Francés zu fahren. Jedenfalls hatte ich eine Landkarte im Internet gesehen, auf der eine Bahnstrecke nach St.-Jean-Pied-de-Port eingezeichnet ist. Beim Fluss entdecke ich Wegweiser zum Bahnhof, mit deren Hilfe ich die Station ›Euskatren‹ finde. Das ist die baskische Bahn. Am Schalter erfahre ich, ein Zug würde nach Irun fahren, dort müsse ich umsteigen und würde mit der französischen Bahn weiterkommen, bis nach St. Jean.
In der Grenzstadt Irun, kurz hinter der Bahnstation, nehmen Polizisten eine Grenzkontrolle vor. Zwischen Spanien und Frankreich – was ungewöhnlich für EU-Staaten ist. Wo Basken leben, gelten wohl spezielle Sicherheitsregeln.
Vor dem Bahnhofsgebäude sitzen oder liegen einige erschöpfte jüngere Leute. An Rucksäcke gelehnt, einige davon laut schnarchend. Jakobspilger! Also bin ich auf dem richtigen Weg. Eineinhalb Stunden verbleiben bis zur Weiterfahrt, die Zeit ist in der Gesellschaft von Backpackern jedoch recht kurzweilig. Die Polizisten erscheinen wieder, auf einer Patrouille durch das Bahnhofsgebäude kontrollieren sie die Ausweise von zwei Leuten etwas länger – es scheinen Südamerikaner zu sein, ich hatte sie schon während der Busfahrt gesehen. Es stellt sich vermutlich heraus, dass sie keine gültigen Papiere haben. Sie werden abgeführt.
Als ich einen Schluck zu mir genommen habe und meine Wasserflasche wieder im Rucksack verstauen will, platzt dessen Reißverschluss. Die Katastrophe schlechthin, wenn mein Rucksack schon vor Beginn der Wanderung den Geist aufgibt. Oje. Und das, nachdem er schon sieben Jahre lang den fast täglichen Gebrauch durchgehalten hat. Es gelingt mir aber, den Reißverschluss wieder zusammen zu pfriemeln. Kein Drama, alles wieder gut, die Tour ist soweit gerettet – vorerst. Bald fährt auch die Bahn. Mit den anderen Backpackern befinde ich mich im Zug. Zum Startpunkt des Camino Francés.
Von Irun aus, der letzten spanischen Stadt an der Grenze zu Frankreich, startet eine andere Variante des Jakobswegs. Der Camino del Norte führt am Meer entlang, an der Küste des Atlantischen Ozeans. Und ist eine eigenständige Route nach Santiago de Compostela, die sich erst kurz vor dem Ziel mit diesem Weg vereint. Es gibt von dort auch eine Abzweigung auf den Camino Primitivo, den ursprünglichen und ältesten Jakobsweg.
In Irun beginnt die Fahrt mit der französischen Bahn zum Fuß der Pyrenäen, führt parallel an einem Gebirgsfluss entlang, teils durch Schluchten mit rauschenden Wildwassern, vorbei an Berghängen, durch dichte Vegetation. Häufig streift das von den Felsen herabhängende Gebüsch die Fenster des Zuges – eine Fahrt durch die Wildnis. Während der komfortablen Reise mit der Bahn genieße ich die Landschaft, sehe unten am Fluss Kanus und Schlauchboote – Paddler, die auf einer Tour durch das Wildwasser in der umgekehrten Richtung unterwegs sind oder gerade am Ufer rasten. Ein landschaftliches Paradies. Durch die Schluchten der Pyrenäen aufwärts zu wandern, das würde ich auch gerne unternehmen.
Kurz vor dem Ziel erscheint eine Brücke, die den Namen ›Pont d'enfer‹ trägt. Von der Legende einer Brücke, die der Teufel erbaut haben soll, hatte ich zuvor gehört. Ihm wurde die Seele von demjenigen versprochen, der zuerst über die Brücke gehen würde, jedoch schickte man stattdessen als erstes einen Ziegenbock voraus. Das ist jedoch eine andere Legende – bei dieser Brücke nahe der kleinen Ortschaft Bidarray soll sich der Teufel in die Tiefe gestürzt haben. Aus Verzweiflung, da er nicht in der Lage war, die baskische Sprache zu verstehen. Kein Wunder, Baskisch ist eine völlig eigenständige und komplizierte Sprache.
Es gibt weder eine Verwandtschaft mit sonstigen Sprachen auf der iberischen Halbinsel noch mit einer anderen in Europa. Man könnte zu dem Schluss kommen, dass die Basken recht isoliert von anderen Stämmen gelebt haben. Anders als viele Stämme sind sie während der prägenden Zeit der Völkerwanderung bei ihrem angestammten Gebiet geblieben und haben keine Elemente der romanischen Sprachen übernommen.
Der Zug erreicht St.-Jean-Pied-de-Port. Ich bin am Ziel meiner Reise. Oder vielmehr, am Anfang.
Die Festung am Ausgangspunkt des Camino Francés ist eine mittelalterliche Verteidigungsanlage, die sich an einem strategisch wichtigen Punkt vor dem Pyrenäenpass befindet. Lange Zeit diente sie zur Sicherung der Grenze des Königreiches Navarra. Der französische Name der Stadt bedeutet ›Fuß des Passes über die Pyrenäen‹, ›St. Jean‹ ist Johannes der Täufer. Im zwölften Jahrhundert wurde diese Festung errichtet, kurz nachdem eine frühere Siedlung namens St.-Jean-le-Vieux, die sich ganz in der Nähe befand, durch König Richard ›Löwenherz‹ von England vollständig ausgelöscht wurde – bis dahin bestand diese Siedlung seit römischer Zeit. Und vor ihrer Zerstörung existierte dort das größte Hospital des Jakobsweges.
Hier, am Fuße des Pyrenäenpasses, bekommt man alles, was ein Pilger braucht: Jakobsmuscheln, Pilgerstöcke, Strohhüte, Anhänger für die Halskette ... vieles davon ist verziert mit der baskischen Rose. Diese sieht einem Symbol in der deutschen Geschichte nicht unähnlich. Den Vergleich will ich lieber nicht weiter ausführen, jedoch ist eine gewisse optische Ähnlichkeit vorhanden.
Zunächst besorge ich mir im Pilgerbüro den Pilgerpass – für die Stempel, die ich auf dem Weg sammeln werde und reserviere mir einen Platz in der Herberge. Diese wurde augenscheinlich komplett neu renoviert, jedenfalls ist sie sehr sauber und äußerst gemütlich. Der Eindruck wird sich auch bei den späteren Unterkünften wiederholen. Nach dem großen Ansturm von Pilgern im Jakobusjahr 2010 scheint einiges in die Infrastruktur der Herbergen investiert worden zu sein.
Etwas fremd fühle ich mich in dieser neuen Umgebung. Den Nachmittag habe ich viel Zeit, die Stadt und die historische Festungsanlage mit der Zitadelle im Zentrum zu erkunden. Ich begebe mich auf die Burganlage, um etwas zu Picknicken, sitzend auf einer Bank genieße ich die Aussicht auf die grüne Pyrenäen-Landschaft. Eine Idylle, die eine unheimlich entspannende Wirkung hat.
Beim Lesen meiner Emails bekomme ich einen Schreck – zwei neue, sehr wichtige Nachrichten, Kunden beschweren sich wegen Programmierfehlern in meiner Software. Und die sollte ich möglichst kurzfristig beheben. Schlimmer hätte es nicht kommen können – zu einem Zeitpunkt, an dem ich die Wanderung noch nicht einmal begonnen habe. Ich hatte mir ein Smartphone angeschafft, um notfalls damit arbeiten zu können, unterwegs. So umständlich das Programmieren über das kleine Touchdisplay so eines Gerätes auch ist – mit einem Laptop hätte ich kaum auf eine mehrwöchige Wanderung gehen können.
Vor der Tour hatte ich einkalkulieren müssen, dass ein ernsthaftes Problem auftauchen könnte, das sich auf diese Weise nicht lösen lässt. Ich müsste die Tour abbrechen und zurückfahren, um das Problem von zuhause zu beheben. Um flexibel zu bleiben, hatte ich auch noch keine Rückreise gebucht – hier und jetzt, bevor ich überhaupt auf den Weg gestartet bin, abbrechen zu müssen, der Gedanke gefällt mir ganz und gar nicht.
Das Vornehmen von Korrekturen mittels Smartphone und das Übertragen von geänderten Dateien hatte sich zuerst schwierig gestaltet, aber vielleicht hat es funktioniert. Telefonat mit einem Kunden, Mitteilung per Email mit dem Anderen – alles scheint in Ordnung zu sein. Die Katastrophe ist abgewendet.