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Der lange Marsch

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3. August, Roncesvalles → Pamplona

Frühstück ist in der Klosterherberge auf Selbstbedienungsbasis. Die Auswahl wird durch den Münzautomaten bestimmt. Ein eingeschweißter Croissant und ein Kaffee genügen fürs Erste.

Im Klosterkeller sammle ich meine Klamotten, die ich abends noch gewaschen hatte, vom Wäscheständer. Alle Kleidungsstücke sind komplett nass geblieben, einfachheitshalber verstaue ich alles in einer Plastiktüte. Da ein unangenehmer kalter Nieselregen niedergeht, ziehe ich vor dem Verlassen der Unterkunft einen Plastikponcho über. Diese sehr gewichtssparende Version von einem Regenschutz mitzunehmen, fand ich besonders geschickt - es handelt sich dabei im Prinzip um einen Müllbeutel, in den zwei Löcher für die Arme und ein Überzug für den Kopf integriert sind. Das wiegt nur ein paar Gramm. Bei dem Versuch, den Poncho über den Rucksack zu ziehen, habe ich erst etwas Schwierigkeiten, ein Hospitalero bietet mir seine Hilfe an. Hospitaleros sind Freiwillige, die sich um die Herbergen kümmern und Pilger versorgen.

Am Ortsende nennt ein Schild die Entfernung zum Ziel – 790 Kilometer bis Santiago de Compostela. Da habe ich mir Einiges vorgenommen. Nach meiner Schätzung werde ich insgesamt 5 Wochen zu Fuß unterwegs sein auf dieser Wanderung. Falls ich nicht vorher aufgebe.

Der Regen lässt glücklicherweise nach, über drei leichtere Pässe führt der Wanderweg entspannt voran. Ab und zu passiere ich Verkehrsschilder, die fast ausnahmslos alle bemalt und kreativ umgestaltet sind, immer sehr witzig. Es scheint in der Gegend wohl Volkssport zu sein. Oder es sind künstlerisch veranlagte Pilger vorbeigekommen.

Zur Mittagszeit endet der Pfad an einer alten Brücke und ich gelange in die Siedlung Zubiri. Baguette und Chorizo, eine spanische Salamispezialität, besorge ich mir in einem Supermarkt und geselle mich am Flussbett unterhalb der Brücke zu einigen anderen Pilgern für ein Picknick.

Zubiri ist baskisch und bedeutet Dorf an der Brücke. Die Legende der Brücke erzählt von einem Ereignis, das sich beim Bau des mittleren Pfeilers zugetragen haben soll. Nach unvorhergesehenen Schwierigkeiten, die sich bei dessen Errichtung ergeben hatten, wurde tiefer in den Fels gegraben, dort wurde der Leichnam einer Jungfrau gefunden. Einer Schutzheiligen gegen Krankheiten, die vor allem gegen Tollwut helfen soll. Nach dem Fund wurde ihr Körper wieder an der gleichen Stelle beigesetzt - seither soll der Legende nach jeder, der die Brücke überquert, ob Mensch, ob Tier, von Krankheiten erlöst werden.

Weil der Tag noch recht jung ist, beende ich die Etappe nicht in Zubiri und wandere nun über einen von Felsstaub bedeckten Boden - durch das Areal von Magna, einer gigantischen Zementfabrik.

Im nächsten Dorf komme ich zuerst an einem Cola-Automaten vorbei, danach an einem Brunnen. Ein großes Hinweisschild wurde seitlich angebracht, auf dem darauf hingewiesen wird, dass das Wasser nicht chloriert und aus dem Grund nicht als Trinkwasser geeignet ist. In acht Sprachen. Was mich nicht irritiert - hier fülle ich meine Wasserflaschen auf, kostenlos. Ein Polizeiwagen fährt in dem Moment langsam an mir vorbei, hält neben mir an und der Polizist, der am Steuer sitzt, macht mich darauf aufmerksam, dass man dieses Wasser nicht trinken dürfte, da es nicht chloriert und unhygienisch wäre. Es hatte nur gefehlt, dass er auf den Cola-Automaten hinweist, der nur 10 Meter von hier entfernt ist.

Etwas später überholen mich zwei Holländer, begrüßen mich und erzählen, in dem Ort, an dem der Weg gerade vorbeiführt, gäbe es eine Herberge - dort könnte man übernachten. Oder weiter bis nach Pamplona, das wäre jedoch eine Tagesetappe von insgesamt 42 km. Marathonentfernung - von Roncesvalles aus gerechnet. Das hört sich nach einer Herausforderung an, mich packt der Ehrgeiz. Also folge ich dem Weg weiter, durch malerische Dörfer, fühle mich etwas in das Allgäu und in die Voralpen versetzt. Das Baskenland ist eine der wohlhabendsten Regionen Spaniens, die Ortschaften sind attraktiv und gepflegt, umgeben von einer intensiv grünen Landschaft. Häufig führt der Weg durch dichten Urwald. Den hätte ich in Spanien niemals erwartet.

Am Ende des Waldes folgen Felder, bald eine Brücke, kurz darauf eine Entfernungsangabe: 8 Kilometer bis Pamplona. Erleichtert denke ich, fast habe ich es geschafft - bin ich auch - und kann mich bald ausruhen. Die Sonne des Nachmittags brennt unerbittlich vom Himmel, kein Schatten in Sicht, der etwas Abkühlung spenden würde. Nach einer halben Stunde passiere ich eine Festungsruine, kurz darauf sehe ich einen Wegweiser mit einer Entfernungsangabe. Der besagt, es wären noch 10 Kilometer bis Pamplona. Ich frage ich mich selbst laut: Welchen Weg habe ich denn noch vor mir? Und wann werde ich, wenn überhaupt, heute noch ankommen?

Über einen Bergpass weiter, an abgeernteten Feldern entlang, parallel zur Schnellstraße. Stunden später durchquere ich eine heruntergekommen wirkende Vorstadt, überall sind Graffiti zu sehen, häufig mit dem Schriftzug, der darauf hinweist, dass man sich im Baskenland befindet:

»Pilgrim, you are in Euskerian Country!«

Auf dem Weg durch eine Betonsiedlung taucht eine Gruppe von Kindern auf, die mir entgegenlaufen. Hier bin ich lieber vorsichtig – diese Siedlung vermittelt nicht gerade den Eindruck von Sicherheit. Etwas überrascht bin ich, als die Kinder mich mit Handschlag begrüßen wollen. Einem Pilger die Hand zu schütteln, oder ihn zu berühren, soll Glück bringen. Eigentlich war ich bisher nur auf der Wanderung. Nun bin ich ein echter Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela! Ein erhebendes Gefühl.

Pamplona! Die Hauptstadt der baskischen Region Navarra ist rundum mit Festungsmauern umgeben - man durchquert erst ein unteres Festungstor, dann ein oberes Stadttor und gelangt in die Innenstadt. Hier wird man auf die politischen Aktivitäten aufmerksam gemacht, fast an jedem Haus der Altstadt wehen Banner, die ein autonomes Baskenland - Euskadi auf baskisch – fordern. Viele Bürger scheinen die Unabhängigkeit Navarras anzustreben.

Von Pompeius gegründet ist Pamplona - Iruña in der baskischen Sprache - vor allem berühmt wegen der Stierläufe, die eine Woche lang vom 7. - 14. Juli stattfinden. Besucher kommen von weit her zu diesem Fest, das ursprünglich Firminus dem Märtyrer gewidmet wurde. Stiere werden durch das Zentrum bis zur Arena getrieben. Vorneweg rennen besonders Mutige, oder Leichtsinnige, zumeist Jugendliche. Einige werden von Stieren erwischt, ihren Hörnern durchbohrt oder niedergetrampelt.

Informationen zu Übernachtungsmöglichkeiten erhalte ich bei einer Touristeninformation. Die erste Möglichkeit ist die zentrale Herberge Jesús y Maria, dort hängt ein Schild am Eingang und verkündet: komplett ausgebucht. Es gibt nur noch eine zweite Herberge, die Casa Paderborn, die jedoch viel zu weit außerhalb liegt - jetzt noch weiter wandern, das machen meine Füße nicht mehr mit. Es ist halb sieben Uhr abends - in einer zentral gelegenen und belebten Straße der Fußgängerzone soll es noch Hotels geben. Einem Hinweisschild entnehme ich, man solle an einer Bar fragen - ein dort beschäftigter Kellner informiert mich: wenn ich mich noch eine halbe Stunde in Geduld üben könnte, würde ich ein Einzelzimmer bekommen.

Das Zimmer, das ich beziehe, ist zwar halbwegs gemütlich, aber ohne Fenster und zu warm. Mit einem Deckenventilator, der nur wenig Abkühlung verschafft. Trotz allem eine Wohltat - endlich kann ich mich ausruhen und die Füße hochlegen. Die noch immer nassen Klamotten verteile ich im Badezimmer zum Trocknen und entspanne mich danach mit einer Flasche Wein. Überflüssiges Gewicht reduzieren, den Wein hatte ich noch vor der Tour besorgt und will ihn nicht weiter im Rucksack schleppen. Später und nachts, noch eine letzte Zigarette vor dem Schlafengehen. Schwierigkeiten stellen sich bei dem Versuch ein, aus der Tür des Hotels herauszukommen, so überfüllt ist die Gasse mit Menschen. Es ist Freitag.

Mir wird erzählt, per Gesetz ist es in Pamplona zum Ende der Woche offiziell erlaubt, auf der Straße zu feiern und sich zu besaufen - daher sitzen sie überall auf der Straße mit einem Bier oder stärkeren Getränken. Und palavern. Das ist die Lieblingsbeschäftigung der Spanier.

Im Einzelzimmer werde ich nicht von Frühaufstehern geweckt und kann bis 9 Uhr ausschlafen. Ungünstigerweise ist die Wäsche bei dem schwülen Wetter noch nicht getrocknet und findet erneut einen Platz in der Plastiktüte.

Nach der harten Etappe des Vortages will ich mir nicht so viel vornehmen, eine Weile gemütlich durch Pamplona spazieren - eine Stadtbesichtigung ohne Rucksack. Anzuschauen gibt es Einiges.

Wegen der strategisch wichtigen Lage war die Stadt häufig umkämpft - im Laufe der Geschichte wurde Pamplona mehrmals zerstört. Die ältesten Teile der Befestigung stammen aus dem 16. Jahrhundert, der Zeit, als Navarra noch ein Königreich war. In dem ältesten Stadtteil kann man an den Mauern entlang durch die mittelalterliche Festungsanlage wandern und etwas über ihre Entstehung lesen - geschichtliche Informationen sind dort vielerorts auf Tafeln angebracht. Auf spanisch, baskisch, englisch und französisch. Am Rande der Festung befindet sich auch die Stierkampfarena, umgeben von einem Park.

Bei meinem Spaziergang durch das Stadtzentrum werfe ich einen Blick in die Kathedrale, in der gerade ein Gottesdienst stattfindet. Drei Priester halten eine Messe - für insgesamt drei Besucher.

Zwei Stunden und einige Fotos später begebe ich mich vorbei an einigen Kirchen, dem Parlament, dem Rathaus, über den Plaza del Castillo zurück, hole meinen Rucksack und folge wieder den Zeichen des Jakobsweges. Auf zur nächsten Etappe.

Eine Pilgerreise zum Ende der Welt

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