Читать книгу Der Waisenjunge und der Kardinal - Michael Stolle - Страница 10

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Die Jagd beginnt

Louis Philippe de Beauvoir saß in seiner Kutsche auf dem Rückweg zum Palais de Beauvoir und schwitzte heftig. Sein kostbarer Spitzenkragen war inzwischen völlig durchnässt. Er benutzte ein Seidentuch, um sein Gesicht abzutupfen, aber unaufhörlich rann neuer Schweiß auf den Spitzenkragen, in den Nacken und weiter seinen Rücken hinunter, wo er hässliche dunkle Flecken auf seinem Wams und auf dem grüngolden gemusterten Samtpolster hinterließ.

Louis Philippe wünschte nicht zum ersten Male, dass er weit weg wäre.

Es war nicht nur die Hitze eines heißen Tages in Paris im späten Frühling, die das Innere seiner Kutsche in eine Art von türkischem Bad verwandelte; Louis Philippe war ein verzweifelter Mann.

Er wusste, dass sein Sohn nicht nachgeben würde, bis er das Geld für den gierigen Kardinal aufgetrieben hätte. Getrieben von der Angst vor seinem Sohn, hatte Louis Philippe beschlossen, seinen italienischen Bankiers sofort einen Besuch abzustatten. Die Bank war eine ehrwürdige Institution, seit Generationen schon mit den Finanzen der Familie Beauvoir befasst.

Man hatte ihn dort mit allem Respekt und den Ehren begrüßt, die einem Mitglied eines der führenden französischen Adelshäuser gebührten, aber sobald Louis Philippe begonnen hatte, sein Anliegen zu erläutern – in sehr diplomatischen Worten, wie er meinte -, hatte der elegante italienische Bankier, der in einem nach der neuesten Mode eingerichteten Salon saß, sich zurückgelehnt und war stumm wie eine Auster geworden.

Nach einer langen, peinlichen Pause hatte er geantwortet, seine Worte sorgfältig abwägend:

»Natürlich würde ich es über alles schätzen, der Familie de Beauvoir dienen zu dürfen, so wie wir es seit Generationen getan haben. Wir werden uns voll in den Dienst des zukünftigen Marquis stellen. Es wird uns eine wahre Freude sein, mehr noch, es ist uns eine Ehre.«, sagte der elegante Bankier. Er sprach mit einem übertriebenen italienischen Akzent, obwohl er in Paris aufgewachsen war und wahrscheinlich besser Französisch sprach, als es die meisten Pariser je vermochten.

»Aber die Zeiten sind im Moment äußerst schwierig. Der Kardinal Richelieu, Gott segne ihn natürlich, hat in letzter Zeit so viele Steuern auf unseren Handel mit Italien erhoben, dass unsere bescheidene Bank im Moment keine 50.000 Livres aufbringen könnte, es sei denn, der gesetzliche Erbe könnte entsprechende Hypotheken unterzeichnen. Ohne diese Hypotheken könnten wir nicht einmal einen Bruchteil davon anbieten, fürchte ich.«

Der Bankier hatte es fertig gebracht, dabei gepeinigt auszusehen, so als würde ihn die Ablehnung persönlich schmerzen, aber Louis Philippe hatte die wahre Botschaft verstanden: Die Bank würde kein Ansinnen unterstützen, das die Position des gesetzlichen Erben untergraben könnte, sie fühlte sich dem Schutz des Erbes der Familie verpflichtet.

Louis Philippe hatte es geschafft, sein Gesicht zu wahren, bedauerte ebenfalls die schlechten Zeiten und wünschte, dass alles sich gebessert hätte, sobald man sich wiedersehen würde.

Endlich kam die Kutsche vor dem eleganten Stadtpalais zum Stehen und er schleppte sich in die Bibliothek. Dort erfrischte er sich erst einmal mit zwei großen Gläsern Wein.

Erst danach fühlte er sich gestärkt genug, weiter über sein Problem nachzudenken.

Diese italienischen Geldsäcke kannten sich leider untereinander zu gut und Louis Philippe machte sich keinerlei Illusionen, dass eine andere Bank seine Bitte akzeptieren würde. Es würde sich nur allzu schnell herumsprechen, dass er auf dem Trockenen saß. Er verfluchte seinen Sohn, der ihm diese Situation eingebrockt hatte. Es gab also nur noch eine Alternative: Er musste zu den Juden gehen. Geld zu verleihen galt als schmutziges Geschäft; kein französischer Bürger von gutem Ruf würde sich zu dieser Art von Geschäften herablassen – zumindest nicht offiziell.

Am nächsten Tag schickte Louis Philippe einen Lakaien zu dem jüdischen Geldverleiher, der ihm empfohlen worden war, um sein Kommen anzukündigen. Es gab zwei Arten von jüdischen Kreditgebern; aber derjenige, den er treffen würde, verlieh sein Geld ausschließlich an den Adel, Klerus und das Königshaus und galt als vertrauenswürdig – und so reich wie der sagenhafte Krösus.

Louis Philippe war vor dem täuschend schlicht aussehenden Haus angekommen und wurde von einer dunklen, ernst aussehenden jungen Dame in ein Büro geführt, das mit allerlei Pergamentrollen, Büchern und Truhen vollgestopft war. Die Wände waren in einem dunklen Rotton gestrichen, was dem Raum eine düstere Atmosphäre verlieh. Im hinteren Teil des stickigen Raumes saß ein in schwarzer Seide gekleideter, alter Mann mit dunklen Augen und einer markanten Nase.

Louis Philippe war in der Überzeugung erzogen worden, dass die Juden Teil der Kanaille waren, minderwertige Wesen aus der Unterschicht, die der Aufmerksamkeit eines Adligen nicht würdig waren – Menschen, die man benutzen und besser schnell wieder vergessen sollte. Folglich erwartete er, dass der alte Jude, der vor ihm saß, sich allein durch seine Anwesenheit geehrt fühlen musste und darauf erpicht war, mit dem Adelshaus de Beauvoir Geschäfte zu machen.

Er brachte daher seine Bitte mit seiner üblichen Arroganz vor, aber sein Gegenüber fixierte ihn kalt mit selbstbewusstem und wachem Blick. Louis Philippe hatte das ungute Gefühl, dass dieser Mann von seinem hochmütigen Auftreten nicht im Geringsten beeindruckt war.

Er ist vom gleichen Typ wie der Kardinal, schoss es Louis Philippe durch den Kopf und er wurde plötzlich nervös. »Er wird nichts tun, um irgendjemandem zu gefallen; wenn er mir Geld leiht, dann nur, um Geld zu verdienen, meine Herkunft und mein Titel sind ihm völlig egal.«

Der Jude schwieg und wartete geduldig, bis Louis Philippe die Worte ausgingen. Als er antwortete, war es mit einer angenehmen und gebildeten Stimme. Es wäre schwierig gewesen, seinen Akzent zu bestimmen, da er aus dem Deutschen Reich, Spanien, Antwerpen oder sogar Italien hätte kommen können.

»Sie sagen mir, dass unser geehrter Kardinal Ihr Vorhaben unterstützt, wenn Sie 50.000 im Voraus bezahlen?« Der alte Mann lächelte süffisant und fuhr fort. »Ja, das scheint ihm sehr ähnlich zu sehen. Er braucht immer Geld für seine verschiedenen … Wohltätigkeitsorganisationen.« Er hielt sich länger als nötig mit dem Wort ’Wohltätigkeiten’ auf und schien über diese Ironie sehr amüsiert zu sein.

»Wir können Ihnen natürlich die notwendigen Mittel zur Verfügung stellen«, fuhr er geschäftsmäßig fort, »aber es wird sich natürlich die Frage der Sicherheiten ergeben, die gewährt werden müssen, um sicherzustellen, dass die Rückzahlung auch erfolgen wird.«

Als er begann, seine Bedingungen aufzulisten, fühlte Louis Philippe das dringende Bedürfnis, seinen Gastgeber zu erwürgen. Der Jude hatte sich offenbar perfekt auf dieses Treffen vorbereitet und kannte bis ins kleinste Detail das Einkommen der Familie de Beauvoir, seine persönlichen Schulden und Hypotheken, wahrscheinlich auch seinen Lebensstil. Er erwähnte auch Henris schwindelerregende Schulden – ein Betrag, der um vieles höher war, als alles, was Henri jemals für nötig erachtet hatte, seinem Vater zu gestehen. Sein Gastgeber listete aus dem Gedächtnis die einzigen Nachlässe auf, die im vollen Besitz von Louis Philippe geblieben waren, diese wenigen kostbaren Güter, die bisher sein tägliches Einkommen sicherten und noch nicht verpfändet waren. Er beanspruchte sie alle und verlangte obendrein die persönliche Bürgschaft von Louis Philippe und seinem Sohn.

Die Zinsen betrugen 25 Prozent pro Jahr mit einer festen Gebühr von 10 Prozent. Die Stimme des Juden wurde kalt und distanziert. Das Geschäft müsste so akzeptiert werden, ansonsten könnte er ihm bedauerlicherweise nicht dienlich sein.

Louis Philippe war nie geschickt im Umgang mit Zahlen gewesen, aber selbst für seinen ungeschulten Verstand klang dies unverschämt teuer. Ihm war auch unangenehm bewusst, dass die Rollen vertauscht worden waren; der Jude hatte deutlich gemacht, dass sein Titel und seine Abstammung nichts wert waren; nur Geld regierte die Welt – er war zum Bittsteller geworden.

Louis Philippe versuchte sein Gesicht zu wahren und antwortete hochmütig, dass er den Vorschlag erst in Erwägung ziehen müsse. Eventuell würde er später wieder zurückkehren und das Gespräch fortsetzen. Den alten Mann schien diese Antwort nicht weiter zu stören und er verabschiedete sich höflich, wobei er erwähnte, dass er nächste Woche die Stadt verlassen würde, sodass die Formalitäten in der Tat schon morgen abgeschlossen werden müssten, falls es denn dringend sei.

Kaum war Louis Philippe wieder in seine Kutsche geklettert, rief der alte Jude seine Nichte ins Büro. »Genau, wie der Kardinal uns informierte, der Mann ist bankrott wie eine Kirchenmaus und braucht das Geld dringendst. Der Kardinal und ich, wir werden uns natürlich die Einnahmen teilen, der Kardinal ist immer gerecht zu uns gewesen, und wir werden ihm zahlen, was ihm zusteht.«

Seine Nichte lächelte und nickte; ja, das war ein einfaches Geschäft gewesen.

Ihr Geschäft lief bestens: Der Kardinal schickte ihnen die Leute, die er ausnehmen wollte, und die allermeisten waren so verzweifelt, dass sie leicht gerupft werden konnten. Der Kardinal wäre ein großartiger Jude geworden, dachte der alte Mann und musste über seinen eigenen Witz lachen.

***

Ein äußerst niedergeschlagener Louis Philippe kehrte zurück in seine vergoldete Kutsche. Nun saß er wieder in der stickigen Luft und schwitzte vor Hitze und Angst. Er konnte eigentlich nur verlieren. Wenn er das Geschäft nicht akzeptierte, würde er das Erbe seines Bruders verlieren und sein Sohn würde es schaffen, ihn im Nu zu ruinieren. Wenn er akzeptierte und Henri nicht schnell genug … selbst in Gedanken wollte er die Worte nicht ausformulieren … das Erbe neu ordnete, würde der Jude seine letzten verfügbaren Ländereien an sich reißen und sein Leben in Paris wäre beendet. Er müsste in Schande und in Armut irgendwo in der Provinz, weit weg von Paris leben.

Er schleppte sich in sein Arbeitszimmer und läutete nach einem Lakaien, der ihm Erfrischungen bringen sollte. Louis Philippe brauchte Wein, er fühlte sich völlig ausgetrocknet und brauchte den Rausch des Alkohols, um dieses unangenehme Erlebnis zu vergessen. Als Henri schließlich eintraf, hatte sein Vater bereits zwei Kristallkaraffen mit Wein geleert und befand sich in einem Zustand des betrunkenen Selbstmitleids.

Henri sah seinen Vater an, und sein hübsches Gesicht erstarrte zu einer Maske hasserfüllter Verachtung. Er befahl Jean, der den Raum hinter ihm betreten hatte, sofort einen Eimer mit kaltem Wasser zu bringen.

Henri ergriff den Eimer und leerte ihn in einem Zug über dem Kopf seines Vaters, ungeachtet dessen, dass er damit die teuren Brokatpolster und Seidenkissen des Sessels ruinierte.

Louis Philippe begann hysterisch zu schreien und zu jammern, aber Henri schlug ihn hart ins Gesicht. Sofort saß sein Vater wie erstarrt in betäubtem Schweigen, und als Henri sich umdrehte, um Jean zu entlassen, sah er, dass sein Kammerdiener schon die Initiative ergriffen und den Raum verlassen hatte.

Er ist ein kluger Diener, dachte Henri, hoffentlich nicht zu klug.

Er drehte sich um und musterte seinen Vater, der ihn vor Angst gelähmt ansah. Henri sah mit Verachtung, dass sein Vater sich geschminkt hatte, denn rote und schwarze Striemen liefen über seine Wangen. Er sah aus wie ein lächerlicher, abgewrackter Clown.

»Was für einen großartigen Marquis wirst du einmal abgeben!«, rief Henri verächtlich aus, aber dann erkannte er die nackte Angst in den Augen seines Vaters und entschied, dass es für heute genug sei. Er hatte seinem Vater gezeigt, wer der wahre Herr in diesem Haus war und änderte nun seine Taktik. Aber er würde seinen Vater von nun an duzen, er war es nicht wert, höflich angeredet zu werden.

»Nun sag mir in klaren Worten: Was ist geschehen, dass du in einen solchen Zustand geraten bist? Hast du das Geld nicht bekommen?«

Louis Philippe gelang es, sich zusammenzureißen und erzählte Henri von den zwei Begegnungen, die er erlebt hatte, zuerst mit ihrem italienischen Bankier und dann mit dem Juden. Henri machte ein verächtliches Gesicht, als er die Geschichte hörte, aber er schien von den Bedingungen des Juden nicht schockiert zu sein.

Er sah seinen Vater mit Verachtung an.

»Du bist nicht nur naiv, du bist geradezu dumm«, sagte er, ohne die Stimme zu erheben, er hielt seinen Vater nicht einmal mehr für wert, wütend zu werden.

»Wir sind alle doch nur Marionetten an den Fäden, die Richelieu zieht. Diese Spinne wird auf jeden Fall dabei verdienen: Wenn wir die Dokumente jetzt unterschreiben, erhält er 50.000 im Voraus, und wenn wir Erfolg haben, wird er uns um noch mehr erpressen. Ich möchte wetten, dass er auch mit dem Juden unter einer Decke steckt.«

Sein Vater schaute ihn mit wässerigen, ängstlichen Augen an – alles schien so offensichtlich und er sah keinen Ausweg. Henri lachte nur kurz und fuhr fort; der Kampf gegen den Kardinal schien ihm Freude zu bereiten.

»Aber Seine Eminenz versteht nicht, dass auch ich meine Karten ausspielen kann – und sie gut ausspielen werde. Wenn der Jude auch nur versucht, unsere Ländereien zu beschlagnahmen, wird seine schöne Nichte plötzlich verschwinden, und wenn mich gerade in Stimmung fühle, wird der Jude sogar gleich zwei von ihnen zurückbekommen: eine Nichte mit einem Kind, vielleicht sogar ein blondes Kind, aber ganz bestimmt kein jüdisches.«

Seine kalten Augen glühten nun vor Vorfreude. »Und was den Kardinal betrifft«, sagte er leise, »er ist bekanntermaßen sehr krank und ich kenne viele Leute, die nicht zögern werden, ihn so schnell wie möglich in den Himmel zu bringen, denn da gehört er schon seit Langem hin.«

Während dieser Ansprache hatte er unbewusst sein Schwert ergriffen und die Klinge liebevoll gestreichelt. »Ich bin bereit zu kämpfen«, fuhr er fort. »Unterschreib, was unterschrieben werden muss, in deinem Namen, und ich unterschreibe in meinem Namen, aber besorg uns schnell das Geld, ich bereite in der Zwischenzeit einen …« Er machte eine Pause. »Nun, nennen wir es einen netten, kleinen Jagdurlaub vor!«

Henri lachte und verließ den Raum: das beneidenswerte Bild eines stolzen und schönen Mannes. Sein Vater schloss vor Schmerz die Augen. Wenn der Teufel schön war, so konnte sein Sohn das Abbild sein.

Louis Philippe hatte die letzten Illusionen verloren und wünschte, er könnte das Rad der Zeit zurückdrehen, aber nun war er selbst zu einer Marionette an zwei Fäden geworden – hin- und hergerissen zwischen seinem skrupellosen Sohn und dem gierigen Kardinal.

***

Die folgenden Tage waren mit allen möglichen Aktivitäten ausgefüllt, er pendelte von Notariatsbüros zu seinem eigenen Palast und dem Haus des Juden hin und her. Nachdem die angeforderten Dokumente endlich unterschrieben waren, überreichte ihm der Jude einen Wechselbrief – ironischerweise ausgestellt auf die gleiche italienische Bank, die vorgegeben hatte, nicht über genügend Gelder zu verfügen. Louis Philippe beschloss, diese letzte Demütigung im Geheimen zu ertragen.

Er verabredete sich sofort mit Bruder Joseph im Palast des Kardinals, wie es Richelieu bei ihrem letzten Treffen vorgeschlagen hatte. Louis Philippe war angenehm überrascht von der Effizienz des Haushalts des Kardinals. Kein Wunder, dass er ein großartiger Verwalter des Königreichs war.

Er brauchte nicht zu warten, denn sein Besuch war bereits sorgfältig vorbereitet. Der Mönch überprüfte lediglich die Echtheit der Urkunde des Bankiers und übergab Louis Philippe im Gegenzug ein Dokument in einem Umschlag.

Louis Philippe de Beauvoir verabschiedete sich und ließ sich in seiner luxuriösen Kutsche nieder. Wegen des Staubs und Schmutzes in Paris blieben die Fenster geschlossen, aber es wurde wieder ungemütlich heiß und er sehnte sich nach frischer Luft. Wie viel Zeit hatte er in letzter Zeit damit verloren, in dieser Kutsche durch ganz Paris zu fahren.

Er lehnte sich in den Kissen der schaukelnden Kutsche zurück und öffnete vorsichtig den Umschlag. Er enthielt den vollständigen Namen seines Neffen (Pierre, natürlich, wie sein Großvater) und die Adresse einer Klosterschule in Reims. Als Louis Philippe die Dokumente sah, traute er seinen Augen nicht. Er hatte gerade den Rest seines Vermögens ausgegeben, um eine Adresse zu erwerben, die er selbst hätte erraten können. Natürlich musste es Reims sein, denn einer der guten Freunde seines Bruders war kurz vor der Geburt seines Neffen zum Erzbischof von Reims ernannt worden.

Das Blut schien ihm plötzlich in den Kopf zu schießen und das Gesicht von Louis Philippe färbte sich tiefrot. Er rang um Luft, sein Körper schrie nach Wasser. Louis Philippe wollte das Fenster öffnen, da er kaum noch atmen konnte, aber sein Körper wollte ihm nicht folgen. Bewusstlos sank er zurück in die Kissen, den Umschlag immer noch fest im Griff.

Henri hatte inzwischen die Zeit damit totgeschlagen, in der Bibliothek auf und ab zu gehen und ungeduldig auf das Geräusch eines herannahenden Wagens zu lauschen. Er trug bereits seine Reisestiefel und eine weite Hose nach der neuesten Mode, dazu nur eine leicht gesteppte Weste. Er beabsichtigte, allein zu reiten, nur in Begleitung eines Burschen, um schnell voranzukommen.

Die Gewehre waren bereits geladen, eine Aufgabe, die er lieber persönlich durchführte, Dolch und Schwert lagen schon bereit.

Endlich hörte Henri, wie die Kutsche auf dem Kopfsteinpflaster zum Stillstand kam und er erwartete, dass sein Vater jeden Augenblick die Treppe hochkommen würde. Seit ein paar Wochen keuchte und schnaufte er dabei, sein Erzeuger war ein alter Mann geworden.

Aber stattdessen hörte Henri Geschrei von den Bediensteten und ein junger Page stürzte herein und flehte ihn an, schnell herunterzukommen: »Monsieur, kommen Sie schnell, Ihr Vater ist sehr krank!«

Henri eilte rasch die elegant geschwungene Marmortreppe hinunter, die die Eingangshalle schmückte. Durch die offene Tür bemerkte er drei Lakaien, die versuchten, seinen Vater aus der Kutsche zu ziehen, dann trat ein vierter hervor, um sich ihnen anzuschließen und seinen schweren Vater ins Haus zu tragen. Henri blickte auf das rote, entstellte Gesicht seines Vaters und befahl dem jungen Pagen, sofort einen Arzt zu holen.

Louis Philippe wurde in sein Schlafzimmer gebracht, entkleidet und erfrischt, da sein Kammerdiener aus den merkwürdigen Geräuschen, die aus seinem Mund kamen, meinte das Wort »Wasser«, erkennen zu können.

Henri übernahm schnell und effizient das Kommando. Der Haushalt war zunächst in völliger Aufregung, aber kehrte unter Henris harter Hand zur täglichen Routine zurück, während man auf die Ankunft des Arztes erwartete.

Es dauerte dann doch eine gute Stunde, bis die Kutsche des Arztes endlich vorfuhr. Der Arzt, gewandet wie eine schwarze Krähe, wurde sofort in das Krankenzimmer geleitet. Hier fand er seinen Patienten bei Kerzenlicht, die Vorhänge zugezogen, um das schädliche Tageslicht auszusperren.

Das Licht und der Geruch der Kerzen erinnerten eher an eine Kirche als an ein Schlafzimmer. Der Arzt war ein Anhänger der gängigen Theorie, dass schlechte Säfte die Quelle allen Übels sind, und beschloss daher, Louis Philippe ausgiebig zu schröpfen.

Er hinterließ Phiolen mit übel aussehenden Medikamenten und empfahl ansonsten Gebete, um die Gesundheit seines edlen Patienten wiederherzustellen.

Henri verfolgte das Verfahren mit überraschender Geduld. Er glaubte keine Minute lang, dass irgendeine der Handlungen des Arztes hilfreich sein könnte, aber das war ihm völlig gleichgültig. Wichtig war nur, dass seine Diener mit eigenen Augen sahen und bezeugen konnten, dass er alle Pflichten eines vorbildlichen Sohnes erfüllt hatte. Henri bot sogar an, abwechselnd mit dem alten Kammerdiener seines Vaters die Nachtwache zu halten.

So war es um Mitternacht, als Henri die Nachtwache übernahm und sich zu seinem Vater setzte. Schon hörte er seinen Vater seufzen. Louis Philippe öffnete mit sichtbarer Anstrengung seine Augen und erkannte seinen Sohn neben sich. Henri sah, wie sich die Augen seines Vaters mit Angst und Tränen füllten, und er verabscheute ihn mehr denn je.

»Möchtest du Wasser?«, fragte er mit falscher Freundlichkeit. Louis Philippe rollte mit den Augen und machte eine kleine Bewegung des Kopfes, um seine Zustimmung zu zeigen.

Henri stand auf, sah sich sorgfältig um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie hören oder sehen konnte. Als er überzeugt war, dass sie allein waren, ging er zurück zum Bett, senkte den Kopf neben das Ohr seines Vaters und flüsterte leise: »Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder Durst verspüren wirst«, und bevor Louis Philippe die wahre Bedeutung der Aussage seines Sohnes verstehen konnte, senkte sich ein Kissen auf seinen Kopf, solange, bis sein keuchender Widerstand erlahmte und der schwere Körper erschlaffte.

Henri betrachtete den Leichnam seines Vaters leidenschaftslos; diese plötzliche Wendung der Ereignisse war ein Geschenk des Himmels gewesen. Jetzt, wo er sich seinem Erbe so nahe fühlte – hatte ihm das Schicksal eine einmalige Gelegenheit geboten. Es hatte nur ein bisschen Entschlossenheit gebraucht, diese auch in die Tat umzusetzen.

Seine Abreise würde sich nun etwas verzögern, denn er würde verpflichtet sein, den trauernden und pflichtbewussten Sohn zu spielen. Doch schon sehr bald würde er sich in tiefster Trauer und Kummer aus der Öffentlichkeit zurückziehen, um seinen Cousin aufzuspüren. Henri hatte die kostbare Adresse entdeckt, aus den verkrampften Händen seines Vaters gelöst und sorgfältig in seiner Reithose versteckt.

Er drehte sich um, um den Leichnam seines Vaters in eine natürlichere Position zu rücken, und beschloss, noch eine gute Stunde zu warten, bevor er den Haushalt aufweckte, um ihnen bestürzt mitzuteilen, dass sein lieber und ach so geliebter Vater verstorben war.

Jean hatte seinen Herren durch das Schlüsselloch beobachtet. Er kannte Henri inzwischen zu gut und hatte sich gefragt, warum er den pflichtbewussten Sohn spielte und wach blieb, um auf seinen Vater aufzupassen. Es passte nicht zum Charakter seines Herrn.

Er war daher nicht im Geringsten überrascht. Henri war eine menschliche Bestie, ein Teufel in Menschengestalt.

***

Die Zeit verging wie im Fluge mit den Vorbereitungen für die Beerdigung von Louis Philippe de Beauvoir, endlosen Besuchen von Verwandten und Bekannten, um Henri ihr Beileid auszusprechen, dazu kam ein Berg von Dokumenten, die bezüglich des Erbes unterzeichnet werden mussten und letztendlich noch ein Pflichtbesuch am königlichen Hof, um dem König, der Königin und natürlich dem Kardinal seine Aufwartung zu machen.

Seine Darstellung des tief trauernden Sohnes war tadellos gespielt und nur wenige seiner engsten Freunde erlaubten sich eine verschleierte Anspielung, wie ungemein praktisch das rechtzeitige Ableben des ungeliebten Vaters gewesen sei.

Nur Kardinal Richelieu schaffte es, ihn zu verunsichern. Der Kardinal sagte nichts Konkretes oder Beleidigendes, aber schaute ihn lange mit seinen durchdringenden dunklen Augen an. Voller Ironie wünschte er ihm Stärke und viel Glück, um zumindest seinen Cousin bald bei guter Gesundheit wiederzufinden.

»Wir alle wissen, dass das Schicksal jederzeit zuschlagen kann, nicht wahr? Die Wege des Herrn sind nun einmal unergründlich«, fügte er mit seinem tiefgründigen Lächeln hinzu.

***

Eine gute Woche später war Henri bereit. Der Plan war, zunächst in Richtung Norden nach Amiens zu reiten, nur in Begleitung eines Burschen. Henri hatte ein paar gute Freunde im Norden, mit denen er häufig trank und spielte und die seine Spuren verwischen mussten, falls er nach der erfolgreichen Beendigung seiner Mission dort für einige Zeit untertauchen musste.

Zu Jeans großer Erleichterung durfte er in Paris bleiben. Henri befürchtete, dass Jean aufgrund seiner dunklen Hautfarbe zu leicht zu identifizieren war. Er ging auch davon aus, dass er sich nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Mission seines Burschen entledigen musste. Es durfte keine Zeugen geben. Es war zu früh, Jean zu opfern, denn er war ein guter Diener – im Bett und außerhalb.

Henris Reise nach Amiens und weiter nach Reims verlief reibungslos. Das Wetter war angenehm und warm und die Felder um sie herum leuchteten in saftigem Grün. Überall sprießten Blumen: vom feuerroten Mohn über blaue Kornblumen, dazwischen reckten sich weiße Margeriten und kecke gelbe Butterblumen.

Doch die beiden Reiter hatten keine Augen für die friedliche Pracht und Fülle der Schönheit, die Mutter Natur um sie herum entfaltete. Sie ritten schnell, aber blieben wachsam, da sie wussten, dass zwei einsame Reiter ein ideales Ziel für Banditen und Wegelagerer boten.

Sie hielten nur an und ruhten sich aus, wenn die Pferde eine Ruhepause brauchten. Sobald die Dunkelheit hereinbrach, baten sie um Unterkunft in abgelegenen Gasthäusern oder in einem Bauernhof.

Nachdem sie Amiens verlassen hatten, machten sie sich auf den Weg nach Südosten in Richtung der Stadt Reims. Henri sah keinen Bedarf für eine Verkleidung oder ein Versteckspiel. Er hatte beschlossen, sich offiziell mit dem von Kardinal Richelieu unterzeichneten Empfehlungsschreiben bei dem Abt der Klosterschule zu präsentieren. Erst dann würde er – nachdem er sein Opfer kennengelernt hatte – sein weiteres Vorgehen festlegen.

Er war sich sicher, dass dieser Junge keine Gefahr für ihn darstellte. Er musste nur einen möglichst eleganten Weg zu finden, um seinen Cousin loszuwerden und vor allen Dingen sicherzustellen, dass der Tod des Jungen nicht auf ihn zurückgeführt werden konnte. Henri war ein geborener Spieler und machte sich keine Sorgen – sein Glück würde halten, da war er sich sicher.

Endlich tauchten die Kirchtürme von Reims auf. Sie verlangsamten das Tempo, sobald sie die beeindruckenden Befestigungsanlagen der Stadtmauern erreichten, die von einem breiten Graben umgeben waren und betraten die Stadt durch das westliche Tor.

Bruder Joseph hatte ein Gästehaus von guter Qualität mit angemessenen Preisen in der Nähe der Kathedrale empfohlen, und Henri beschloss, dort Halt zu machen, um sich auszuruhen und zu erfrischen und erst am nächsten Tag eine Audienz beim Abt zu ersuchen. Für dieses Treffen war es sehr wichtig, elegant, vertrauensvoll und gut gepflegt auszusehen.

Es stellte sich schnell heraus, dass Bruder Joseph ihnen eine ausgezeichnete Empfehlung gegeben hatte. Das Gästezimmer war sauber, und die Matratze aus frischem Stroh. Das Essen war erstklassig und bestand aus Pasteten, Rillettes, gefolgt von Geflügel und Fleisch. Alles wurde mit dem typischen fruchtigen Wein der Region Champagne abgerundet. Eigentlich war Henri schon satt, als noch Käse und Obst aufgetischt wurden.

Diese opulente Mahlzeit wurde von einem attraktiven Dienstmädchen serviert, das ihn mit einladenden Blicken musterte. Sie hatte schöne braune Augen mit langen Wimpern und sicherlich nicht nur zufällig berührte sie ihn von Zeit zu Zeit und beugte sich beim Servieren weit vor.

Der Instinkt des Jägers wurde in ihm geweckt. Das Mädchen war hübsch, vielleicht ein bisschen plump für seinen Geschmack. Nach dem Abendessen ging er auf sein Zimmer und sein Bursche, begann, ihn zu entkleiden. Plötzlich betrat das Dienstmädchen das Gästezimmer:

»Sie haben mich gerufen, Monsieur?«

Henri stand mit nacktem Oberkörper vor ihr. Das Mädchen sah ihn auffordernd an und ihre rosa Zunge befeuchtete ihre Lippen. Dann drehte sie sich langsam, damit ihr Dekolleté bestens zur Wirkung kam. Henri entließ seinen grinsenden Burschen und mit flinken und sehr kundigen Fingern zog ihn das Mädchen weiter aus, bis er splitternackt und erregt vor ihr stand.

Die Magd war trotz ihrer Jugend äußerst erfahren, was Henri nicht überraschte. Sie kannte alle Tricks ihres Gewerbes und so verbrachten sie eine abwechslungsreiche Nacht, denn Henri war zu ihrem Entzücken unersättlich.

Das Dienstmädchen stahl sich aus dem Zimmer, als Henri endlich eingeschlafen war. Sie war begeistert: Was für ein Glücksfall, mit einem so gut aussehenden jungen Mann schlafen können, der obendrein noch eine dicke Börse besaß. Sie konnte nur hoffen, dass er bald zurückkommen möge.

Erst am nächsten Morgen begriff Henri, warum dieses Gasthaus in einer Stadt, in der die meisten Etablissements nicht davor zurückschrecken würden, auswärtige Pilger zu schröpfen, mit moderaten Preisen aufwartete. Obwohl das Essen ausgezeichnet und die Zimmer angenehm und sauber waren, war es unmöglich, Schlaf zu bekommen. Die Glocken der nahen Kathedrale schienen unablässig zu läuten. Er streckte sich, gähnte und beschloss, dass es Zeit zum Aufstehen sei. Sein Bursche hatte bereits heißes Wasser und sein Rasierzeug vorbereitet und Henri musste zugeben, dass er in den letzten Tagen ihrer Reise bemerkenswerte Fortschritte als Kammerdiener gemacht hatte.

Es war eigentlich schade, ihn später loswerden zu müssen.

Henri schlüpfte in ein sauberes Hemd, fügte einen teuren, blendenweißen Kragen aus flämischer Spitze hinzu und sah zu seiner Zufriedenheit, dass auch seine Kniehosen und Stiefel sorgfältig gereinigt worden waren. Die junge Magd verstand sich scheinbar nicht nur auf Dienste im Bett. Nachdem sein blondes Haar gebürstet und zu schimmernden Locken arrangiert worden war, sah er jeden Zentimeter wie der zukünftige Marquis de Beauvoir aus.

Sie hätten zum Kloster laufen können, aber Henri hatte beschlossen, dass aufgrund seines hohen Ranges nur die Ankunft auf einem edlen Pferd standesgemäß war.

Deshalb wurde der Pförtner des Klosters Zeuge, wie sich zwei Pferde näherten: Das erste wurde von einem tadellos gekleideten jungen Mann geritten. Sein schönes Gesicht trug einen Ausdruck von Verachtung und Arroganz. Es war leicht zu erkennen, dass der Besucher von edler Geburt war, auf dem zweiten Pferd folgte sein Stallknecht in gebührlichem Abstand.

Der Pförtner trat eifrig vor, um sich über die Wünsche des edlen Besuchers zu erkundigen. Er kannte diese Art von adligen Besuchern aus Erfahrung. Sie erwarteten, dass die Welt ihnen sofort zu Diensten war. Daher eilte er vor das Kloster, um Henri mit allem Respekt zu begrüßen, der ihm gebührte.

Henri übergab ihm das Empfehlungsschreiben des Kardinals und bat um die Ehre eines sofortigen Treffens mit dem Abt. Der Pförtner konnte nicht lesen, aber als Henri das Dokument mit dem schweren Siegel mit dem Kardinalshut vorzeigte, wurde Henri mit tiefen Verbeugungen in einen Warteraum geleitet. Der Bursche blieb unterdessen vor dem Kloster, um sich um die Pferde zu kümmern.

Ein junger, intelligent aussehender Mönch, der Sekretär des Abtes, erschien nach kurzer Zeit und nahm das Dokument in Augenschein, das der Pförtner ihm übergab. Er hieß Henri willkommen und teilte ihm ehrfürchtig mit, dass er den Abt sofort informieren werde.

Henri musste sich daran erinnern, dass der Begriff Zeit eine andere Bedeutung für die Mitglieder eines Klosters hatte, als für die Außenwelt und er versuchte, seine wachsende Ungeduld zu verbergen. Ein Abt hatte außerdem den Rang eines Grafen und er selbst war bisher nur der Cousin eines Marquis. Das Wartezimmer war sehr nüchtern mit wenigen schlichten Möbeln eingerichtet. Ein einsames Kruzifix schmückte die weiß getünchte Wand.

Da es nichts gab, was seine Aufmerksamkeit ablenken konnte, vertrieb sich Henri die Zeit damit, im Geist die Schritte durchzugehen, die als Nächstes unternommen werden mussten. Er war gerade dabei, Szenarien für einen tödlichen Unfall seines jungen Cousins zu entwerfen, als sich die Tür öffnete und der Abt erschien.

Henri sah sofort, dass dieses Treffen nicht ganz so einfach werden würde, wie er es vorhergesehen hatte. Er hatte einen Mann von nur durchschnittlicher Intelligenz erwartet, einen Mönch, der sich mehr für Fragen der Religion als für das Leben außerhalb des Klosters interessierte. Ein Geistlicher, der zudem durch den noblen Stammbaum der Familie Beauvoir beeindruckt und daher leicht zu handhaben war.

Sein Gegenüber entsprach in keiner Weise diesem Bild. Er sah intelligent aus, hatte einen edlen Kopf mit grauem Haar, das unter seiner Kapuze hervorlugte, und seine grauen Augen schauten wach und neugierig in die Welt.

Der Abt war sich seiner Stellung bewusst. Er bot Henri seinen Ring zum Kuss dar – und erinnert ihn durch diese Geste daran, dass er nicht nur der Herr dieses Klosters, sondern auch ein Prälat der Kirche war.

»Was kann ich für dich tun, mein Sohn«, fragte der Abt in freundlichem Ton und gab Henri ein Zeichen, sich zu setzen.

»Pater Abt, darf ich zunächst den herzlichen und allerchristlichsten Gruß Seiner Eminenz, des Kardinals Richelieu, überbringen, der Ihnen alles Gute wünscht. Mein Name ist Henri de Beauvoir, und ich habe zunächst eine traurige Nachricht zu überbringen. Mein geliebter Vater ist kürzlich verstorben.«

Henri bemühte sich, Würde und Trauer in seiner Stimme anklingen zu lassen.

»Es ist daher mein innigster Wunsch, diese traurige Nachricht weiterzugeben und den künftigen Marquis de Beauvoir zu treffen, der in dieser Klosterschule leben soll. Unser aller Wunsch ist es, dass mein Cousin in den Schoß unserer Familie zurückkehrt. Wir sehnen uns dringend danach, dass er die Nachfolge unserer Familie in unserem Schloss in Paris antreten wird. Seine Eminenz, der Kardinal Richelieu, war so freundlich, dieses Empfehlungsschreiben zu verfassen, um meine Identität zu bestätigen. Auch ihm ist daran gelegen, dass unsere Familie in schweren Zeiten zusammenhält.«

Die stolze Stadt Reims war zwar nicht das Zentrum der Macht im Königreich Frankreich, aber sie war bei Weitem nicht so provinziell, als dass der Ruf des Kardinals nicht auch dorthin gedrungen wäre.

Das ist seltsam, dachte der Abt, ich möchte wetten, dass weder dieser arrogante junge Mann noch der Kardinal auch nur einen Finger rühren würden, wenn es nicht um Geld oder Macht ginge. Da ist etwas faul.«

Er ließ sich aber nichts anmerken und blickte nur Henri aufmerksam an, bevor er mit seiner angenehmen tiefen Stimme antwortete: »Ich habe größten Respekt vor Seiner Eminenz, dem Beschützer unserer Kirche und unseres Königreichs. Wir wünschen ihm alles Gute und beten regelmäßig für seine Gesundheit. Es wird mir daher ein Vergnügen sein, Ihre Bitte zu erfüllen. Ich muss Sie lediglich bitten, meine Anwesenheit während Ihres Wiedersehens zu akzeptieren, denn Pierre, so lautet der Name Ihres jungen Cousins, wurde im Waisenhaus des Klosters nach dem Wunsch des ehemaligen Erzbischofs von Reims sehr streng erzogen, so wie es sich für einen Mönch gehört. Er ist es nicht gewohnt, Besuch zu empfangen.«

Du schlauer Fuchs«, dachte Henri, du brennst vor Neugierde.

Aber auch Henri konnte sich verstellen und er lud den Abt freundlich ein, selbstverständlich bleiben zu dürfen.

Der Abt lächelte und läutete die Glocke auf seinem Schreibtisch, und fast sofort erschien sein Sekretär. »Bitte sei so freundlich und bitte Bruder Hieronymus, mit dem Schüler Pierre zu erscheinen. Teile ihm bitte mit, er soll sich beeilen!«

Er bot Henri ein Glas Wein an, und sie begannen ein unverfängliches Gespräch über Paris, das Leben am Hof und die Gesundheit des Königs. Der Abt schien gut informiert zu sein. Das Gespräch erreichte dann das Thema des jungen Thronfolgers, des Dauphins, der erst vor zwei Jahren geboren wurde. Die Königin war zwanzig Jahre lang kinderlos geblieben, und man war sich einig, dass seine Geburt nicht nur ein echtes Wunder, sondern ein Geschenk des Himmels war.

Besonders wenn man bedenkt, dass unser König eigentlich junge Männer bevorzugt, dachte Henri.

Henri und der Abt fuhren fort, den neuesten Klatsch aus Paris und die Pracht des berühmten Palastes des Kardinals zu diskutieren, als der Sekretär des Abtes den Eintritt von Bruder Hieronymus ankündigte.

Bruder Hieronymus erschien, nervös und mit einem purpurroten Gesicht. Er schwitzte und verbreitete den Geruch ungewaschener Füße. Der Abt schwieg, aber sein Gesicht zeigte seine tiefe Missbilligung.

Henri sprang unwillkürlich von seinem Stuhl auf, machte einen Schritt nach hinten und schnappte nach Luft. Zum ersten Mal konnte er sogar eine Form von Mitleid mit seinem unbekannten Cousin empfinden.

Bruder Hieronymus versuchte, in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen, aber er war außer Atem. »Nicht gefunden …«, stotterte er. »Nachtwache …«,und schnappte wieder nach Atem. »Suchen und wahrscheinlich sterben …«, war alles, was man aus dem Geplapper heraushören konnte.

Der Abt opferte ein Glas seines ausgezeichneten Weißweins und bedeutete Hieronymus, es erst zu trinken, sich dann hinzusetzen und seine Geschichte in Ruhe von Neuem zu beginnen.

Vielleicht lag es an der Wirkung des Weins oder daran, dass der Abt ihn nicht sofort gemaßregelt hatte; auf jeden Fall begann Bruder Hieronymus sich zu entspannen und konnte die ganze Geschichte so erzählen, dass der Abt und Henri folgen konnten.

Bruder Hieronymus hatte erst vor einer Stunde erfahren, dass Pierre vermisst wurde, da niemand etwas Ungewöhnliches gemeldet hatte. Die Zelle war von außen verriegelt, und da man wusste, dass Pierre die Nachtwache mit Bruder Raphael verbracht hatte, war sein Aufseher überzeugt gewesen, dass er noch schlief.

Erst als er die Tür öffnete, um frisches Wasser und Brot zu bringen, wurde die Zelle leer vorgefunden, und der Aufseher war zu ihm gekommen. Da Pierre mit Bruder Raphael zusammen gewesen war, begannen sie nun mit der Suche.

Doch sie fanden Bruder Raphael, allein – und nun blickte Bruder Hieronymus hilflos auf den edlen Besucher, es schien ihm schrecklich peinlich fortzufahren.

»Mach weiter, mein Bruder, der edle Herr ist ein Verwandter von Pierre, wir haben nichts zu verbergen«, ermutigte der Abt den Mönch, auch wenn seine Stimme einen gefährlichen Klang angenommen hatte. Hieronymus schluckte tief und setzte seine Erzählung fort.

»Bruder Raphael ist in einem Busch in der Nähe der Löcher im Garten gefunden worden, die als Latrinen dienen. Er muss gedacht haben, dass Pierre die Kapelle verlassen hatte, um sich im Garten zu erleichtern. Bruder Raffaels sieht sehr schlecht, daher vermuten wir, dass er den Rechen, den die Gärtner neben dem Gartenweg zurückgelassen hatten, nicht gesehen hat. Er ist darauf getreten und wahrscheinlich hat die Harke ihn am Kopf getroffen, sodass bewusstlos den steinernen Weg gefallen sein muss.«

Wahrscheinlich war er wieder betrunken, dachte der Abt. Ich hätte ihn den Jungen nicht beaufsichtigen lassen dürfen.

Hieronymus beobachtete ängstlich das strenge Gesicht des Abtes. Der Abt regte sich nicht und so wagte er, seine Geschichte weiter zu führen.

»Bruder Raphael hat stark geblutet und wir befürchten, dass unser Herr ihn heute noch in den Himmel rufen wird.«

Hieronymus schlug fromm ein Kreuz zum Schluss.

Henri unterdrückte sein dringendes Bedürfnis, diesen stinkenden Idioten hier und sofort zu erwürgen.

»Als Bruder Raphael für eine kurze Zeit zu Bewusstsein kam, fragten wir ihn natürlich nach Pierre«, fuhr Hieronymus fort. »Aber die arme Seele konnte sich an nichts erinnern«, in seinen Augen sammelten sich Tränen, die ihm über die Wangen liefen, und er schluchzte. »Er wusste nicht einmal mehr, wer Pierre war.«

»Darf ich diese rührende Geschichte fortsetzen?« Henri unterbrach ihn kalt. »Du wagst es, Bruder, mir zu sagen, dass mein Cousin sich verirrt hat, seine Abwesenheit einen ganzen Tag lang nicht bemerkt und man nicht einmal eine Suche begonnen hat, du …«

Henri konnte sich in letzter Minute zurückhalten, denn ein eisiger Blick des Abtes erinnerte ihn daran, dass er sich in einem Kloster befand. Aber er sah Bruder Hieronymus in flammender Wut an, bereit, sich auf ihn zu stürzen.

Bruder Hieronymus war durch diesen Ausbruch von purem Hass wie gelähmt und der Abt entschied, dass es an der Zeit sei, einzugreifen. »Darf ich dich daran erinnern, dass du dich hier auf heiligem Boden befindest, mein Sohn«, sagte er mit all seiner Autorität. Henri senkte seinen Blick und schwieg.

»Ich werde natürlich sofort die Suche nach dem vermissten Jungen anordnen, und wir werden für ihn beten. In der Zwischenzeit sind auch Sie willkommen, unsere Suche nach Ihrem Cousin zu unterstützen und sich unseren Gebeten anzuschließen. Pierre ist leicht genug zu identifizieren: Er könnte von seinem Aussehen her Ihr Zwillingsbruder sein, aber«, und der Abt hielt inne, »seine Erziehung scheint besser zu sein.«

Bevor Henri eine passende Antwort auf diese ungeheuerliche Provokation finden konnte, fand er sich bereits dabei, den Ring, den der Abt ihm entgegengestreckt hatte, zu küssen. Er war entlassen worden und der Abt verließ den Raum völlig selbstbewusst, ohne sich die Mühe zu machen, auch nur einen Blick hinter sich zu werfen.

Henri kochte vor Wut.

***

Als Henri zu den Pferden zurückkam, konnte sein Stallknecht sehen, dass er äußerst verärgert war. Ein merkwürdiger Gedanke streifte den Stallknecht: Henri war wie ein Engel in das Kloster eingetreten und kam wie der Satan wieder heraus!

Henri beschloss, sofort im einzigen Hospiz der Stadt nach Pierre zu suchen, aber vergeblich. Als er in sein Gasthaus zurückkam, brauchte er mehrere Gläser Branntwein, um den fauligen Gestank der Kranken und Gebrechlichen loszuwerden, der in seiner Nase klebte.

Seine nächste Aktion war ein Treffen mit dem Hauptmann der Musketiere, der für Recht und Ordnung in der Stadt zuständig war und dessen Soldaten auch die Stadttore bewachte. Er bestach ihn mit mehreren Krügen Bier, um ihn zum Reden zu bringen. Aber niemand mit blonden Haaren und ähnlichem Aussehen wie Henri war gemeldet oder gesehen worden. Der Hauptmann versicherte, dass seine Leute alle Stadtbewohner in- und auswendig kannten, Pierre hätte die Stadt nicht lebend verlassen können, das war sicher. Er wäre sofort zurück in die Klosterschule geschickt worden.

Zurück im Gasthaus kochte Henri vor Wut. Als sich das Dienstmädchen an diesem Abend in sein Zimmer schlich, nahm er sie so heftig, dass sie vor Schmerzen wimmerte. Aber das schien ihn nur zu befeuern. Sie fragte sich verzweifelt, was geschehen war, dass aus dem attraktiven Liebhaber von gestern der leibhaftige Teufel geworden war. Sobald ihre Tortur vorüber war, schlich sie sich aus dem Zimmer und achtete sorgsam darauf, Henri während der nächsten Tage aus dem Weg zu gehen.

Henri beschloss, noch eine Woche in Reims zu bleiben, und sprach täglich im Kloster vor. Aber die Antwort blieb unverändert: Sein Cousin blieb spurlos verschwunden und man forderte ihn auf, für sein Wohlergehen oder seine Seele zu beten.

Folglich gab es nur noch eine Lösung: zurück nach Paris zu reiten und den großen Kardinal selbst zu treffen. Wenn jemand in Frankreich wusste, was hier vor sich ging, konnte es nur Richelieu sein.

Wenn Richelieu den Rest des Geldes erhalten wollte, war es auch an ihm, zu liefern!

Der Waisenjunge und der Kardinal

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