Читать книгу Der Waisenjunge und der Kardinal - Michael Stolle - Страница 5

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Ein Kloster in Reims

Der großgewachsene Junge, fast schon ein Mann, hörte die Schritte näherkommen und beugte den blonden Schopf fleißig über seine Schiefertafel. Er war damit beschäftigt, die Worte des heiligen Augustinus zu kopieren.

Er spannte die Muskeln seines Rückens, da er aus früheren, sehr schmerzhaften Erfahrungen wusste, dass es so leichter sein würde, die Rute zu ertragen, wenn Bruder Hieronymus einen Fehler in seiner Abschrift der heiligen Schriften bestrafte. Dies war leider oft genug der Fall, obwohl Pierre in der berühmten Klosterschule in der Stadt Reims der Klassenbeste war.

Heute aber schien Bruder Hieronymus mit der Arbeit von Pierre zufrieden zu sein. Er ging langsam weiter und seine Rute fand diesmal ein anderes Opfer: den armen, ungelenken Louis, der an seinem Pult in der Nähe des Fensters stand und vor sich hinträumte. Das Fenster stand weit offen, um die Strahlen der Frühlingssonne in den muffigen Raum strömen zu lassen.

Pierre sah, wie der Stock auf den Rücken von Louis niedersauste. Louis versuchte, den Schmerz zu verbergen und ein Stöhnen zu unterdrücken – denn sie alle wussten, dass jedes laute Aufstöhnen ihren Lehrer noch mehr anstacheln und die gefürchtete Strafaktion nur verlängern würde.

Alle Schüler gehörten zur Abschlussklasse des Klosters. Alle Jungen, bis auf Pierre, stammten aus adligen oder wohlhabenden Familien. Sie bereiteten sich hier auf ihre Karriere als hochrangige Mitglieder des Militärs oder des Klerus vor und viele waren bereit, ihr Gelübde abzulegen und hohe Positionen in der Kirche anzutreten, wenn die Zeit dafür reif war.

Die Klosterschule von Reims hatte in ganz Frankreich einen hervorragenden Ruf. Sie war direkt dem Erzbischof von Reims unterstellt, der berühmten Stadt, in der die Könige Frankreichs gekrönt wurden. Daher hörten ihre Lehrer nie auf, immer wieder zu betonen, dass sie den Herrn loben sollten, dass sie eine so hervorragende Schule besuchen durften.

Strafen und Geißelungen seien ein notwendiges Mittel zur Reinigung ihrer verdorbenen Seelen.

»Warum fangen die Mönche dann nicht bei sich selbst an?«, hatte Armand dazu nur lakonisch bemerkt.

***

Pierre versuchte heimlich, einen Blick auf seinen Freund Armand zu werfen, der nahe am Fenster stand. Ein Gespräch zwischen den Jungen während des Unterrichts war strengstens verboten, deshalb musste er vorsichtig sein, sonst würde er am Ende wieder einmal abgestraft und ohne Abendessen in seine Zelle verbannt werden.

Armand lächelte Bruder Hieronymus an und sein jungenhafter Charme wirkte offensichtlich auf den Lehrer. Mit Nachsicht korrigierte der Lehrer ein paar Buchstaben auf Armands Schiefertafel, wo er es zuvor für notwendig erachtet hatte, Louis streng zu bestrafen. Armand war allerdings sehr attraktiv. Er hatte einen muskulösen Körper, braune seelenvolle Augen, dazu dunkles, lockiges Haar und sein Lächeln war so ansteckend, dass ihm niemand widerstehen konnte.

Pierre fragte sich immer noch, warum Armand ihn, das einzige Waisenkind und ein armer Niemand in dieser Klasse, zu seinem besten Freund auserkoren hatte. Aber kurz nachdem sie sich vor zwei Jahren zum ersten Mal getroffen hatten, war ein enges Band der Freundschaft entstanden. Die Schule würde für beide nun aber bald zu Ende gehen, da sie sich dem Alter näherten, in dem sie weiterziehen oder Mitglieder des Klerus werden würden.

Pierre musste gegen ein Gefühl der Traurigkeit ankämpfen, als er daran dachte, dass ihre gemeinsame Zeit in Reims bald zu Ende gehen würde. Armand war der jüngste Sohn einer alten, adeligen Familie in Frankreich und würde schnell durch die Reihen des Klerus oder des Militärs aufsteigen. Tatsächlich war er dafür prädestiniert, sehr bald Bischof zu werden, eine Position, die sich seine Familie leicht erkaufen konnte – vielleicht würde er sogar sofort zum Erzbischof ernannt werden.

Für Pierre gab es keine solchen Aussichten, bestenfalls konnte er hoffen, in diesem Kloster als Mönch oder Lehrer zu bleiben oder Priester in einem kleinen Dorf zu werden. Er hatte weder Familie noch Geld und Einfluss, um sich ein Amt zu kaufen zu können.

Als die Glocke der Kapelle die heilige Messe ankündigte, liefen die Jungen auf den Hof, der sich zwischen den Schulräumen und dem Kapellengebäude erstreckte, froh sich einmal bewegen zu dürfen.

Pierre eilte nach vorne, um sich Armand anzuschließen. Sobald er sich vergewissert hatte, dass kein Lehrer in der Nähe war, schlug er Armand freundschaftlich in die Seite und grinste ihn an.

»Du hast die schleimige alte Kröte wirklich dazu gebracht, dir aus der Hand zu fressen, ich wette, du hattest noch nicht einmal die Hälfte des Textes fertig.«

Armand erwiderte grinsend: »Er mag mich, allerdings etwas zu sehr für meinen Geschmack. Neuerdings schlägt er mir sogar Privatstunden nach der Schule vor. Aber bis jetzt habe ich ihn immer abwimmeln können.« Dann schaute er seinen Freund ernst an: »Aber er war auch nett zu dir – zu nett, wenn du verstehst, was ich meine. Pass besser auf, er unterrichtet gerne gut aussehende Jungs, und du hast keine Familie, die dich beschützt …«

Inzwischen hatten sie die kalte, dunkle Kapelle mit dem unverwechselbaren Geruch von brennenden Kerzen und süßlichem, kalten Weihrauch erreicht. Das Mittelschiff wurde von einem vergoldeten Triptychon beherrscht, das ein wunderschönes Gemälde der Madonna von Reims zeigte. Die Jungfrau war umgeben von einer Gruppe von Heiligen und Engeln, die sie verzückt anbetend umringten. Dieses Gemälde sah so lebendig aus, dass Pierre sich dem inneren Heiligtum der Kapelle nie ohne ein Gefühl der Ehrfurcht nähern konnte. Manchmal schien es ihm sogar, als ob das Lächeln der heiligen Jungfrau nur für ihn bestimmt war.

Armands Bemerkung machte Pierre allerdings nervös. Natürlich hatte er von den anderen Jungen von Bruder Hieronymus’ besonderen Privatstunden gehört. Obwohl er pflichtschuldig versuchte, sich auf die heilige Messe zu konzentrieren, nagte der Zweifel über die überraschende Freundlichkeit des Lehrers die ganze Zeit in seinem Hinterkopf.

***

Die nächsten Wochen folgten der gewohnten Routine: Die Schüler mussten beten, kopierten Fragmente religiöser Texte, lernten und arbeiteten hart, nur unterbrochen von den regelmäßigen Gottesdiensten und kleinen Pausen.

Dann kam der Tag, an dem Bruder Hieronymus während seiner üblichen Inspektionsrunde innehielt und Pierre seine weiche, feuchte Hand auf die Schulter legte. Nicht nur, dass er seine Hand dortbehielt, zu Pierres großer Überraschung begann er auch, die Fähigkeiten seines Schülers laut zu loben und erwähnte gut gelaunt: »Mein Sohn, du brauchst nur noch ein paar Privatstunden, um ein ausgezeichneter Gelehrter zu werden. Du weißt ja, dass bald das Schuljahr beendet sein wird. Leider bist du nur ein Waisenkind, das die Kirche aus Gründen der christlichen Nächstenliebe und der Barmherzigkeit aufgenommen hat. Du benötigst also eine besondere Empfehlung von deinen Lehrern, um eine Chance zu haben, später in unsere Reihen aufgenommen zu werden!«

Nur mit Mühe schaffte Pierre es, ein Lächeln in sein Gesicht zu zaubern. Artig dankte er dem Lehrer für seine freundliche Sorge um sein Wohlergehen und seine zukünftige Karriere.

***

Am nächsten Sonntag, unmittelbar nach der Morgenmesse, konnten Pierre und Armand in den Klostergarten entwischen. Dort hatten sie eine entfernte Baumgruppe entdeckt, die sich hervorragend als Versteck eignete. Sie kletterten auf einen der dichten Bäume und verschwanden zwischen den grünen Zweigen.

Der Frühling war fast schon dem Sommer gewichen und der Klostergarten leuchtete in den prächtigen Farben der Blumen, die von den Mönchen liebevoll gepflegt wurde. Sträucher und Bäume umrahmten das Bild mit ihrem saftigen Grün. Die Luft schwirrte und war schwer vom Duft des Kräutergartens, dem Stolz des Klosterspitals.

»Ich kann es nicht ertragen«, sagte Pierre, »ich kann es einfach nicht.«

»Ich habe dich gewarnt, aber sieh es wie eine Krankheit. Die meisten lassen es einfach über sich ergehen«, antwortete Armand pragmatisch.

»Wenn du dich weigerst, Bruder Hieronymus entgegenzukommen, wird er dir das Leben zur Hölle machen. Sei mir nicht böse, wenn ich so deutlich bin, aber gerade du als Waise hast keine andere Wahl. Du brauchst die Empfehlung des Abtes oder du wirst als einfacher Priester in einer kleinen Pfarrkirche ohne Einkommen enden, abhängig von den Almosen der Bauern und Leibeigenen, die nicht einmal genug Geld haben, um dich für eine anständige Beerdigung zu bezahlen.«

Armand hatte in einen Apfel gebissen, während er sprach. Pierres Sorgen schienen seinen gesunden Appetit nicht zu stören. Pierre fragte sich, woher er um diese Jahreszeit den Apfel organisiert hatte. Die Apfelernte würde erst im Herbst beginnen, also musste er dieses kostbare Gut aus der Küche geschmuggelt haben, wo sie einen geheimen Vorrat an Delikatessen aufbewahrten. Aber Armand hatte schon immer seine geheimen Quellen gehabt.

Sein Freund war ein praktisch denkender Mensch. Warum sich also die Mühe machen, sich zu wehren, wenn es doch keine Alternative gab? Für ihn war die Vorstellung, ein armer Pfarrer zu werden, offensichtlich entsetzlicher, als die Annäherungsversuche ihres Lehrers zu akzeptieren.

»Ich weiß ja, dass du recht hast«, seufzte Pierre, »es ist nur einfach so ekelhaft.«

»Alles hier ist so«, sagte Armand und zuckte mit den Schultern. »Unsere Lehrer predigen Vergebung und Liebe für die armen Seelen, aber alles, was sie wollen, ist ihr Geld, Zaster, Moneten – nenn es wie du willst. Dafür sind sie zu allem bereit – wenn es um Gold geht, drehen sie komplett durch. Wir alle kennen die Wahrheit, aber niemand hier würde es wagen, die Wahrheit zu erwähnen, sonst würden wir als Ketzer oder Verräter enden.«

Er bot Pierre großzügig ein Stück seines Apfels an und zielte mit den Überresten dann elegant auf einen Vogel, der so unvorsichtig gewesen war, sich auf einem Ast in ihrer Nähe niederzulassen.

***

Da Armand wusste, dass Pierre mit seinem Schicksal haderte, wechselte er geschickt das Thema, um Pierre abzulenken.

»Man sagt in Paris, dass der Gesundheitszustand des Kardinals immer heikler wird, hoffentlich kratzt die alte Krähe bald ab.«

Pierre wusste, dass unter dem alten Adel, zu dem Armands Familie gehörte, über die Zukunft nach Richelieu heiß debattiert wurde. Alle adligen Familien hofften, ihren früheren Einfluss wiederzuerlangen, sobald sich der eiserne Griff Richelieus lockerte.

Denn es war der Kardinal Richelieu gewesen, der nicht nur den Widerstand der berüchtigten ketzerischen Hugenotten gnadenlos unterdrückt hatte, sondern auch die alten Familien der Condé, Guise und Rohan zu Fall gebracht hatte. Für diese Familien war die Politik über Generationen ein spannendes und äußerst lukratives Schachspiel gewesen. Aber dem Kardinal war es Jahr für Jahr gelungen, die Rolle des Königs zu stärken und damit die mächtigen Familien kaltzustellen.

Pierre liebte diese Gespräche. Dies ist das echte, spannende Leben, dachte er, riskant und aufregend. Leider war dieses weit von seiner eigenen tristen Realität und einer noch langweiligeren Zukunft entfernt. Diese fremde Welt war ebenso exklusiv wie gefährlich und doch so verlockend: Ihre Mitglieder waren eng miteinander verwandt und dennoch jederzeit bereit, Verrat und Mord im Spiel um die Macht zu begehen.

Insgeheim musste Pierre Kardinal Richelieu bewundern. Er war der Mann, der Frankreich gerettet hatte, nachdem die Witwe des letzten Königs das Land mit ihren Günstlingen fast ruiniert hatte. Jetzt war Frankreich wieder ein stolzes Land, das stärkste und reichste Königreich der Welt, und niemand wagte es, seine Macht herauszufordern!

Armand hasste den Kardinal, aber sie hatten sich nie ernsthaft deshalb gestritten. Pierre war sogar überzeugt, dass Armand insgeheim seine Einschätzung teilte, dass der Kardinal Richelieu eine Klasse für sich sei – und selbst wenn man ihn hasste, man musste ihn bewundern.

Der Waisenjunge und der Kardinal

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