Читать книгу Der Waisenjunge und der Kardinal - Michael Stolle - Страница 7

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Eine List

Armand hatte weiterhin geschwiegen und sich hartnäckig geweigert, seinen Plan zu erläutern oder auch nur den kleinsten Hinweis zu geben, obwohl Pierre verzweifelt versuchte, ihn zum Reden zu bringen. Er antwortete lediglich mit einem breiten Grinsen, das nur noch dazu beitrug, Pierres Neugierde anzufachen. Er trug Pierre nur auf, am Sonntag auf jeden Fall in seiner Nähe zu bleiben, wenn sie den Gottesdienst in der großen Kathedrale von Reims besuchen würden.

Die Klosterschüler liebten diese seltenen Gelegenheiten, endlich einmal die Enge der Klosterschule zu verlassen. In den Straßen der Stadt gab es immer etwas Spannendes zu sehen, einer von ihnen hatte sogar einem besonderen Höhepunkt beiwohnen dürfen, einer schaurig spannenden Hinrichtung, die danach sorgsam ausgeschmückt noch wochenlang den Klatsch und die Fantasien der Schüler beflügelte.

Die Schüler waren eigentlich verpflichtet, nach dem Gottesdienst die Kathedrale zu verlassen und sofort ins Kloster zurückzukehren, aber da selbst ihre Lehrer es vorzogen, auf den Straßen zu verweilen, gab es zwischen den älteren Schülern und der Mehrheit der Lehrer eine stillschweigende Übereinkunft, dass niemand unangenehme Fragen stellen würde, solange alle zur Compline in der Kapelle wieder anwesend waren.

Der Besuch der Kathedrale bedeutete also eine kostbare Gelegenheit, einen der seltenen freien Sonntagnachmittage zu genießen. Sie mussten es nur schaffen, sich der Aufsicht der Eiferer unter den Lehrern zu entziehen, die sich selbst an einem Feiertag verpflichtet fühlten, die Schüler unmittelbar nach dem Gottesdienst wieder ins Kloster zurückzutreiben.

Als sie die gotische Kathedrale mit ihren massiven Türmen betraten, konnte Pierre einen Schauer der Ehrfurcht nicht unterdrücken, denn die Kathedrale mit ihren endlos hohen Säulen und dem riesigen Gewölbe überwältigte ihn jedes Mal aufs Neue. Das Gewölbe war so hoch, dass es den Himmel berühren musste und Pierre konnte sich kein größeres und schöneres Gebäude auf der ganzen Welt vorstellen.

Die Kathedrale war nicht nur ein Symbol für die Macht und Stärke Frankreichs, sondern auch der katholischen Kirche. Alt und ehrwürdig, überragte sie die Menschheit und verkündete seit Jahrhunderten die Macht der Kirche Gottes auf Erden.

Pierres Blick bewegte sich zu den herrlichen Fenstern, die in der Sonne wie kostbare Edelsteine glitzerten, ein atemberaubend schönes Kaleidoskop von Formen und Farben verschmolz mit dem Glanz des Goldes zu einer erhabenen Einheit. Das Gold war überall im Überfluss zu sehen, denn die Herrlichkeit des Himmels war hier auf die Erde gekommen.

Die heilige Messe begann mit dem Chorgesang. Pierre liebte die feierliche Musik, jetzt aber war er froh, dass er nach dem Stimmbruch den Chor hatte verlassen müssen, denn so konnte er sich mit Armand frühzeitig aus dem Gottesdienst schleichen. Sie hatten verabredet, sich unauffällig in den hinteren Reihen zu halten, und würden die Kathedrale eine gute Viertelstunde vor Ende der Messe verlassen, allerdings getrennt und durch verschiedene Ausgänge.

Pierre war schrecklich aufgeregt: Sein Freund hatte bis zuletzt geheimnisvoll getan und er hoffte, heute endlich herauszufinden, worum es bei diesem geheimnisvollen Plan ging. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber der Gottesdienst schien sich diesmal schier endlos in die Länge zu ziehen. Als Pierre schließlich entschied, dass endlich der Zeitpunkt gekommen sei, die Kathedrale zu verlassen, war er überzeugt, dass jede weitere Minute des Wartens ihn umgebracht hätte.

In seinen Albträumen hatte er sich vorgestellt, beim Verlassen der Kirche auf einen seiner Lehrer zu stoßen, aber alles lief glatt. Er duckte sich etwas und schlängelte sich dann durch die dicht gedrängten Menschenmassen, die Kapuze seiner Sonntagskutte tief ins Gesicht gezogen. Er war froh, dass alle Schüler die gleiche Kleidung trugen, sodass es unmöglich sein würde, ihn zu erkennen.

Pierre bemerkte allerdings nicht, dass Bruder Hieronymus ihm folgte. Sein Lehrer hatte Pierre während des Gottesdienstes nicht aus den Augen gelassen und sich dabei lebhaft vorgestellt, wie die nächste Privatstunde mit dem blonden Jüngling ablaufen würde …

Als Pierre die Dunkelheit der Kathedrale verließ, musste er mehrmals blinzeln, da die Sonne ihn mit aller Macht blendete. Schnell wandte er sich nach links, so wie Armand es ihm aufgetragen hatte und verschwand sofort in einer der kleineren Straßen in Richtung der Kirche St. Rémy, wo er Armand treffen sollte. Diese kleinere Kirche lag auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt, nicht weit von der Stadtmauer entfernt.

Pierre eilte durch die engen Gassen von Reims, immer bemüht, Zusammenstöße mit den zahlreichen Hausierern, Bettlern und wohlgenährten Städtern und ihren stattlichen Frauen zu vermeiden, die sich in den Straßen drängten. Eine gut gelaunte Menge bestaunte die Marktstände, wo Produkte aus den umliegenden Bauernhöfen, aber auch alle möglichen und wunderlichen Waren wie Seide, Wolle, Leinen und Spezereien aus dem benachbarten Flandern, Venedig oder sogar dem sagenumwobenen Orient feilgeboten wurden.

Er erreichte die Kirche St. Rémy außer Atem und war enttäuscht zu sehen, dass Armand noch nicht eingetroffen war. Jetzt, wo sich seine Aufregung etwas gelegt hatte, merkte er, wie hungrig er war, da es in der Schule nur etwas Brei zum Frühstück gegeben hatte. Aber da Pierre kein Geld hatte, musste er seinen Hunger und den verführerischen Geruch warmen Brotes ignorieren und sich auf die wichtige Frage konzentrieren, was Armand wohl im Schilde führte.

Die Zeit verging. Pierre hatte beschlossen, sich hinter einer Säule am Eingang der Kirche zu verstecken, und stand dort mit knurrendem Magen, während er die Menschen beobachtete, die an der Kirche St. Rémy vorbeischlenderten. Endlich sah er, wie sein Freund sich in gemächlichem Tempo näherte, an seinem Arm führte er elegant eine junge Dame.

Er kennt wahrhaft keine Eile, dachte Pierre grimmig.

Er musterte die junge Dame und war sofort beeindruckt von der verschwenderischen Eleganz ihrer Kleidung. Sie trug dazu einen kostbaren, mit teurer Spitze verzierten Schal. Die stolze Art, wie sie ihren Kopf hielt und die Tatsache, dass sie einen züchtigen Schleier trug, sagte ihm und der Welt, dass sie eine junge Dame aus einer adligen Familie war.

Eine Magd folgte ihr in kurzem Abstand. Meine Güte, ist das ein Dienstmädchen oder eher ein Drache?, dachte Pierre.

In der Tat war das Dienstmädchen beeindruckend. Die Magd war so groß und so dick, wie das Mädchen, das sie als Anstandsdame begleiten sollte, zierlich und dünn war. Sie schaute griesgrämig drein, es war offensichtlich, dass es ihr nicht gefiel, ihre junge Herrin zu begleiten.

Armand sah sich um, suchte nach seinem Freund und sobald er Pierre ausfindig gemacht hatte, winkte er ihm lässig zu.

Pierre lief zu der kleinen Gruppe und nahm die Kapuze seiner Kutte ab, um die junge Dame korrekt begrüßen zu können, dann erst schaute er sie an. Nichts hatte ihn auf diese Begegnung vorbereitet. Sie blickte ihn an mit strahlenden Augen, funkelnd in den Farben kostbaren Bernsteins und ihr Gesicht war umkränzt von glänzendem, kastanienbraunen Haar, das allerdings größtenteils züchtig bedeckt war.

Pierre erstarrte sprachlos. Die junge Dame erkannte seine Verwirrung, lüftete ihren Schleier und lächelte ihn an. Ihr Gesicht war bezaubernd, Pierre hatte noch nie in seinem Leben ein so schönes Mädchen gesehen.

»Darf ich vorstellen: meine Cousine Marie und ihr Dienstmädchen Anne«, sagte Armand hilfsbereit. Er hatte erwartet, dass Pierre verblüfft sein würde, aber seine Reaktion übertraf seine Erwartungen und er musste insgeheim grinsen. Diese Überraschung war ihm gut gelungen.

Weder bewegte sich Pierre, noch konnte er sprechen. Nicht, dass er nicht gewollt hätte – aber er war knallrot angelaufen und irgendein furchtbarer Fluch musste seine Zunge in einen Knoten verwandelt haben, da er es nicht schaffte, auch nur ein einziges Wort auszusprechen. Er wollte vor Scham versinken, denn er war sich bewusst, dass er nicht nur wie ein Tölpel aussah, sondern auch so wirken musste.

Marie schwelgte in Entzücken über das, was sie zu Recht als Pierres schrankenlose Bewunderung empfand und begann amüsiert zu kichern.

»Hmm«, sprang Armand ein, »ich vergesse immer, dass unsere Ausbildung im Kloster lückenhaft ist und dass es nicht zu unserem Unterrichtsstoff gehört, junge Damen korrekt zu begrüßen, also zeige ich dir einmal, wie es geht.«

Spöttisch verbeugte er sich tief vor Marie, nahm drei Finger ihrer schlanken Hand und tat so, als würde er sie küssen.

Mit einem breiten Grinsen fuhr er fort, sich selbst verspottend.« Darf ich mich vorstellen, meine schöne Dame? Ich bin Armand de Saint Paul, der sechste Spross und jüngste Sohn des Marquis de Saint Paul, also keinerlei Hoffnung auf Geld oder Titel, aber ganz zu Ihren Diensten!«

Marie folgte seinem Beispiel, versank in einen tiefen Knicks und murmelte züchtig: »Ich fühle mich so sehr verpflichtet, mein lieber Herr, ich bin Marie de Montjoie, die einzige, aber sehr respektable Tochter des Barons de Montjoie, treue Untertanin unseres großen Königs Louis XIII, ebenfalls zu Ihren Diensten.«

Zuerst hatte Pierre Armand verblüfft zugesehen, aber dann musste er lachen, denn ihre kleine Darbietung hatte das Eis gebrochen.

Auch er verbeugte sich nun feierlich und schaffte es zu sagen:

»Darf ich mich auch vorstellen? Ich bin Pierre von Waisenhausen zu Ohnegeld. Leider habe ich weder Geld noch einen Titel, ich besitze nicht einmal meine eigenen Stiefel, aber ich stehe ganz und gar, stets und für immer zu Ihren Diensten!« Dabei schaffte er es, Marie tief in die Augen zu blicken. Nun musste sie erröten.

Dann brachen Armand und Marie in Gelächter aus, und sofort fühlten sie sich, als wären sie schon immer gute Freunde gewesen.

Marie blickte Pierre an und mochte, was sie sah. Pierre war vor Kurzem zu voller Größe herangewachsen. Er hatte einen schlanken, muskulösen Körper und ein markantes Gesicht. Selbst mit dem hässlichen Haarschnitt der Klosterschule sah er mit seinen blauen Augen, seiner leicht gebogenen Nase und seinen regelmäßigen Zügen äußerst attraktiv aus. Dazu kam ein wunderschönes, geradezu umwerfendes Lächeln, mit dem er Marie jetzt anstrahlte.

Es wäre schwierig, zwischen beiden zu wählen, sinnierte Marie. So unterschiedlich und eigentlich sind beide fast sogar ein bisschen zu attraktiv. Meine Mutter hat mich immer davor gewarnt, dass gut aussehende Männer schlechte Ehemänner abgeben, aber das bedeutet nicht, dass ich mich jetzt nicht ein bisschen amüsieren könnte. Sie beschloss also, ihr kleines Abenteuer gründlich zu genießen.

Marie warf ihrem Dienstmädchen einen entschuldigenden Blick zu und lächelte sie freundlich an. Sie wusste, dass Anne nur an diesem Ausflug teilgenommen hatte, nachdem Marie ihr versprochen hatte, sich untadelig zu benehmen. Der Ruf eines Mädchens in kleinen Städten wie Reims war schnell ruiniert, und da ihr Dienstmädchen früher ihre Amme gewesen war, wusste Marie, dass sie sie wie ihr eigenes Kind liebte.

***

Bruder Hieronymus beobachtete die drei Jugendlichen und rieb sich freudig die Hände. Das unerlaubte Verlassen der Kathedrale vor dem Ende des Gottesdienstes, das unerlaubte Herumlaufen in der Stadt und nicht zuletzt die Begegnung und das Gespräch mit einer jungen Dame würde schwere Strafen nach sich ziehen, wenn er diese Verfehlungen dem Abt meldete. Dieser Armand würde leider nur eine leichte Strafe erhalten, da es selbst ein Abt nicht wagen würde, den jüngsten Sohn eines mächtigen Marquis zu verärgern, aber für Pierre würde das volle Maß der Strafen entsprechend der Schulregeln gelten.

Sein Puls ging schneller, als er sich das Treffen mit dem verzweifelten Schüler in der Büßerzelle des Klosters vorstellte. Bruder Hieronymus schloss die Augen und ließ seiner Fantasie freien Lauf: Er sah vor sich, wie er sich langsam dem Jungen näherte der, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, um seine Hilfe bettelte. Verzweifelt würde er alles versuchen, um ihm zu gefallen, um endlich etwas zu essen zu bekommen und zu seiner Klasse und seinen Freunden zurückzukehren zu dürfen.

Bruder Hieronymus genoss diesen Traum, bald schon würde er Wirklichkeit. Aber als er seine Augen wieder öffnete, waren die drei schon verschwunden.

Er fluchte laut, bekreuzigte sich aber schnell, um für diese Verfehlung Abbitte zu leisten, und beschloss dann widerstrebend, weiterzuziehen. Der Abt hatte ihn beauftragt, eine ganze Woche nach Pfingsten auf einem Gut des Klosters außerhalb von Reims zu verbringen, um eine gründliche Bestandsaufnahme des dortigen Viehbestands und der Weinfässer zu machen, die dort lagerten. Die Inventur der Weinvorräte war beliebt unter den Mönchen, aber eine Reise außerhalb der Stadtmauern war immer riskant – auch für Geistliche – und er musste sich beeilen, wenn er bei Tageslicht und wohlbehalten ankommen wollte.

Bruder Hieronymus wäre überrascht gewesen, wenn er gesehen hätte, dass die drei neuen Freunde direkt ins Kloster zurückkehrten, gefolgt von Maries Dienstmädchen, die sauertöpfisch blickend hinter ihnen herlief. Pierre fühlte sich noch immer wie beschwingt, ängstlich, dass er aufwachen und feststellen könnte, dass dieses Treffen nur ein Traum gewesen war.

»Warum gehen wir geradewegs ins Kloster zurück«, fragte Pierre schmollend, denn er hasste die Vorstellung, sich so schnell von Marie verabschieden zu müssen.

»Maries Mutter ist der Meinung, dass auch ein Mädchen eine gute Ausbildung haben sollte. Sie kann lesen und schreiben und kennt die antiken Autoren, also schlug ich vor, dass ein Besuch an unserer Schule ein passender Abschluss ihrer Ausbildung sein könnte«, antwortete Armand spöttisch, während er Marie zuzwinkerte. Pierre konnte ihre Reaktion leider nicht sehen, da sie wieder ihren Schleier trug – aber rein zufällig – bedeckte er nicht mehr ganz das Mieder, das ihr schönes Dekolleté einrahmte.

»Warum solltest du dich für die Ausbildung von Marie interessieren?«, zischte er seinem Freund eifersüchtig zu.

»Nun, weil sie zufällig eine meiner zahlreichen Cousinen ist«, antwortete Armand geschmeidig. »Ihre Mutter ist eine meiner Großtanten, also tue ich nur meine Pflicht. Du solltest stolz auf deinen Freund sein.«

Pierre hatte das untrügliche Gefühl, dass Armand ihn auf den Arm nahm, aber da Marie sie beobachtete, beschloss er, Armand mit dem Ellbogen in die Seite zu stupsen, anstatt passend, aber unhöflich zu antworten.

Armand beschloss, an einem der Marktstände köstlich duftendes Gebäck zu kaufen, anschließend machten sie noch eine Pause auf dem Stadtplatz, wo sie sich eine der lecker gewürzten Fleischpasteten teilten und einer Truppe von Jongleuren bei der Vorführung ihrer Kunst zuschauten. »Pass besser auf deine Sachen auf!«, warnte Armand seine Cousine mit leiser Stimme, als ein in Lumpen gekleideter Junge von sechs oder sieben Jahren sich ihnen näherte, um sie ehrerbietig um ein paar Münzen zu bitten, nachdem sie den Jongleuren applaudiert hatten.

Armand ergriff die Hand des Jungen, drückte sie auf und zu ihrer großen Überraschung fiel Maries seidenes Retikül auf die Straße. Der Junge nutze die Überraschung, um wegzurennen, während eine erschrockene Marie und ihr Dienstmädchen sich überschwänglich bei Armand bedankten.

»Er sah so lieb und unschuldig aus«, Marie war konsterniert.

»Ihre Meister wählen sie sorgfältig aus. Die nett Aussehenden werden die Diebe, die Verstümmelten müssen betteln«, erklärte Armand.

Pierre war verstimmt. Armand schien immer alles zu wissen und war ein Mann von Welt – wo doch Pierre am liebsten alles erklärt hätte, um Marie zu beeindrucken.

Sie näherten sich nun der Klosterschule, und Pierre war enttäuscht, dass sie so schnell zurückgekehrt waren, denn er hatte jede kostbare Sekunde dieses Tages genossen. Traurig bereitete er sich auf den Abschied vor und war eifrig damit beschäftigt, über eine besonders geistreiche oder lustige Bemerkung nachzudenken, mit der er Marie beeindrucken wollte.

Folglich bemerkte er erst sehr spät, dass sie bereits das Torgebäude des Klosters betreten hatten, und war buchstäblich sprachlos, als Armand den Pförtner bat, Bruder Archivarius um die Ehre eines Treffens mit der jungen Dame und ihrer Anstandsdame zu bitten.

Dem Pförtner missfiel der Gedanke, eine junge Dame in sein Kloster einzulassen, offensichtlich. Aber er sah, dass sie nicht nur reich gekleidet war, sondern auch einen züchtigen Schleier trug und von einem beeindruckend aussehenden Dienstmädchen begleitet wurde.

Es war allgemein bekannt, dass Armands Familie zur höchsten Aristokratie Frankreichs gehörte und dass es vermutlich seine Bestimmung war, Bischof in einer der Diözesen der Familie Saint-Paul zu werden, sobald er die Schule verließ. Daher entschied sich der Pförtner, dass er keinen Ärger mit dem Abt oder sogar mit höheren Autoritäten riskieren wollte, indem er ein Mitglied der Saint-Paul-Familie verärgerte. Er seufzte tief, um seinen Unmut kundzutun, aber er willigte ein, die ungewöhnliche Bitte vorzutragen.

Sie mussten eine beträchtliche Zeit warten, bis Bruder Archivarius auftauchte. Als der Pförtner die Bitte solch erhabener Besucher ankündigte, hatte der Archivarius zunächst vermutet, dass es sich um einen Irrtum handelte. Ging es nicht eher um Besucher für den Abt persönlich?

Doch der Pförtner bestand darauf, dass er die Botschaft richtig verstanden habe: »Die Damen möchten Sie persönlich treffen, mon père.«

Von Natur aus war Bruder Archivarius ein ordentlicher Mann und sein Geist arbeitete eher langsam. Er ging also zur Unterkunft des Abtes, um sich beraten zu lassen. Er wurde aber von einem hochmütigen Mönch informiert, dass der Abt zu Pfingsten mit dem Erzbischof speisen und danach wahrscheinlich bis zum Abendessen in seinen Gemächern verbleiben würde.

Widerstrebend kehrte Bruder Archivarius zurück und kam zu dem Schluss, dass er keine andere Wahl hatte, als seine Besucher allein zu treffen. Sein Instinkt riet ihm davon ab, eine Dame von Rang und den Sohn des Marquis de Saint Paul zu verärgern.

Er traf seine Besucher also in einem Zustand inneren Aufruhrs und wusste nicht wirklich, was er sagen oder tun sollte.

Armand verbeugte sich höflich und begrüßte Bruder Archivarius förmlich.

»Darf ich Ihnen eine Cousine von mir vorstellen: die Jungfer Elisabeth de Mezières und ihre Anstandsdame.« Armand stellte Marie vor und warnte Pierre mit einem kurzen Tritt, den Mund zu halten. Pierres Augen wurden so groß wie Untertassen, er hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging. Warum hatte Armand seine Cousine unter einem falschen Namen vorgestellt?

»Wir diskutierten zufällig in unserer Familie Angelegenheiten der Verwaltung, und die junge Dame hier wollte mir nicht glauben, dass Sie, mon père, ein System entwickelt haben, um die umfangreichen Archive dieses Klosters in perfekter Ordnung zu halten. Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns Ihre Archive zu zeigen, um die reizende Dame davon zu überzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt habe? Wir verstehen, dass dies viel Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen würde, aber wir wüssten es wirklich zu schätzen, wenn Sie uns diesen Gefallen tun könnten! Ich bin nämlich sehr stolz auf unser Kloster.«

Bruder Archivarius war geschmeichelt. Es war schon immer sein Stolz gewesen zu wissen, dass seine Archive bestens geführt waren, aber sich vorzustellen, dass er zum Gesprächsthema in adligen Kreisen geworden war, erfüllte ihn mit Genugtuung.

Er lief rot an und verhaspelte sich vor Scham: »Nicht nötig … zu viel der Ehre … zu Ihren Diensten … gerne zu Diensten …«

In seiner Verwirrung rutschte ihm der große Schlüsselring, an dem seine Schlüssel baumelten aus der Hand und landete mit lautem Scheppern auf den Fliesen.

Marie war froh, dass sie noch immer ihren Schleier trug und ihre Belustigung verbergen konnte. Sie beschloss, dass es nun an der Zeit war, den nächsten Schritt zu tun. Bescheiden trippelte sie vorwärts, sorgte aber dafür, dass der arme Bruder Archivarius einen hervorragenden Blick auf ihren tiefen Ausschnitt werfen konnte, was seine Verwirrung noch einmal erheblich verstärkte.

»Es muss eine so große Verantwortung sein, an diesem Ort zu arbeiten«, hauchte Marie, ihre angenehme Stimme voll der Bewunderung. »Ich würde mich hier sicherlich verirren«, fügte sie hinzu, »aber wir armen Frauen sind für solche Aufgaben hoher Intelligenz und komplizierter Organisation von der Natur her nicht geschaffen.«

Bruder Archivarius fing an, sich mehr und mehr für die bescheidene, junge Dame zu erwärmen. Niemand vor ihr hatte je so klar die wahre Bedeutung seiner Arbeit erkannt. Überraschenderweise begriff die junge Dame sofort die Qualität und die große Verantwortung seiner Arbeit. Nun, wo er sich wieder auf sicherem Boden fühlte, begann er, die verschiedenen Abschnitte seines Archivs zu erklären.

Als Marie ihn um Erlaubnis bat, ihren Schleier abzunehmen, und ihm erklärte, dass sie sich hier auf dem heiligen Gelände der Abtei und in seiner beruhigenden Gesellschaft sicher fühle, konnte er nur zustimmen und war noch mehr angetan, als er ihr schönes Gesicht mit den großen, bewundernden Augen auf sich gerichtet sah. Die nutzlosen Klosterschüler, die sie mitgebracht hatten, waren vergessen.

»Ich kann mir vorstellen, dass man also sehr leicht Dokumente über wichtige oder bekannte Personen wie Seine Eminenz, den Abt oder vielleicht sogar ein Mitglied der Familie Saint Paul finden könnte«, sie machte eine Geste in Richtung Armand, der einen Schritt hinter der kleinen Gruppe geblieben war. »Aber ich bezweifle, Sie könnten sofort eine Aufzeichnung von einem Vorgang oder einer Person finden, die weniger wichtig ist …« Sie zögerte und schien darüber nachzudenken, wie sie ein Vorbild finden könnte. Dann richtete sie ihren Blick auf Pierre und sagte: »Wie dieser Junge dort, leider muss ich zugeben, dass ich seinen Namen vergessen habe …«

Pierre blickte verblüfft, aber sein Herz sank – welches Spiel spielte sie?

Bruder Archivarius lachte und sagte: »Das ist Pierre, ein Waisenkind. Er lebt hier schon seit mehr als zehn Jahren. Dies ist eine wirklich einfache Aufgabe. Sehen Sie diese Kisten? Die sind für die Dokumente der Schüler des Klosters reserviert. Jede Truhe enthält die Dokumente der Schülerinnen und Schüler, die im Laufe eines bestimmten Jahrzehnts eintreten. Ich müsste also die Truhe mit Dokumenten ab dem Jahr 1620 öffnen, dort sind alle Unterlagen in alphabetischer Reihenfolge in den Kisten abgelegt. In seinem Fall würde ich allerdings ausnahmsweise seinen Vornamen verwenden.«

Maries strahlende Augen waren auf den Archivar gerichtet, der unter ihrer Verehrung zu wachsen schien.

»Das könnten Sie jetzt sofort tun, ohne stundenlang in Ihren großen Folianten zu suchen? Ich kann das nicht glauben«, hauchte sie. »Oh, öffnen Sie bitte diese Truhe für mich, ich würde so gerne nach Hause gehen und unserem Verwalter erzählen können, was er von Ihnen lernen könnte und dass ich das sogar mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Wie beeindruckend!«

Bruder Archivarius bewegte sich vorwärts wie eine Marionette, überglücklich zeigen zu können, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Er öffnete die schwere Truhe mit einem der Schlüssel aus dem riesigen Schlüsselbund und nachdem er den schweren Deckel knarrend geöffnet hatte, wies er auf die verschiedenen Holzkisten im Inneren hin, die jeweils die Dokumente für die Schüler enthielten. Er wolle sich nicht brüsten, aber die Idee, die Dokumente in getrennten Kisten abzulegen, sei allein seine Idee gewesen und hätte sich schon mehrmals bewährt.

Kaum hatte er auf die Stelle in der Truhe hingewiesen, in der sich auch Pierres Unterlagen befinden sollte, durchbrach ein durchdringender Schrei die Stille des Archivraums. Marie hatte hysterisch zu schreien begonnen, zuerst den Arm des Archivars gepackt und sich dann in die Arme ihres Dienstmädchens geflüchtet. »Eine Maus«, schluchzte sie, »ich habe eine Maus gesehen!«

Bruder Archivarius war alarmiert. In seinem Leben sah er sich ständig mit zwei großen Herausforderungen konfrontiert: der Unwissenheit und Unordnung seiner faulen Assistenten und allen Arten von Ungeziefer, das seine wertvollen Papiere und Pergamentrollen zerstören wollte.

»Wo?«, rief er, bereit zur Jagd. »Zeigt mir bitte, wo habt Ihr sie gesehen?«

Marie zeigte mit schwankendem Finger auf eine Ecke, wo eine Tür in einen anderen Bereich führte, in dem sich wertvolle Gebetbücher aus Pergament befanden. Bruder Archivarius griff nach einem Besen, der in einer Ecke stand, und rannte mit überraschender Gewandtheit zur Tür und verschwand im Nebenraum.

Pierre versuchte atemlos, die Maus zu entdecken, als er bemerkte, dass sein Freund in aller Ruhe die Kiste mit seinen persönlichen Unterlagen aus der Truhe holte, sie öffnete und dann den Inhalt unter seiner gesteppten Weste versteckte. Im Handumdrehen war die Schachtel wieder geschlossen und an ihrem Platz, dann stürmte Armand auf die Tür zu und rief: »Ich habe sie gesehen, ich werde sie jetzt töten«, wobei er mit einem Stock auf den Steinboden knallte und einen schrecklichen Lärm verursachte.

Bruder Archivarius kam gerade noch rechtzeitig zurück, um zu sehen, wie Armand die Überreste einer Maus in Stücke hackte.

Der Archivar dankte Armand ausgiebig, aber Marie bestand darauf, nach Hause zurückkehren zu dürfen. Dieses Abenteuer war zu viel für das zarte Gemüt einer jungen Dame. Sie dankte Armand nur kurz, aber danach ignorierte sie die beiden Jungen wieder, dankte aber dem Archivar überschwänglich für seine kostbare Zeit und lobte seine ausgezeichneten organisatorischen Fähigkeiten.

Sie trennten sich in bester Laune an der Klosterpforte. Die junge Dame und ihr Dienstmädchen kehrten zurück und die beiden Jungen blieben im Kloster – dort wo sie eigentlich den ganzen Tag nach der heiligen Messe hätten verbringen sollen.

Armand und Pierre liefen zu ihrem bevorzugten Versteck, wo Armand die Dokumente, die er gerade aus dem Archiv gestohlen hatte, aus seiner Weste nahm. Pierre war immer noch sprachlos, ihm war nun klar, dass sein Freund diese kleine Szene von Anfang an geplant hatte. Er konnte ihn nur bewundern.

Und Marie, auch sie hatte von Anfang an gewusst, worum es ging. Was für eine unglaubliche Rolle sie gespielt hatte!

Armand las sich schnell durch die Dokumente und war zum ersten Mal wirklich froh, dass das Kloster ihm das Lesen und Schreiben von juristischen Texten eingebläut hatte. Pierre war wie gelähmt vor Angst – würden die Unterlagen bestätigen, dass er ein Findelkind oder Schlimmeres war, der Sohn einer Prostituierten – oder eines Sträflings?

Er wagte zuerst nicht, Armand in die Augen zu schauen, er wollte dort nicht die Verachtung lesen, die er unweigerlich dort sehen musste, sobald Armand die Wahrheit erkannt hatte.

Armand ließ das Bündel auf seinen Schoss sinken und sah Pierre verwirrt an.

Pierre wurde sofort klar, die Wahrheit musste weitaus schlimmer sein, als er sie sich in seinen schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können.

Der Waisenjunge und der Kardinal

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