Читать книгу Der Waisenjunge und der Kardinal - Michael Stolle - Страница 8

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Im Palast Seiner Eminenz

Die elegante Kutsche mit dem Wappen des Marquis de Beauvoir fuhr auf den Hof des Palastes, den Kardinal Richelieu als sichtbare Krönung seiner Macht hatte errichten lassen. Gerüchten zufolge war der König Louis XIII so neidisch geworden, als er den prunkvollen Palast zum ersten Mal zu Gesicht bekam, dass er erst besänftigt werden konnte, als der Kardinal offiziell bekannt gab, dass er den neuen Palast nach seinem Ableben Seiner Majestät vererben würde.

Das Klappern der eisenbeschlagenen Räder der Kutsche erzeugte einen ohrenbetäubenden Lärm auf dem Kopfsteinpflaster und lenkte die Aufmerksamkeit auf den edlen Passagier, der sich anschickte, auszusteigen. Er war nicht mehr jung und sein einst gut geschnittenes Gesicht trug die deutlichen Spuren von einem Hang zur Völlerei. Sein dünner werdendes, blondes Haar war größtenteils schon ergraut. Trotzdem hing es in Locken bis zu den Schultern herab, wie es die Mode für Mitglieder des Adels vorschrieb.

Er missachtete die helfende Hand des Lakaien und sprang ungeduldig aus der Kutsche, wobei sein hochmütiger Blick für einen flüchtigen Moment seine Verachtung für dieses neureiche Gebäude deutlich machte.

Louis Philippe de Beauvoir stieg die eindrucksvolle Treppe hinauf und wurde sogleich durch endlose, mit antiken Skulpturen geschmückte Korridore geführt. Es hieß, der Kardinal besäße die größte Sammlung Frankreichs. An den Wänden waren kolossale Gemälde der führenden Künstler nicht nur Frankreichs, sondern aus ganz Europa zu sehen.

Das Gebäude war die Kulisse, um die königliche Familie, Frankreich, die katholische Kirche und – natürlich – Richelieu selbst zu verherrlichen.

Von überall glänzten Marmor und vergoldete Ornamente. Die Wände leuchteten in kostbarem Karmesinrot. Der wertvollste Marmor Italiens war nach Paris gebracht worden, denn nur das Beste war für den Kardinal gut genug. Edelsteine und Diamanten prangten in seiner privaten Kapelle; Messkelche, die Kreuze und sogar die Kronleuchter waren aus massivem Gold, über und über mit Edelsteinen verziert.

Louis Philippe de Beauvoir beherrschte mühsam seinen Widerwillen als er den überbordenden Prunk sah und täuschte hingerissene Bewunderung vor, wie es von jedem Besucher erwartet wurde, der als Bittsteller zum Kardinal kam. Es war allgemein bekannt, dass die Diener des Kardinals angehalten waren, jeden Besucher auszuspionieren. Der Kardinal würde später über jedes Detail seiner Ankunft genauestens informiert werden.

Louis Philippe – wie alle Mitglieder des Hochadels – verabscheute den Kardinal als Parvenü, einen Außenseiter, der sich von den niedrigsten Rängen des Klerus bis zum höchsten Amt in der Regierung, das Frankreich neben dem des Königs zu bieten hatte, hochgedient hatte.

Es wurde allgemein kolportiert, dass Richelieu seinen ersten Ministerposten als Belohnung dafür bekommen hatte, dass er ein Liebhaber der verhassten Königsmutter war. Eine Dame, ausgestattet mit unbegrenzter Gier und Lust an der Macht, aber nicht gesegnet mit einem scharfen Verstand. Sie begriff viel zu spät, dass sie eine Schlange an ihrem gut ausgestatteten Busen genährt hatte.

Richelieu wusste von diesen Anfeindungen und hatte trotzdem seine Macht auf Kosten der rivalisierenden Aristokratie meisterhaft Schritt für Schritt ausgebaut. Er hatte eine große Adelsfamilie gegen die andere ausgespielt und den Krieg gegen die protestantischen Ketzer geschickt genutzt, um einen Großteil der hugenottischen Aristokratie zu vernichten, denn sie bedeutete bisher die größte Gefahr für die königliche Vorherrschaft.

Der Kardinal hatte über die Jahre seine eigene Position als erster Minister gestärkt; es war allein Kardinal Richelieu, der die Regierung führte. Für den König hatte er die neue Position des absoluten Herrschers geschaffen, weit erhaben über dem gemeinen Volk und sogar dem Adel. Es bedurfte aber eines wahren Meisters der Politik wie Richelieu hinter den Kulissen, damit dieses Modell funktionierte.

Louis Philippe trat in das Vorzimmer und wurde gebeten, Platz zu nehmen, um auf den Kardinal zu warten. Er akzeptierte ebenso höflich, obwohl er vor Wut schäumte. Dass er hier warten musste, zeigte, dass er nur als einer der vielen Bittsteller angesehen wurde, ein Niemand in einer endlosen Kette von Menschen, die den Kardinal Tag für Tag um Gefälligkeiten baten.

Nun, dachte er, das ist ja genau, warum ich hier bin. Wie ein Bettler muss ich um einen Gefallen bitten, also werde ich es mit Würde absolvieren.

Nach einer guten halben Stunde wurde er endlich in die Bibliothek gebeten. Obwohl es ein warmer Tag war, hatte der Kardinal ein Feuer anzünden lassen und saß in dessen unmittelbarer Nähe. Es war ein offenes Geheimnis, dass sich der Gesundheitszustand des Kardinals verschlechtert hatte, aber er schien einer jener Menschen zu sein, die immer über schlechte Gesundheit klagten, aber ewig weiterlebten. Es war schwer, sich Frankreich ohne ihn vorzustellen.

Der Kardinal erhob sich von seinem Platz, um seinen adligen Besucher zu begrüßen. Er presste die Lippen fest zusammen und zuckte vor Schmerz. Louis Philippe de Beauvoir tat so, als hätte er den Gesichtsausdruck des Kardinals nicht bemerkt und näherte sich ehrerbietig. Er verbeugte sich förmlich und küsste den Kardinalsring der eiskalten Hand, die ihm entgegengestreckt wurde.

»Seid gegrüßt, Eure Eminenz«, sagte Louis Philippe. »Ich hoffe, Eure Eminenz bei bester Gesundheit zu finden.«

»Seid herzlich willkommen, mein Sohn«, antwortete Richelieu.

Das Gesicht von Louis Philippe, von der intensiven Hitze des Kamins gerötet, wurde plötzlich blass. Nur zwei brennend rote Flecken bildeten sich auf seinen Wangen, die ihm ein geisterhaftes Aussehen verliehen. Der Kardinal hätte ihn als »Mein ehrenwerter Marquis«, ansprechen müssen. Einmal mehr schien sein Anliegen, Erbe und Träger des Titels Marquis de Beauvoir zu werden, zu scheitern.

Richelieu hatte die Reaktion natürlich bemerkt. Ein leicht abfälliges Lächeln spielte auf seinen Lippen und er musterte ihn abschätzend. Louis Philippe hatte jahrelange Erfahrung als Höfling und wusste, dass er auf gar keinen Fall in diese Falle laufen durfte. Er begann also, den König und den Kardinal mit Lobpreisungen zu überschütten, so wie es die Etikette verlangte. Richelieu lächelte nur matt und machte eine müde Geste mit der Hand, um ihn zu unterbrechen.

»Wir kennen uns seit so vielen Jahren, mein Sohn«, fuhr Richelieu fort, seine Rolle als Geistlicher betonend, »und wir beide wissen, wem wir Vertrauen schenken dürfen … und wem nicht.«

Richelieu hielt lange inne, und seine scharfsinnigen Augen taxierten Louis Philippe de Beauvoir. Dieser versuchte, keine Miene zu verziehen, obwohl er den Eindruck hatte, dass der Kardinal nicht nur durch ihn hindurchsah, sondern sich insgeheim über ihn lustig machte.

»Sie sind gekommen, um mich um Hilfe zu bitten, damit Seine Majestät, der König, Sie als den einzigen und rechtmäßigen Erben Ihres Bruders, des verstorbenen Marquis de Beauvoir, anerkennt.«

Das schwere scharlachrote Gewand des Kardinals knisterte, als er sich auf seinen Stuhl setzte und die Diamanten auf dem goldenen Kreuz, das er an einer langen Kette trug, funkelten im Licht. Er machte eine leichte Handbewegung und lud Louis Philippe ein, sich auf einen der hohen, aber unbequemen Stühle zu setzen, die für seine hochrangigen Besucher reserviert waren.

»Lassen Sie uns gleich zur Sache kommen, denn ich muss bald zu Seiner Majestät. Der König möchte einen neuen Hengst erwerben und da es sich um eine Entscheidung von höchster Wichtigkeit handelt, benötigt er meinen bescheidenen Rat.«

Louis Philippe fragte sich, wie es der Kardinal schaffte, so viel Sarkasmus in nur einen Satz zu packen, ohne die Tonlage zu verändern und dabei seine Augenbrauen nur leicht zu bewegen.

»Ich muss Ihnen leider mitteilen, Monsieur, dass Ihre Chancen nicht günstig stehen, ich habe das von meinen Juristen genau prüfen lassen. Der Erbe ist ehelich geboren, und Ihr Antrag auf Ungültigerklärung der Ehe mit dem Grund, seine Mutter sei Protestantin gewesen, ist problematisch, da sie vor ihrem Tod zum wahren Glauben konvertierte und rechtlich gesehen daher keine Ketzerin war. Diese Tatsachen sind gut dokumentiert, und eine Änderung der Erbfolge würde bedeuten, dass die Fundamente untergraben würden, auf denen dieses Königreich, unser Recht und unsere Ordnung aufgebaut sind.«

»Aber es ist die Wahrheit«, rief de Beauvoir verärgert aus. »Muss ich wirklich akzeptieren, dass der Titel einer der vornehmsten Familien Frankreichs an einen Bastard, einen ketzerischen Ausländer, geht?«

Der Kardinal bat ihn, sich zu beruhigen, und fuhr fort. »Es gibt da noch zwei Möglichkeiten, die Sie eventuell ausloten sollten«, und wieder hielt er inne. Er sah, dass Louis Philippe sich schnell die Lippen befeuchtete und ihn erwartungsvoll ansah. Ich habe ihn am Haken, dachte Richelieu, er wird gierig.

Der Kardinal fuhr fort:

»Unsere heilige Mutter, die katholische Kirche, würde es natürlich vorziehen, wenn ein wahrer Sohn ihres Glaubens in die Fußstapfen des verstorbenen Marquis treten würde. Wenn Sie also in Erwägung ziehen, eine Petition an den Heiligen Stuhl zu richten, könnte ich Ihrer Bitte meine demütige Unterstützung hinzufügen. Wenn der Heilige Vater in seiner Weisheit beschlösse, die Ehe Ihres Bruders mit der Begründung für ungültig zu erklären, dass seine Frau als Ketzerin angesehen werden muss und höchstwahrscheinlich Hexerei angewandt wurde, um Ihren Bruder dazu zu bringen, sie zu heiraten, würde der Titel an Sie gehen. Die Erbfolge würde geändert, aber unser Rechtssystem bliebe unangetastet.«

Louis Philippe sah den Kardinal an, befeuchtete seine Lippen erneut und fragte: »Was würde diese Petition kosten, Eure Eminenz, und welchen Zeitraum würden Sie für einen erfolgreichen Abschluss veranschlagen?

»Sie müssten etwa 150.000 Livres in Spenden an die Kirche, den Heiligen Vater und die Kardinäle in Rom rechnen. Das ist das Minium, das es uns ermöglichen könnte, das Verfahren zu eröffnen. Im Falle eines Erfolgs würde die Kirche natürlich erwarten, dass mindestens derselbe Betrag noch einmal als Unterstützung für Ihre Angelegenheit gezahlt wird und wir dafür Sorge tragen, dass die Entscheidung des Heiligen Vaters auch vom Parlament umgesetzt wird, das diese Entscheidung bestätigen muss.«

Das Gesicht von Louis Philippe wurde scharlachrot. Die schreckliche Hitze im Saal brachte ihn fast um und diese giftige Spinne im Kardinalsgewand, die vor ihm saß, wagte es, die Hälfte seines Erbes abzukassieren – natürlich ohne jegliche Erfolgsgarantie.

»Was wäre die zweite Option, Eure Eminenz?« Seine Stimme war heiser und er fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

»Die zweite Option wäre, dem natürlichen Verlauf eines Erbes zu folgen. Ich weiß, dass Sie wohltätig sind, mein Sohn. Für eine Spende an meine Diözese könnte ich behilflich sein, Ihren Neffen zu finden. Möglicherweise ist er ja ein schwächlicher Junge, sein plötzliches Ableben würde Sie natürlich zum nächsten Marquis machen.«

Louis Philippe blinzelte und verstand plötzlich, warum dieser Kardinal den Lauf der Geschichte verändert hatte – er hatte keinerlei Hemmungen, wenn es um seine Interessen ging.

»Welche Art von Beitrag wäre in diesem Fall angemessen, Eure Eminenz?« Louis Philippe gelang es, zu sprechen, nachdem er seine Fassung wiedererlangt hatte.

Richelieu zögerte keine Sekunde und antwortete geschmeidig: »Fünfzigtausend Livres jetzt und weitere hunderttausend, sobald Sie das Erbe antreten.«

Der Kardinal hielt inne. »Zahlbar natürlich in Gold«, fügte er hinzu.

Die goldenen Ornamente in dem erdrückend heißen Raum begannen sich vor den Augen von Louis Philippe zu drehen. Der Kardinal schlug ohne Hemmungen einen Mord an seinem Neffen als die billigere Option vor. Die alte Spinne würde davon sogar noch mehr profitieren, da alle Gelder direkt in die Taschen des Kardinals fließen würden, ohne dass er sie mit Rom teilen musste.

Bevor Louis Philippe die Zeit hatte, diesen Vorschlag zu verdauen, rief der Kardinal schon: »Bruder Joseph!«,

Aus einer dunklen Ecke der Bibliothek erschien plötzlich ein Dominikaner Mönch. Louis Philippe konnte nicht sagen, ob der Mönch durch eine Geheimtür gekommen war oder ob er während der ganzen Zeit das Gespräch belauscht hatte.

»Um sicherzugehen, dass es keine Missverständnisse gibt – der Inhalt unseres Gesprächs muss natürlich völlig vertraulich bleiben – wird Bruder Joseph über alle Einzelheiten Buch führen. Wir werden einen Vertrag aufsetzen, mein Sohn, sobald Sie weitere Schritte unternehmen möchten. Bruder Joseph könnte Ihnen auch dabei behilflich sein, Sie mit Ihrem jungen Verwandten, nach dem Sie schon so viele Jahre gesucht und den Sie so schmerzlich vermisst haben, zusammenzuführen. Sie werden die Informationen darüber, wo Sie Ihren Neffen finden können, zu gegebener Zeit erhalten, sobald unsere kleine Vereinbarung unterzeichnet worden ist.«

Richelieu schaute ihm nun voll in die Augen, und Louis Philippe hatte das Gefühl, dass diese dunklen Augen voller Verachtung auf ihn gerichtet waren.

»Ich nehme an, der zweite Vorschlag wird die bevorzugte Option?« Richelieu beendete seine Rede und erhob sich, wieder einmal, nicht ohne vor Schmerz zu zucken.

Louis Philippe verstand, dass dies sein Zeichen war, sich zu verabschieden. Er verbeugte sich vor dem Kardinal und küsste noch einmal den Ring auf seiner Hand, die immer noch eiskalt war, nickte Bruder Joseph kurz zu und wurde zu seiner Kutsche zurückgeführt, die wie durch ein Wunder bereits auf ihn wartete.

Trotz der Pracht der neuen Paläste, die im königlichen Viertel und in Saint Germain in die Höhe schossen, waren die engen Straßen von Paris immer verstopft von Menschen, Kutschen, Fuhrwerken und Reitern. Paris war die am schnellsten wachsende Stadt Europas, zählte sie doch inzwischen mehr als eine halbe Million Menschen.

Louis Philippe saß in seiner Kutsche und wurde von den Schlaglöchern kräftig durchgeschüttelt. Normalerweise hätte er seine Peitsche benutzt, um den Kutscher zu züchtigen und aufzufordern, vorsichtiger und doch schneller zu fahren, aber er stand nach diesem Gespräch mit dem Kardinal immer noch unter Schock.

Er hatte gerade einen Blick in einen Abgrund rücksichtsloser Ausübung von Macht geworfen. Er verstand nun, dass der Kardinal schon lange in einer anderen Liga spielte als all die Mitglieder der alten adligen Familien, die sich ihm doch so überlegen fühlten.

Louis Philippe musste die Angelegenheit mit seinem Sohn besprechen – und zwar schnell.

***

Sobald Louis Philippe in seinem Palast angekommen war, zog er sich um, da er nach diesem verstörenden Gespräch in der schrecklich heißen Bibliothek des Kardinals das dringende Bedürfnis verspürte, seine Kleidung zu wechseln.

Er war gerade dabei, ein zweites Glas Wein zu leeren, als sein Sohn die Bibliothek betrat, da Louis Philippe dem Butler mitgeteilt hatte, dass die sofortige Anwesenheit seines Sohnes erwünscht sei.

Henri de Beauvoir war überdurchschnittlich groß, sein durchtrainierter Körper war von perfekten Proportionen und er betrat die Bibliothek mit den Schritten eines Mannes, der überzeugt war, die Welt gehöre ihm.

Seine blonden Locken fielen ihm auf die Schultern und die Weste aus teurer weißer Seide mit goldenen Borten war nach der neuesten Mode geschneidert. Sein Gesicht wäre von klassischer Schönheit gewesen, hätte nicht eine Narbe über seinem linken Auge die Perfektion gestört. Doch weit davon entfernt, ihn zu entstellen, gab die Narbe dem jungen Mann einen Hauch von Abenteuer und Gefahr, was seine physische Anziehungskraft nur noch verstärkte.

Jeder Vater, der einen solchen Sohn erblickte, hätte vor Liebe und Stolz platzen müssen. Doch Louis Philippe sah Henri mit seinem gewohnt selbstsicheren Schritt auf ihn zukommen und unterdrückte einen leichten Schauer. Die Gegenwart seines Sohnes machte ihn nervös und beim Blick in seine blauen Augen, ein Erbe der Familie, sah er keine Liebe, keine kindliche Ehrfurcht, sondern nur Verachtung – sie waren kalt wie Eis.

»Was hat unsere geliebte Eminenz Ihnen gesagt, das so dringend sein könnte, dass Sie mich sofort zu sich rufen, mein verehrter Vater?«, fragte Henri höhnisch, obwohl er seinen Vater zumindest noch mit dem höflichen Sie ansprach, wie es beim Adel allgemein üblich war.

»Ich sehe an Ihrem Gesicht, dass Sie das Spiel mal wieder verloren haben, Sie zittern ja wie Espenlaub.«

Er hielt inne und warf seinem Vater einen verächtlichen Blick

zu.

»Ich darf mich immer wieder beglückwünschen, jemanden, der so mutig und tapfer ist wie Sie, zum Vater zu haben«, fügte er ironisch hinzu und fläzte sich vor seinem Vater auf dem Stuhl.

Er streckte seine wohlgeformten, langen Beine aus, griff nach der Karaffe mit dem Wein und schenkte sich ein Glas ein, ohne auf die Einladung seines Vaters zu warten.

»Würde es dir etwas ausmachen, ein Mindestmaß an Respekt für deinen Vater zu zeigen«, protestierte Louis Philippe und versuchte, eine gewisse Autorität zu zeigen.

»Nein, eigentlich nicht, aber warum sollte ich?« Henri warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Ich würde ja gerne Respekt zeigen, aber wissen Sie, Monsieur, Sie verdienen es nicht, Sie sind eine Schande für die Familie de Beauvoir – und das wissen Sie doch selbst! Sie haben in Ihrem ganzen Leben noch nie etwas erreicht.«

Er hielt inne und fügte hinzu: »Ich frage mich, ob es Ihnen überhaupt gelungen ist, mich zu zeugen, oder ob ich meiner Mutter danken sollte, dass sie jemand anderen um Hilfe gebeten hat.«

Louis Philippe sprang vor Wut auf und wollte seinen Sohn ohrfeigen, aber dieser ergriff seinen Arm mit einem stählernen Griff und murmelte ihm ins Ohr: »Tun Sie es nicht, Monsieur, denken Sie nicht einmal daran, sonst werden Sie es bereuen.«

Ein unbehagliches Schweigen senkte sich über den Raum, aber dann fuhr Henri fort, als sei nichts geschehen. »Nun kommen Sie schon, lieber Vater, spucken Sie es endlich aus. Was hat Seine Eminenz, der brillante Mentor unseres gnädigen, aber leider etwas dümmlichen Königs Louis, Ihnen gesagt?

Louis Philippe beschloss, die Beleidigungen seines Sohnes zu ignorieren; die traurige Wahrheit war, dass er sich inzwischen an sie gewöhnt hatte. Er gab eine kurze Zusammenfassung des Treffens im Palast des Kardinals, und noch bevor er fertig war, war Henri bereits von seinem Stuhl gesprungen und lief mit großen Schritten durch den Raum.

»Diese espèce de cafard«, rief er wütend, »diese in Scharlach gekleidete Kakerlake, er grätscht uns genau zwischen die Beine. Wir sollen die Drecksarbeit für diesen Kerl erledigen und meinen lieben Cousin, diesen Bastard, loswerden. Er wird uns nur den Hinweis geben, wo wir ihn finden können, sonst nichts – und später«, schäumte Henri, »wird uns diese giftige Kröte unser ganzes Leben lang erpressen, denn alles wird von diesem verfluchten Mönch aufgezeichnet.«

Louis Philippe nickte unglücklich. Tatsächlich wurde ihm das echte Ausmaß der Katastrophe erst jetzt klar, als sein Sohn alles in zwar vulgäre, aber klare Worte fasste.

Henri ging weiter im Raum auf und ab und blieb plötzlich vor seinem Vater stehen. »Ich bin pleite«, sagte er plötzlich.

Sein Vater schaute ihn ungläubig an. »Du machst wohl einen schlechten Witz. Ich habe dir letztes Jahr Zugang zum Erbe Deiner Mutter gewährt und im Jahr zuvor schon eine Kaution für Dich hinterlegt. Das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein!«

Doch als er seinem Sohn in die Augen sah, erkannte er sofort, dass es die Wahrheit war. Henri fuhr fort: »Sie haben einfach keine Ahnung! Das Leben ist teuer. Ich kann nicht akzeptieren, dass ein de Beauvoir wie ein Bettler lebt. Dazu kommt, dass ich in letzter Zeit auch noch eine Pechsträhne mit den Karten hatte.« Henri zuckte die Achseln. »Aber warum der Aufstand, schließlich geht es nur um Geld.«

»Du bist verrückt«, erwiderte sein Vater. »Ich weiß nicht mehr, woher ich noch Geld nehmen soll. Die meisten meiner Ländereien sind längst verpfändet und ich habe keinen Zugriff auf das Geld meines Bruders, solange ich nicht seinen Titel trage.«

»Es gibt also nur einen Ausweg«, sagte Henri und ging auf seinen Vater zu. Er blickte mit seinen kalten Augen direkt in die Augen seines Vaters. Er konnte sehen, wie sich die Angst in ihnen spiegelte.

»Wir müssen diesen Bastard loswerden, es gibt keine Alternative.«

Er erhob seine Stimme und fügte hinzu: »Sie sollten das besser verstehen, mon père, und sich auf den Weg machen, das heißt, wenn Sie überhaupt in der Lage sind, etwas zu tun, was Sinn macht.«

Sein Vater sah aus wie ein unglückliches Kaninchen in der Falle.

Er wird es ruinieren, dachte Henri leidenschaftslos, er macht sich jetzt schon in die Hosen. Ich werde das also arrangieren müssen, und dann, mein lieber Vater, suchen wir auch gleich für Sie eine schöne Ruhestätte in der Familienkrypta.

Laut sagte er: »Hör auf zu heulen geh zu den Juden oder den italienischen Geldsäcken – noch heute oder spätestens morgen! Die werden die 50.000 Livres sofort ausspucken, wenn sie hören, dass der Kardinal uns hilft und das Erbe meines Onkels greifbar nahe ist.«

»Hör auf, mich zu duzen. Sie werden uns mit den Zinsen, die sie verlangen werden, umbringen«, schaffte es sein Vater einzuwenden. Er wollte weiterreden, wurde aber sofort von Henri unterbrochen, der nur verächtlich lachte.

»Keine Sorge, ich werde das schnell erledigen. Gehen Sie jetzt, Monsieur, Sie haben genug Zeit verplempert!«

Louis Philippe schaute seinem Sohn in die Augen und obwohl er im Laufe der Jahre alle Illusionen verloren hatte, war er tief erschüttert. Er sah, dass diese eiskalten Augen vor Freude und Erregung zu strahlen begannen.

Er freut sich darauf, seinen Cousin zu finden und ihn zu beseitigen, dachte Louis Philippe und versuchte, ein Gefühl des Grauens und der Angst zu unterdrücken. Mein Sohn ist ein Mörder aus Leidenschaft.

***

Henri stürmte aus der Bibliothek. Mir wird übel, dachte er, was für ein Jammerlappen mein Vater doch ist.

Eigentlich war er froh, dass es ihm endlich gelungen war, seinen Vater in eine Situation zu manövrieren, in der er einer Entscheidung nicht mehr ausweichen konnte. Henri war seit seiner frühen Jugend von der Idee besessen, später einmal der Marquis de Beauvoir zu werden, eine fixe Idee, die ihn Tag und Nacht verfolgte. Sein Cousin war das einzige Hindernis. Er musste gefunden und beseitigt werden, dann war der Weg frei.

Der Gedanke, so nah am Ziel zu sein und auf die Jagd nach dem Bastard zu gehen, ließ das Blut schneller in seinen Adern zirkulieren. Henri fühlte sich wie im Rausch. Ein Rausch, der ihn zutiefst erregte.

Er ging in sein Schlafzimmer, wo sein Kammerdiener Jean bereits wartete. Henri hatte sich als Diener einen hübschen und gut gebauten Mulatten gesucht, den er auch gerne vorzeigte. So wie er es beabsichtigt hatte, war Henri damit zum Schöpfer einer neuen Mode in den Pariser Adelskreisen geworden. Jede Familie von Stand versuchte danach verzweifelt, einen farbigen Kammerdiener oder eine Kammerzofe zu finden, um nicht hinterwäldlerisch zu wirken.

Henri näherte sich Jean und legte seine Hand auf seine Schulter.

»Zieh mich aus«, befahl Henri seinem Kammerdiener, der vergebens versuchte, den seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht seines Herren zu deuten.

»Schau nicht so blöd. Du weißt, was ich will.«

Jean zeigte keine Regung. Er hatte gelernt, dass jedes Anzeichen von Auflehnung streng bestraft wurde, und – was noch schlimmer war – er wusste aus Erfahrung, dass Henri sogar versuchte, ihn zu provozieren, damit er einen Vorwand hatte, ihn zu bestrafen. Das Geräusch der Peitsche erregte seinen Herrn.

Bald stand sein Diener nackt vor ihm, wie eine antike Statue, die Haut schimmernd wie Bronze. Als Jean sich dem Bett näherte, konnte Henri ein Brandmal sehen. Es war das Zeichen der Lilie, das Zeichen der Galeeren- Sträflinge. Henri liebte dieses Geheimnis, da es ihm absolute Macht über Jean verlieh: ein Wort an die Behörden, und Jean würde erst gefoltert und dann zurück auf die Galeeren deportiert werden. Jean gehörte ihm daher ganz und gar, er war besser als ein einfacher Diener, er war für immer sein Sklave.

Eigentlich langweilen sie mich alle nach kurzer Zeit, dachte Henri, »aber dieser hier ist anders.«

Während er Jean berührte, wanderten seine Gedanken zurück zu den diversen Kammerdienern, die in seinen Diensten gestanden hatten. Einer, ein junger blonder Bursche, hatte gedacht, dass der Akt der körperlichen Liebe ihn dazu berechtigen würde, intim zu werden und im Gespräch mit den anderen Dienern freche Andeutungen zu machen. Nun, er hatte seine Frechheit unter Henris Peitsche bereut, bevor sein halb toter Körper in die Seine geschickt worden war.

Henri dachte an die Peitsche, dann an die bevorstehende Jagd und schwer atmend erreichte er seinen Höhepunkt.

Danach drehte Henri sich zum Schlafen um. Schweigend nahm Jean seine Kleider und zog sich eilig an. Er spürte, dass Henri in einer äußerst gefährlichen Stimmung war und schlüpfte aus dem Raum. Dann ging er die Treppe hinauf, um sich in den Raum zu schleichen, den er mit den anderen Dienstboten teilte. Er spürte, wie die Blicke der anderen Lakaien auf seinem Rücken brannten. Natürlich wussten sie alle, was gerade geschehen war, und verachteten ihn dafür.

Jean erreichte den Raum und warf seine Kleider ab. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich zu waschen. Als er die kleine Metallplatte betrachtete, die ihnen als Spiegel diente, starrte er in ein Gesicht, das zu einer Maske mit traurigen Augen erstarrt war.

»Ich schwöre hiermit, dass ich diesen Bastard eines Tages umbringen werde«, flüsterte er dem Gesicht im Spiegel zu. »Und wenn ich dafür sterben muss.«

Der Waisenjunge und der Kardinal

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