Читать книгу Der Waisenjunge und der Kardinal - Michael Stolle - Страница 11

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Pierre entdeckt den Himmel

Alles schmerzte: Jeder einzelne Knochen in seinem Rücken meldete sich und was noch schlimmer war, irgendjemand hatte in seinem Kopf eine Schmiede eingerichtet und hämmerte unerbittlich darin herum. Pierre war sich sicher, dass sein Kopf den Umfang einer Wassermelone angenommen haben musste.

Er öffnete die Augen und seine Schmerzen waren für einen Augenblick vergessen. Er sah eine Vision vor sich: das Mädchen, das er vor Ewigkeiten gesehen hatte, damals, vor der Kirche zusammen mit seinem Freund Armand. Er hatte schon damals in ihren schönen Augen versinken wollen. Nun saß sie neben ihm, tupfte seinen Kopf mit einem kühlen Schwamm ab, während ihr schönes langes Haar seine Haut kitzelte. Wenn ich tot bin und dies der Himmel ist, es hätte schlimmer kommen können, entschied Pierre glückselig.

Sobald er aber wieder ein paar logische Gedanken fassen konnte, kam er widerwillig zu dem Schluss, dass es nicht möglich war, tot und im Himmel zu sein, wenn sein Kopf und sein Rücken immer noch höllisch wehtaten. Aber dieses Rätsel war viel zu kompliziert, um es lösen zu können, und er fiel wieder in einen tiefen Schlaf.

»Er ist auf dem Weg der Besserung«, sagte Marie mit erleichterter Stimme. Sie sah Armand vorwurfsvoll an. »Musstest du wirklich so hart zuschlagen?«

Armand sah sie schuldbewusst an, verteidigte sich aber heftig. »Du weißt doch, dass die einzige Chance, ihn aus Reims herauszuholen, darin bestand, ihn von Kopf bis Fuß in Leinentuch zu wickeln und vorzugeben, er sei tot. Also musste er völlig still liegen, halt wie eine Leiche so liegt.«

Armand erinnerte sich noch lebhaft an die Szene, die sein Herz fast zum Stillstand gebracht hatte, als die Wachen begannen, den Wagen zu durchsuchen.

»Es war eine brillante Idee von dir, Marie, etwas Blut und Eiter auf die Verbände zu schmieren. Die Wachen gerieten in Panik und winkten uns im Nu durch.« Armand kicherte, als er sich an dieses Abenteuer erinnerte.

»Ich saß als Mönch verkleidet daneben«, fuhr Armand fort, »auf dem Weg zur Beerdigung der armen Leiche. Ich ließ dann noch die Bemerkung fallen, dass ich doch sehr hoffte, dass der Verstorbene nicht der Pest zum Opfer gefallen sei, auch wenn es zugegebenermaßen ein bisschen danach aussah. Die Wachen flohen wie die Kaninchen und winkten uns durch. Es war so lustig!«, er keuchte vor Lachen.

Sie saßen in einer kleinen Kammer in der Dienstbotenetage unter dem Dach auf einem Landgut im Norden der Champagne, einen guten Tagesritt von der Stadt Reims entfernt. Es war ein Anwesen, das Maries Mutter gehörte.

Offiziell kümmerten sie sich um einen Diener von Armand, der leider auf der Reise mit Armand krank geworden war.

Armand und Marie hatten darauf bestanden, sich persönlich um diesen Diener zu kümmern, solange nicht auszuschließen war, ob dessen Krankheit nicht doch eventuell ansteckend war. Auch wenn sich die anderen Dienstboten über so viel Einsatz der jungen Herrschaft für einen einfachen Kammerdiener wunderten, wussten sie aus Erfahrung, dass ihre Herren oft seltsame Grillen hatten, und waren erst einmal erleichtert, dass man sie nicht zur Pflege abgestellt hatte.

Maries Mutter war allerdings sehr misstrauisch gewesen, als Marie ihr wortreich erklärt hatte, dass sie zwei Wochen in dem abgelegenen Herrenhaus verbringen wollte, weil sie das heiße Wetter in der Stadt nicht mehr ertrug. Als sie dann noch plötzlich auf die Idee kam, Armand einzuladen, um sie zu begleiten, war ihre Mutter doch sehr erstaunt.

Als Mitglied der reichen Familie Saint Paul, war Armand natürlich ein potenzieller Kandidat für eine standesgemäße Ehe und die meisten Mütter hätten sich vermutlich gefreut, diese einmalige Gelegenheit für das Verkuppeln ihrer Tochter zu nutzen. Aber Maries Mutter wusste, dass Armand ein Geistlicher, wahrscheinlich sogar ein Erzbischof, werden sollte. Weiterhin war Armand nur ein jüngerer Sohn – leider mit zwei älteren Brüdern, die sich beide einer robusten Gesundheit zu erfreuen schienen. Es würde also mehr als einen Zufall benötigen, um ihn in eine Position zu bringen, den Titel erben zu können und Marie zu einer Marquise zu machen. Da Maries Mutter eine vernünftige Frau war, hatte sie bessere Pläne für ihre Tochter und Armand wurde kurzum als nett, aber ungeeignet beurteilt.

Ihr Verdacht bestätigte sich jedoch nicht, denn als Armand ihr einen Höflichkeitsbesuch abstattete, verhielten sich die beiden eher wie Bruder und Schwester als wie Liebende.

Ihre Mutter entschied daher, dass es klug wäre, Szenen zu vermeiden und sie akzeptierte Maries Bitte. Allerdings gab sie dem Soldaten Anne – wie sie das riesige Dienstmädchen insgeheim nannte, das seit ihrer Geburt auf Marie aufgepasst hatte – die strikte Anweisung, ihre Tochter genau im Auge zu behalten. Um jegliches Risiko auszuschließen, hatte Maries Mutter die hinterhältige Idee, eine entfernte Cousine von ihr einzuladen, um während dieser Zeit bei Marie zu bleiben.

Die verwitwete Gräfin von Chevreuil wird jeden unpassenden Versuch der unsittlichen Annäherung unterdrücken, dachte sie zufrieden, ein einziger Blick aus ihren hochmütigen Augen würde Armand sofort in seine Schranken verwiesen.

Die Ankunft der Witwe, die Marie als Anstandsdame begleitete, wurde von ihrem majestätisch aussehenden Hausmeister angekündigt. Er befehligte eine ganze Flotte von Kutschen, die mit diversen Kisten, Kleidung, Porzellan; und allem, was die Gräfin als Grundbedürfnis zum Überleben in einem ländlichen Anwesen erachtete, beladen waren. Sie kamen in der Einfahrt zu dem schönen Herrenhaus aus cremefarbenem Sandstein zum Stehen, wo Marie sie schon erwartete.

Als ob sie vorhat, für den Rest ihres Lebens bei uns zu wohnen, dachte Marie, und ihre Stimmung verschlechterte sich zusehends, als sie zusammen mit Armand die Ankunft dieser Armada beobachtete.

Die Kutschen machten einen letzten Halt, und ein vergoldeter Wagen mit dem Wappen der Witwe wurde von den Lakaien geöffnet, die Stufen wurden herabgelassen, und die Comtesse de Chevreuil erschien, schwer auf den Arm ihres Dieners gestützt. Sie war ganz in schwarze Spitze gekleidet, und blickte mit grimmigem Gesicht missbilligend zuerst auf Marie und dann auf Armand.

Die Gräfin hasste Reisen und jegliches Unbehagen und sie machte sich keine Illusionen, dass die Betreuung eines jungen Paares ihre Ruhe stören und die Art von Anstrengung bedeuten würde, die sie normalerweise vermied. Leider schuldete sie der Mutter von Marie einen Dienst und sie hatte die Bitte unmöglich abschlagen können.

Die Begrüßung fiel steif aus, die Gräfin war sich ihres hohen Ranges wohl bewusst. Nachdem sie abends zusammen gespeist hatten, beschloss Armand, dass es an der Zeit sei, ihre Anstandsdame in Form eines gräflichen Drachens aufzutauen. Mit dem ihm eigenen Charme begann er, sie mit Klatsch und Tratsch aus Paris zu unterhalten. Er dankte in Gedanken seiner Mutter, die ihm regelmäßig schrieb, ab und zu kam sogar ein Brief gespickt mit saftigen Skandalen von anderen Mitgliedern seiner weitläufigen Familie.

Aber die größte Dankbarkeit erwarb er sich durch die Weitergabe der Rezepturen von Kräuterpräparaten zur Bekämpfung ihrer Gicht und eines unfehlbaren Kopfschmerzmittels, beides hatte er bei Bruder Infirmarius aufgeschnappt und Armand war zum ersten Male froh, in der Schule doch ab und zu aufgepasst zu haben.

Die Gräfin taute sichtlich auf, vielleicht ist dieser junge Mann doch nicht so übel, dachte sie.

Im Laufe ihres Gesprächs entdeckte sie zu ihrer Freude, dass es zwischen der Familie Saint Paul und der Familie ihres Mannes irgendwo in den Verästelungen der komplizierten Stammbäume eine Verbindung durch mehrere Heiraten gab und Armand daher als ein entfernter Neffe von ihr eingestuft werden konnte – somit war Armand im Nu zu einem geschätzten Mitglied ihrer Familie aufgestiegen.

Armand bezauberte sie skrupellos mit seinen Anekdoten und kleinen Aufmerksamkeiten, sodass die häufige Abwesenheit von Marie unbemerkt blieb.

***

Pierre wachte auf und der köstliche Geruch von heißer Hühnerbrühe erfüllte die kleine Kammer. Es muss Sonntag sein, dachte Pierre automatisch, niemals würde ich etwas so Köstliches im Kloster an einem Wochentag bekommen.

Er öffnete die Augen und fand sich in einem unbekannten Bett wieder. Er lag auf Kissen und unter Decken von einer Qualität, die er noch nie zuvor gesehen oder berührt hatte. Die Sonne schien durch die winzigen Fensterscheiben und ihre Strahlen spielten mit dem glänzenden Haar von Marie.

Träume ich?, dachte Pierre.

Dann lächelte er Marie an. Nun war es an Marie, den Atem anzuhalten und in diese schönen blauen Augen zu schauen, die voller Bewunderung auf sie gerichtet waren.

Das wird gefährlich, Marie, ermahnte sie sich selbst, aber sie konnte nicht anders, sie musste Pierre weiter anschauen. So saßen sie immer noch, schweigsam und gebannt, als sie hörten, wie sich jemand laut hinter ihnen räusperte.

Pierre zuckte, als ob er von einer Nadel gestochen worden wäre.

»Armand!«, rief er und Tränen der Freude standen in seinen Augen.

»Das muss ein Wunder sein!«

Sofort folgte ein endloser Strom von Fragen:

»Wo bist du gewesen, ich dachte, ich würde dich in meinem ganzen Leben nie wieder sehen! Ich fühlte mich so elend, was war los, hast du mich gerettet? Was ist in den letzten Tagen passiert, weißt du, wer mir aufgelauert hat?«

Armand wusste, dass es an der Zeit war, reinen Tisch zu machen, also räusperte er sich noch einmal und antwortete:

»Beruhige dich, Pierre, aber beginnen wir mit der letzten Frage. Ich muss leider zugeben, ich war es, der dir aufgelauert und dich niedergeschlagen hat.«

Es war fast komisch zu beobachten, wie sich Pierres Blick von Freude in Unglauben und dann in verletzte Empörung verwandelte. Doch, bevor er empört losschimpfen konnte, griff Armand ein und sagte:

»Iss jetzt deine Hühnerbrühe, sie wird kalt. Ich werde dir erklären, warum ich dir wehtun musste. Ich hatte keine andere Wahl.

Glaub mir, es ist mir unendlich schwergefallen und ich hoffe, ich muss so etwas nie wieder in meinem Leben tun.«

Pierre war ausgehungert – und neugierig, also begann er zu essen und hörte zu.

Armand gab einen kurzen Rückblick auf die letzten Tage im Kloster und ihre Entdeckung von Pierres Dokumenten mithilfe von Marie. Er war immer noch sehr stolz auf seinen Geniestreich mit der Maus. Pierre und Marie lobten ihn denn auch ausgiebig und Armand strahlte vor Freude.

Armand war seit dem Fund der Unterlagen überzeugt, dass Pierre sich in unmittelbarer Gefahr befand und dass er schnellstens verschwinden musste. Aber ihm war klar, dass der Abt und wahrscheinlich auch seine Verwandten sofort eine große Suchaktion starten und eine verlockende Belohnung zu seiner Ergreifung aussetzen würden.

Armand war im Besitz eines alten Briefes seines Vaters, der ihn aufforderte, nach dem Schuljahr sofort nach Paris zurückzukehren, um über seine Zukunft zu sprechen. Armand ging davon aus, dass seine Ernennung zum Bischof das unangenehme Thema sein würde, und hatte vorgezogen, erst einmal nicht zu antworten.

Armand hatte Pierre nichts von diesem Brief erzählt, weil er den Gedanken, Pierre zu verlieren, ebenso hasste wie den Gedanken, Bischof zu werden.

»Weißt du«, sagte Armand, während er ein Stück Brot in die Suppe tauchte und dann genüsslich kaute, wobei er sich freizügig von Pierres Teller bediente: »Ich habe einen Bruder, der so überzeugt davon ist, dass er ein Geschenk für die Menschheit ist, lass ihn ein Geschenk für den Himmel und an meiner Stelle Bischof werden! Er steckt seine Nase sowieso ständig in Bücher, ein totaler Langweiler.«

Armand hatte daher Pierres Entschluss, aus dem Kloster zu fliehen, als einen Fingerzeig des Himmels begriffen. Sie würden ein gemeinsames Abenteuer erleben. Dies war seine lang ersehnte Gelegenheit, dem Amt des Bischofs zu entgehen, eine Karriere, die er immer gehasst hatte.

Aber er hatte Hilfe benötigt, um den leicht geänderten Brief seines Vaters, der seine sofortige Abreise befahl, zum Kloster bringen zu lassen. Marie, seine entfernte Cousine, hatte spontan ihre Hilfe angeboten. Sie hatte ihr Dienstmädchen als Boten geschickt. Armand war sehr stolz darauf, dass selbst der Abt nicht gesehen hatte, dass er einen Teil des Briefes abgeschnitten und das Siegel an einer anderen Stelle mit frischem Siegelwachs aus der Schule wieder neu aufgetragen hatte. »Das ist der Vorteil eines Titels Marquis de Saint Paul, die meisten Leute glauben einfach alles, der Titel blendet sie«, sagte er breit grinsend.

Nach seiner Abreise hielt er sich in den Ställen des Hauses von Marie versteckt und beobachte täglich das Kloster.

Langsam kam auch bei Pierre die Erinnerung zurück und er erzählte seine eigenen Abenteuer, angefangen von dem Moment an, als er dachte, dass Armand für immer fort sei. Er beschrieb die nächtliche Wache in der Kapelle, wie er seine Lehrer mit seiner Vortäuschung von Einkehr und Buße getäuscht hatte und als er am Ende das Schnarchen des armen Bruders Raphael nachahmte, wälzte sich Armand vor Heiterkeit fast auf dem Boden. Keuchend vor Lachen sagte er: »Oh Pierre, jetzt bin ich mir sicher, gemeinsam können wir es mit der ganzen Welt aufnehmen.«

Eifersüchtig betrachtete Marie die beiden Freuden. Sie teilte zwar die Freude, fühlte sich aber ausgeschlossen, neidisch und seltsam rebellisch. Die Jungen hatten ein aufregendes Leben voller Abenteuer vor sich. Warum sollte es ihr Schicksal als Mädchen sein, zu ihrem langweiligen Alltag in Reims zurückzukehren, zu sticken, zu lesen und brav darauf zu warten, dass ihre Eltern einen geeigneten Ehemann für sie aussuchen? Maries Mutter hatte ihr schon einige Kandidaten präsentiert, aber Marie hatte bisher noch keinen Mann getroffen, den sie attraktiv oder in irgend einer Weise aufregend finden konnte. Sie würde Pierre und Armand verzweifelt vermissen.

Das kann es doch nicht gewesen sein, dachte sie.

Da Marie ein Mädchen mit Entschlossenheit war, entschied sie hier und jetzt, dass sie das ändern musste.

Ich muss mich in Ruhe hinsetzen und einen Plan machen. Nein, ich werde nicht warten wie eine Blume, die darauf wartet, gepflückt zu werden, wenn so viel Spaß, Aufregung und Abenteuer auf die beiden wartet.

Armand setzte nun seine Erzählung bis zu dem Moment fort, als Pierre wie geplant, die dunkle Scheune betrat und Armand die schwierige Aufgabe durchführen musste, ihn bewusstlos zu schlagen. Er hatte hin und her überlegt, aber einfach keine andere Möglichkeit gesehen, seinen Freund aus den Stadtmauern zu schmuggeln. Diese List hatte auch wunderbar funktioniert und mit Maries Hilfe war er als Mönch verkleidet durch die Stadttore gefahren. Armand hatte sogar seine langen Locken geopfert, um überzeugend zu wirken. Pierre kicherte, da er wusste, wie eitel sein Freund war und wenn es je eines Beweises bedurft hätte, dass Armand bereit war, für ihn ein echtes Opfer zu bringen – hier war er!

Nachdem sie die Stadttore passiert hatten, fuhren der falsche Mönch und seine falsche Leiche zum Anwesen von Maries Mutter. Marie hatte geholfen, den Wagen, ein Pferd und einen vertrauenswürdigen Diener zu organisieren. Es war einerseits praktisch, dass ihr Versteck so nahe lag, aber die Nähe zu Reims bedeutete leider auch, dass sie dort nicht ewig bleiben konnten, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden.

»Wir müssen Frankreich so schnell wie möglich verlassen und einen Plan ausarbeiten, wie Pierre sein rechtmäßiges Erbe wiedererlangen kann!«, rief Armand aus.

»Siehst du nicht, wie erschöpft Pierre ist«, antwortete Marie. »Er brauchte dringend Ruhe, lass uns gehen«, und sie bugsierte den widerstrebenden Armand aus der kleinen Kammer.

Obwohl Pierre überzeugt war, dass er nach dieser Aufregung, nie und nimmer einschlafen könne, verfiel er in einen tiefen Schlaf, sobald Marie und Armand die Tür hinter sich geschlossen hatten.

***

Sobald Pierre aufstehen konnte, nahm er die Stelle von Armands Burschen ein, nachdem dieser ihm einen Schnellkurs über die Pflichten eines Kammerdieners gegeben hatte. Dann begann Armand heimlich, seinem Freund das Reiten beizubringen. Sie hatten beschlossen, dies in dem abgelegenen Wald zu tun, der in der Nähe des Anwesens lag. In der Tat wäre es äußerst seltsam gewesen, einen Herrn zu sehen, der seinem Stallknecht das Reiten beibrachte.

Armand genoss die Situation. Er liebte es, den strengen Herrn zu spielen und kommandierte Pierre herum, um Dinge zu holen, die er nicht wirklich brauchte, dann wieder beklagte er sich lautstark darüber, dass sein nutzloser Diener ein fauler Schurke sei.

Pierre knirschte mit den Zähnen, da er meinte, dass Armand diese Darbietung etwas übertrieb, aber er war so froh, seinen Freund zurückzuhaben, dass ihm diese kleine Komödie nicht wirklich etwas ausmachte. Bald spielte er den Burschen so perfekt, dass er sogar den örtlichen Dialekt, den die anderen Diener sprachen, übernahm.

Er wusste, dass es ihm gelungen war, die anderen Bediensteten davon zu überzeugen, dass er einer von ihnen war, als eines der Küchenmädchen anfing, ihm Avancen zu machen. Er war aber noch glücklicher, als er sah, dass Marie dies überhaupt nicht gefiel, sobald sie von Armand erfuhr, was in den Dienstbotenzimmern vor sich ging.

***

Marie hatte inzwischen beschlossen, dass sie dafür sorgen würde, an diesem Abenteuer teilzunehmen – und wenn sie sich einmal etwas in ihren hübschen Kopf gesetzt hatte, blieb sie meist dabei. Ein Scheitern kam nicht infrage.

Nach einem kurzen kühlen Intermezzo wurden die Tage wieder warm und die drei Freunde vereinbarten, sich in der Nähe eines kleinen Waldes zu treffen, um ihre nächsten Schritte vertraulich besprechen zu können. Marie würde zu Fuß mit ihrem Dienstmädchen Anne und Armand zu Pferd eintreffen – begleitet von seinem Burschen.

Armand und Pierre hatten bereits beschlossen, dass sie schon bald weiter nach Norden ziehen würden, um so schnell wie möglich die Spanischen Niederlande zu erreichen. Armand erinnerte sich daran, dass einer seiner zahlreichen Verwandten in einem Schloss in der Nähe der Stadt Mons in den spanischen Niederlanden lebte. Er hoffte, dortbleiben zu können, bevor sie ein Schiff ausfindig machen und auf dem Seeweg nach England reisen konnten. Dazu bot sich der Weg über den Hafen von Antwerpen an.

Die Freunde zerbrachen sich allerdings vergeblich den Kopf: Woher genug Geld finden, um die Kanalüberquerung und die Weiterreise nach London zu bezahlen? Weder Armand noch Pierre waren jemals in einem Seehafen gewesen oder hatten ein großes Schiff auch nur aus nächster Nähe gesehen – auch wenn sie sich dieses Abenteuer gerne ausmalten, sie hatten keine Ahnung, wie sie es verwirklichen konnten.

Marie saß neben ihnen im Schatten eines Baumes auf einer Wolldecke, die ihr Dienstmädchen ausgebreitet hatte. Sie sah überaus attraktiv aus, denn sie hatte darauf bestanden, dass Anne sie heute mit besonderer Sorgfalt kleiden und frisieren musste.

Ihr Dienstmädchen sah wie immer mürrisch aus. Da sie Marie seit ihrer Geburt kannte, spürte sie, dass Marie etwas im Schilde führte. Aber da Anne ihr mit Leib und Seele ergeben war, folgte sie ihrem Schützling blind.

Marie hatte als Überraschung einen Korb mit Walderdbeeren mitgebracht, die an diesem Morgen frisch gepflückt worden waren, und die Jungen tauchten ihre Finger eifrig in den Korb und genossen diesen seltenen Luxus.

Marie sah zufrieden, dass die beiden bester Stimmung waren, und sprach: »Ich habe einen Vorschlag zu machen.«

Zwei erstaunte Augenpaare, ein braunes und ein anbetendes blaues, beobachteten sie aufmerksam, die Erdbeeren waren vergessen.

»Meine Eltern haben den Wunsch, dass ich einen Mann von ausgezeichnetem Ruf, guter Familie und«, so fügte sie spöttisch hinzu, »natürlich mit einem passenden Vermögen heirate.«

Marie bemerkte mit größter Genugtuung, dass sich Pierres Augen vor Schreck weit geöffnet hatten, und sie schnurrte fast wie eine Katze, als sie weitersprach.

»Da ich eine gehorsame Tochter bin, muss ich geeignete Kandidaten kennenlernen, denn vielleicht finde ich eines Tages ja doch meinen Märchenprinzen.«

Armand grinste, denn er kannte Marie nur zu gut. Er war sich sicher, dass sie nicht eine Minute einen Gedanken daran verschwendete, irgendwelche Wünsche ihrer Eltern zu erfüllen, es sei denn, diese entsprächen genau ihren eigenen Vorstellungen. Sie würde ihren Prinzen selbst auswählen und Armand hatte inzwischen eine gewisse Vorstellung davon, wie der Auserwählte aussehen würde.

Pierre blinzelte und versuchte Haltung zu wahren. Er hatte keinerlei Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht und nahm Maries Geplänkel für bare Münze. Sein geheimer Traum, von dem er nicht einmal gewagt hatten, ihn sich selbst einzugestehen, war soeben geplatzt.

Marie fuhr scheinbar unbeeindruckt fort. »Die letzten Kandidaten, die ich traf, waren entweder furchtbar langweilig, hässlich oder schrecklich arrogant. Ich denke daher, dass ich endlich die Einladung meines Großonkels annehmen sollte, eine Zeit lang bei ihm zu leben … zumal es heißt, dass er einen sehr vielversprechenden Sohn und Erben hat, der meiner Mutter sicher gefallen wird.« Während ihrer langen Rede hielt sie ihre Augen züchtig gesenkt, was dem armen, gepeinigten Pierre nur noch mehr quälte, da sie damit ihre langen, verführerischen Wimpern voll zur Geltung brachte.

»Was hat das mit unseren Plänen zu tun?«, fragte Armand, ohne sich ablenken zu lassen. »Übrigens kann ich den Ehemann, der in deine Falle tappt, nur bedauern«, fuhr er mit einem süffisanten Lächeln fort. »Der Ärmste wird keine Minute Ruhe haben!«

Marie kicherte. Sie wusste, dass das Schauspiel der züchtigen Tochter Armand nicht eine Minute lang täuschen würde, aber sie hatte die verheerende Wirkung ihrer Ankündigung auf Pierre gesehen und war mit diesem Teil ihrer Vorstellung sehr zufrieden.

»Armand, ich sollte wirklich nicht mehr mit dir sprechen«, schmollte Marie, »aber du hast Glück, ich bin heute in freundlicher und vergebender Stimmung. Ich glaube, ich habe vergessen zu erwähnen, dass mein Onkel der Botschafter des Herzogtums Savoyen ist.«

Angesichts ihrer fragenden Blicke hielt sie etwas inne, um die Spannung zu steigern, bevor sie hinzufügte: »Botschafter am königlichen Hof von Whitehall.«

Armand pfiff anerkennend, aber Pierre sah jetzt total verwirrt aus. Worüber sprach sie nur?

***

Armand erklärte schnell seinem Freund:

»Marie sagt uns – natürlich nicht auf direkte Art und Weise, wie ich es getan hätte -, dass sie ihre Eltern bitten wird, ihr zu erlauben, nach England zu segeln. Der Vorwand dafür wird sein, in England einen geeigneten Bräutigam zu finden. Whitehall ist der Name des königlichen Palastes, in dem die Könige von England residieren. Da ich Marie ein wenig kenne, bin ich mir sicher, dass sie bereits einen Plan in ihrem hübschen Köpfchen hat, wie wir gemeinsam mit ihr den Kanal überqueren können, nicht wahr? Und weil ich sie noch besser kenne, möchte ich behaupten, dass sie sich in keiner Weise für diesen Heiratskandidaten interessiert und nur nach einer Möglichkeit sucht, um an unserem Abenteuer teilzunehmen!«

Armand nahm Maries Hand und küsste sie. Diese Handlung wurde von ihrem Dienstmädchen sofort mit einem lauten Räuspern und einem sehr missbilligenden Blick kommentiert. Armand kümmerte sich nicht weiter darum, sondern blies einen weiteren Kuss in Annes Richtung.

»Ist das wahr?«, fragte Pierre mit flehenden Augen.

Er saß vor ihr wie ein junger Hund, der gerade aus schlimmster Not gerettet worden war. Marie fand es schwierig, nicht auf der Stelle zu schmelzen und ihn zu trösten, aber der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass ein bisschen Zweideutigkeit der Leidenschaft nur guttun konnte. Folglich lächelte sie Pierre nur an, antwortete aber nicht.

Sie fuhr fort: »Ich denke, es wird nicht sehr schwierig. Ich hoffe, dass ich in einem Monat aufbrechen kann. Meine Mutter hat mir immer wieder gesagt, dass ich unbedingt reisen soll, nicht nur wegen meines Cousins, der in ihren Augen ein sehr geeigneter Kandidat für eine Heirat ist, sondern vor allem, weil sie glaubt, dass es für mich eine einmalige Gelegenheit ist, bei Hofe vorgestellt zu werden. Sie ist sehr ehrgeizig und hat sich immer bei mir beschwert, dass sie ihr Leben hier in der Provinz vergeudet.«

Marie lachte, sie war in ihrem Element. »Meine Mutter träumt davon, dass ich nichts Geringeres als eine Herzogin werde und sobald Sie das Wort ’Königshof’ hört, wird sie alles tun, damit ich diese Chance erhalte. Mein Vater wird sich erst sträuben, dann aber nachgeben, wenn meine Mutter mich unterstützt. Aber er wird darauf bestehen, dass ich mit einer kleinen Armee von Mägden, Lakaien und Dienern reise, um sicherzugehen, dass ich auch sicher ankomme. Es dürfte recht einfach sein, zwei der Lakaien zu bestechen, damit sie in Calais bleiben und nach Hause zurückkehren, und ihr beide müsst vor unserer Abreise nach Dover in Calais eintreffen, um sie zu ersetzen. Anne wird dafür verantwortlich sein, neue Diener zu finden, und sie wird euch zufällig finden und mir empfehlen.«

Armand und Pierre saßen völlig fassungslos da. Der Plan war einfach, brillant und die Antwort auf ihre Gebete. Sie mussten nur dafür sorgen, dass sie Calais pünktlich erreichten und nicht unterwegs von Richelieus Handlangern erwischt wurden.

Marie war zufrieden mit dem Eindruck, den sie hinterlassen hatte. Männer dachten immer, dass sie überlegene Wesen seien. In Wirklichkeit benötigte man eine Frau, um einen guten Plan zu machen. Sie gab Anne ein Zeichen, und wie durch ein Wunder tauchte aus ihrer Kutsche eine Flasche Wein, Obst und Kuchen auf.

»Ich dachte, wir sollten heute feiern«, sagte Marie. »Lasst uns auf unser Abenteuer anstoßen!«

»Ja«, rief Pierre, »auf Marie und darauf, dass wir für immer Freunde bleiben!«

Der Waisenjunge und der Kardinal

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