Читать книгу Der Waisenjunge und der Kardinal - Michael Stolle - Страница 12

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Unterwegs ins Abenteuer

Die Zeit war gekommen, sich zu verabschieden. Obwohl sie wussten, dass sie sich in ein paar Wochen wiedersehen würden, fiel die Trennung schwer. Sie hatten in diesen Wochen viel geredet, gelacht und ihre Freundschaft war von Tag zu Tag gewachsen.

Für Pierre hatte sich eine Tür zu einer neuen Welt geöffnet, denn jede Erfahrung war neu und aufregend. Solange er denken konnte, war sein Leben durch die strengen Regeln des Klosterlebens geregelt gewesen. Nun war es plötzlich bunt, voller Spaß und Abenteuer und dazu kam eine wunderbare, neue Freundschaft. Er beschloss, nie wieder eine muffige Pergamentrolle oder ein Gebetsbuch zu öffnen, wenn er es nur irgendwie vermeiden konnte.

Marie hatte ihnen zwei gute Pferde geschenkt – was sie zunächst kategorisch ablehnen wollten, da es beiden peinlich war, noch mehr in ihrer Schuld zu stehen. Marie antwortete mit gesundem Menschenverstand, dass sie nicht so dumm sein sollten. Es sei doch in ihrem gemeinsamen Interesse, pünktlich in Calais anzukommen, oder hatten sie sich vorgestellt, zu Fuß dorthin zu gelangen?

»Natürlich sind die Pferde kein richtiges Geschenk, sobald Pierre im Besitz seines Erbes ist, kann er dafür zahlen, falls der große Marquis de Beauvoir sich dann noch an die arme Marie aus der Provinz erinnern wird«, fügte sie mit brechender Stimme hinzu – aber inzwischen wurde niemand mehr von ihrer bühnenreifen Vorstellung getäuscht.

Armand umarmte sie kurz; er fühlte sich ungeheuer erleichtert, denn er hatte befürchtet, dass sie unterwegs Pferde stehlen mussten – und darauf stand die Todesstrafe. Außerdem war er froh, jede unnötige Aufmerksamkeit vermeiden zu können.

Pierre blies ihr einen Kuss zu und lächelte, aber auch er fiel nicht mehr auf Maries gespielten Kummer herein. Niemand, der sie kannte, konnte sich vorstellen, dass Marie je in der Provinz verkümmern würde.

Um ihre wahren Pläne im Verborgenen zu halten, täuschten Sie vor, sich auf die Reise nach Paris vorzubereiten.

»Ich muss dringend zu meinem Vater nach Paris abreisen«, verlautete Armand, laut genug, damit alle Bedienstete ihn gut hören konnten.

Armand hinterließ einen Brief für seinen Vater und Marie versprach, ihn sofort nach ihrer Rückkehr nach Reims abzuschicken. Er hatte fast einen ganzen Tag über dieser Nachricht gebrütet und zum Schluss Pierre angebettelt, ihm mit einer genialen Idee zu helfen. Allein die Vorstellung, seinen Vater nach seiner Rückkehr wiederzusehen und seine Flucht aus dem Kloster verteidigen zu müssen, ließ ihn vor Angst schwitzen.

Pierre sah, wie sein Freund sich nervös hin und her wand: »Pass auf, gleich machst du dir noch in Hose.«

Armand warf ihm einen mörderischen Blick zu und schrieb weiter. Nachdem er mehrere längere Episteln weggeworfen hatte, begnügte er sich schließlich mit einer kurzen Notiz, in der er seinem Vater erklärte, dass er plötzlich abreisen musste, um seinen besten Freund zu retten, der in höchster Gefahr war.

Pierre las das magere Ergebnis von Armands langwierigen Mühen und empfahl ihm, zumindest einige Zeilen hinzuzufügen, um seine kindliche Liebe und Ergebenheit zum Ausdruck bringen.

»Ich habe ja keine Eltern, aber ich denke, du solltest schon etwas verbindlicher schreiben.«

Armand nickte und fügte die Floskeln kindlicher Ergebenheit hinzu. Ihm war bewusst, dass sein Brief einen der gefürchteten Wutanfälle seines Vaters auslösen würde, denn der Marquis de Saint Paul regierte seine Familie mit eiserner Disziplin.

»Was kann er dir antun?«, fragte Pierre besorgt.

»Nun, nichts wirklich Schlimmes. Er kann mich umbringen, günstigenfalls etwas auspeitschen lassen, auf jeden Fall wird er mich enterben – also nichts, worüber ich mir echte Sorgen machen müsste«, scherzte Armand.

Da Armand aber von Natur aus optimistisch war, entschied er, dass es sinnlos sei, sich weiter mit nutzlosen Bedenken zu quälen und er beschloss, seine Sorgen für die Zukunft aufzuheben. Erst einmal stand ein aufregendes Abenteuer bevor, das Treffen mit seinem wütenden Vater war in weiter Ferne.

Der Gedanke an all die großartigen Abenteuer, die nun vor ihnen lagen, trug viel dazu bei, sie aufzumuntern und als sie am nächsten Morgen sehr früh aufbrachen, waren beide Jungen in bester Laune – wahrscheinlich genauso, wie Alexander der Große sich gefühlt haben muss, als er mit seinem besten Freund das winzige Königreich Mazedonien verlassen hatte, um das grenzenlose Asien zu erobern.

***

Es war beiden klar, dass sie alle größeren Straßen meiden mussten, solange sie noch in Frankreich unterwegs waren. Sie wollten auch nur nachts reiten, zumindest, solange das Mondlicht es ihnen erlaubte, weiterzuziehen. Tagsüber boten Weinberge oder Wälder genügend Verstecke. Da sie tagsüber viel freie Zeit hatten, beschloss Armand, dass dies der ideale Zeitpunkt sei, um mit Pierres Ausbildung zu beginnen und ihm das Wesentliche beizubringen, was ein Adliger wissen musste.

»Vergiss die öden Gebete, Latein oder den Quatsch mit der Religion. Was wirklich zählt, ist, wie man einen anderen Adligen standesgemäß begrüßt, wie man kämpft, wie man einer Dame ein Kompliment macht – und ganz wichtig – wie man Freund und Feind erkennt. Das musst du wissen, wenn du am Hofe überleben und später dein Erbe einfordern willst.«

Pierre hatte sein ganzes Leben im Kloster verbracht und es war ihm bewusst, dass er noch viel über diese neue Welt lernen musste, in die er völlig unvorbereitet katapultiert worden war. Aber erst jetzt ging ihm auf, wie viel er noch lernen musste.

Er war sehr dankbar, dass Armand ihm bereits das Reiten beigebracht hatte, aber stundenlanges, ununterbrochenes Reiten war eine ganz andere – und für seinen Hintern sehr schmerzhafte – Erfahrung.

Wann immer sie eine Pause einlegten und er vom Pferd steigen musste, konnte er sich in den ersten Tagen kaum bewegen, alles, aber wirklich alles, tat ihm weh. Pierre beklagte sich nicht, da er nicht wollte, dass Armand ihn bemitleiden oder – noch schlimmer – verachten sollte. Er biss sich auf die Lippen und tat so, als sei alles in bester Ordnung. Natürlich wusste Armand, wie er sich fühlen musste, und verkniff sich ein Grinsen.

Wann immer sie Zeit fanden, setzte Armand seine Lektionen fort: Er erklärte sehr detailliert die Stammbäume der wichtigen Adelsfamilien Frankreichs und der herrschenden Familien Europas. Jeder kannte jeden und die großen Familien waren über Generationen durch Heirat verbunden.

»Vergiss niemals, Pierre, jeder am Königshof ist bereit, dich zu betrügen, zu töten oder zu verraten. Auch Verwandtschaft spielt keine Rolle.« Eindringlich wiederholte Armand: »Nur die Macht und das Geld zählt, Pierre, vergiss das bitte niemals.«

Pierre nickte, denn selbst in der Abgeschiedenheit des Klosters hatte er Neid, Gier und Missgunst kennengelernt.

Die Lektionen gingen weiter. Frankreich war die größte Macht Europas geworden und Armand erklärte, dass der Kardinal Richelieu wie eine giftige Spinne im Zentrum eines komplizierten Geflechts aus Macht, Korruption und Spionage saß, das er über Jahrzehnte geschickt gewebt hatte. Es war Richelieu, der die Favoriten des Königs wählte, um ihn bei Laune zu halten, und der die Königin wie eine Geisel in ihrem goldenen Käfig hielt.

»Du meinst, der König mag Männer lieber als Frauen? Aber das ist doch eine Sünde?«, rief Pierre mit aufgerissenen Augen aus. »Das kann doch nicht wahr sein.«

»Es ist wahr und er ist nicht der Einzige am Hof. Aber für den Kardinal spielt das keine Rolle, jetzt wo es einen Thronerben gibt, kann der König machen, was er will.«

Pierre schluckte, er hatte noch viel zu lernen.

Armand hasste den Kardinal, aber widerwillig musste Armand zugeben, dass er ein großer Mann war und dass ihr Hass sie nicht blind dafür machen durfte, dass er brillant und daher ein sehr gefährlicher Feind war.

Dann folgten die wichtigsten Lektionen, wenn Pierre überleben wollte. Pierre hatte in seinem Leben noch nie eine Waffe benutzt, nicht einmal einen Dolch. Armand zeigte ihm nun, wie man einen Degen richtig hält. Marie hatte ihnen geholfen, Degen zu finden, die gut ausbalanciert und scharf waren.

Armand versuchte, sich an seine eigenen Anfänge zu erinnern, und zeigte Pierre, wie er seine Füße bewegen und wie er seinen Degen halten musste. Pierre musste täglich Übungen machen, bis Armand zufrieden war. Als Nächstes musste Pierre lernen zu kämpfen, was nicht ungefährlich war, da sie nur ungeschützt gegeneinander kämpfen konnten.

Sie ritten gen Norden, in Richtung der Stadt Cambrai, hatten aber genug Brot und andere Lebensmittel mitgenommen, um sich bis zur Grenze versteckt zu halten.

Um ihre Ernährung zu ergänzen, und auch damit Pierre mit verschiedenen Waffen üben konnte, jagten sie Kaninchen und kleinere Tiere. Pierre konnte inzwischen Pfeil und Bogen mit einiger Geschicklichkeit benutzen, war aber eher zögerlich im Umgang mit einem Dolch. Armand beschloss, dass es an der Zeit war, Pierre abzuhärten. Sein Freund musste seine Hemmungen verlieren, sonst hatte er keine Chance, später bei einem Kampf mit Dolch oder Degen zu überleben.

Am nächsten Tag schoss Armand ein Rehkitz an. Es schwer verletzt und versuchte verzweifelt und unter Schmerzen, zu entkommen.

»Mach es fertig, erlöse es«, sagte Armand zu Pierre.

Pierre schluckte. »Ich kann nicht!«, stammelte er.

»Wenn du es nicht tötest, wird das arme Tier stundenlang leiden, die Füchse werden es bei lebendigem Leib fressen – und es wird heute Abend kein Abendessen geben, aber es ist deine Entscheidung. Ich mache es jedenfalls nicht.«, antwortete Armand kalt und drehte sich um.

Pierre sah die Verachtung in den Augen seines Freundes und sah mit Entsetzen das hilflose Zucken des verletzten Tieres. Er nahm all seinen Mut zusammen und stieß den Dolch tief in die Kehle des Rehkitzes, so wie Armand es ihn gelehrt hatte.

Es war ein entsetzliches Gefühl, aber er biss die Zähne zusammen und machte weiter. Als das Kitz endlich tot war, berührte Armand seine Schulter. »Ich weiß, das war nicht einfach für dich, aber du musstest das lernen.«

Danach zeigte er Pierre, wie man das Tier zerlegt und als sie ihre Arbeit beendet hatten, hatte Pierre gelernt, ohne zu zögern tief in Haut und Sehnen zu schneiden, den Dolch schnell und präzise zu führen, und er hatte seine anfängliche Abscheu vor Blut verloren.

Sie zündeten ein Feuer an und rösteten etwas von dem frischen Fleisch. Die Mahlzeit wäre sicherlich nicht für einen König geeignet gewesen, aber nach mehreren Tagen von Diät mit altem Brot und getrockneten Früchten war das Fleisch eine willkommene Abwechslung. Pierre war stolz und zufrieden, er fühlte sich jetzt wie ein echter Mann.

Armand lobte seinen Freund: »Das hast du gut gemacht. Da unsere Vorräte langsam zur Neige gehen, werden wir ab jetzt häufiger jagen müssen.«

Sie waren jetzt in der Nähe der französischen Grenze angekommen; nur noch wenige Kilometer und sie würden die Spanischen Niederlande erreicht haben. Die malerischen Weinberge der Champagne und Umgebung hatten sich in hügeliges Weideland und tiefe, unberührte Wälder verwandelt.

Zum Glück war dieser Teil Frankreichs nur dünn besiedelt. Sie hatten jeglichen Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung vermeiden können, mit Ausnahme einiger Bauern, die ihre Felder bestellten. Pierre liebte die Freiheit und Ungezwungenheit ihres neuen Lebens und hoffte insgeheim, dass es nie enden würde. Er wurde ein ausgezeichneter Schütze mit Pfeil und Bogen und an dem Tag, an dem es ihm gelang, Armand zu schlagen, fühlte er sich wie ein König.

Eines Nachmittags erreichten sie einen versteckten Nebenarm eines kleinen Flusses.

»Wir stinken beide zum Himmel, mein Freund. Zeit für ein Bad«, sagte Armand und sah Pierre kritisch an.

Pierres Kleidung starrte vor Dreck und dem Blut der gejagten Tiere. »Du riechst wie ein Metzger, bald folgt dir ein ganzer Schwarm von Fliegen. Warte nur, bis das Wetter noch etwas wärmer und feuchter wird.«

Sie befestigten die Zügel der Pferde an einem Busch in der Nähe des Ufers. Der Fluss machte hier eine Biegung und der sanft abfallende Hang war mit Gras und duftenden Wildblumen bewachsen – ein idyllischer Platz zum Baden. Das klare Wasser glitzerte einladend in der Sonne.

Während die Pferde zu grasen begannen und das frische Grün genossen, riss Armand sich seine Kleider vom Leib und rannte jubelnd zum Wasser. Er stand splitternackt in der Sonne, die Füße schon im Wasser.

Pierre wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. In der Schule war es strengstens verboten, sich nackt zu zeigen. Er war in dem Glauben erzogen worden, der menschliche Körper sei aus der Sünde geboren und für die Sünde geschaffen.

Die Schamesröte im Gesicht, suchte er verzweifelt nach einer Ausrede, um sich zu drücken, aber Armand rief ihn ungeduldig zu sich. »Nun komm schon, worauf wartest du noch? Das Wasser ist einfach wundervoll! Du hast doch keine Angst davor, deinen edlen Körper in kaltes Wasser zu tauchen, oder?«

Pierre sah seinen Freund an, wie er in seiner nackten Pracht dastand. Kein Wunder, dass die Mädchen in Reims Schlange gestanden hatten.

Zögernd näherte er sich dem Wasser und versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen, als er sich ungeschickt auszog. Nicht, dass er etwas zu verbergen gehabt hätte. Er war für sein Alter gut gebaut, hatte lange, muskulöse Beine und würde sich bald regelmäßig rasieren müssen. Die Sonne ließ sein blondes Haar leuchten.

Sobald er die Hosen ausgezogen hatte, stürzte Pierre sich in das Wasser. Zuerst nahm die Kälte ihm den Atem, aber schon bald gefiel es ihm. Zu fühlen, wie das reine und kühle Wasser um seinen Körper strömte, war ein wunderbares Gefühl! Armand zeigte ihm, wie man auf dem Wasser treiben konnte und nachdem er auch diesen Trick gelernt hatte, schwelgte er in diesem neuen Gefühl der Schwerelosigkeit.

Danach wuschen sie ihre Kleider im Fluss und ließen sie am Ufer trocknen.

»Bleib ruhig in der Sonne«, sagte Armand, »es ist besser, wir bekommen etwas Farbe. Wir müssen wie gewöhnliche Leute aussehen und nicht blass wie Adlige.«

Weder Pierre noch Armand bemerkten indes, dass sich die Büsche auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers leicht bewegten, obwohl es windstill war. Nur ihre Pferde schnaubten nervös, da sie einen ihnen unbekannten, Geruch wahrgenommen hatten, aber die beiden Freunde achteten nicht darauf.

Sobald ihre Kleider getrocknet waren, konnten sie ihre Reise fortsetzen. Sie durchquerten einen Wald, bis sie auf eine weitere Schleife desselben Flusses trafen, an einer Stelle, wo der Wald den Feldern weichen musste. Eine primitive Holzbrücke überquerte hier den schmalen Fluss und sie beschlossen, weiter Richtung Norden entlang endloser Felder zu folgen, wo das Getreide schon fast reif zur Ernte war.

Der Abend nahte und beide waren erleichtert, als sie einen kleinen Weiler entdeckten. Er bestand aus drei einsamen Bauernhöfen, die friedlich in der Nähe des kleinen Flusses lagen.

»Wir brauchen dringend neuen Proviant und endlich einmal anständige Mahlzeit zu bekommen, wäre auch nicht schlecht«, sagte Armand.

»Einmal wieder auf frischem, weichem Stroh in einer Scheune oder einem Stall zu schlafen, wäre auch eine nette Abwechslung«, fügte Pierre hoffnungsvoll hinzu.

Ihre Ankunft wurde von einer Gruppe schmutziger Kinder entdeckt, sobald sie sich dem ersten Gebäude näherten. Glotzend versammelten sich die Kinder um die Fremden, die Ankunft von fremden jungen Männer war eine Sensation und durfte auf gar keinen Fall verpasst werden.

Armand klopfte an die Tür desjenigen Bauernhofes, der am gepflegtesten von den dreien aussah. Eine unfreundliche Frau unbestimmten Alters erschien sofort an der Tür. Sie hielt einen großen Besen in der Hand und war zum Angriff bereit.

Die Alte sieht aus wie eine Hexe, dachte Pierre nervös und machte heimlich hinter seinem Rücken ein Zeichen, um Hexerei abzuwehren, so wie Bruder Hieronymus es sie gelehrt hatte.

Die Hexe schaute sie voller Misstrauen an und wollte ihnen gerade die Tür vor der Nase zuschlagen. Dann erspähte sie die Silbermünze, die auf wundersame Weise in Armands Hand erschienen war, und überlegte es sich anders. Sie wurde zwar nicht gastfreundlich, hielt aber die Tür offen und erklärte sich im schroffen Ton bereit, ihre Bitte anzuhören.

»Ich bin mit meinem Burschen auf dem Weg nach Antwerpen, um meinen Vater zu treffen, der Stoffhändler ist«, erklärte Armand ohne rot zu werden. »Wir sind ehrenwerte Leute, aber wir haben uns verirrt, außerdem sind wir hungrig und müde. Wir würden gerne eine Mahlzeit kaufen und gerne auch noch etwas Proviant für unsere Reise. Dürfen wir Sie bitten, uns Ihre Gastfreundschaft zu gewähren und uns zu erlauben, die Nacht in Ihrem Stall zu verbringen? Wir wären Ihnen sehr zu Dank verpflichtet für diese außerordentliche Freundlichkeit.«

Er hielt inne und fuhr dann fort, da die Hexe immer noch antwortete: »Natürlich werden wir dafür bezahlen und versprechen, keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten.«

Die Hexe musterte die beiden Jungen, aber Armands Charme schien verschwendet. Sie behielt ihren feindseligen Gesichtsausdruck, aber das Geld war verlockend. Ihre Hand schoss nach vorne und sie sackte die Münze ein, dann nickte sie und antwortete kurzangebunden in einem nördlichen Dialekt, den sie kaum verstehen konnten.

»Sie meint, sie wird nicht zögern, den Hund auf uns zu hetzen, wenn wir ihr Ärger bereiten«, übersetzte Pierre für seinen Freund. Dank seines Aufenthalts im Dienstbotenquartier konnte er die Frau besser verstehen.

Um diese Drohung zu unterstreichen, wedelte ein riesiger Mischling mit dem Schwanz und bleckte mit den Zähnen eines wahrhaft beeindruckenden Gebisses. Pierre und Armand beeilten sich sofort zu erklären, dass sie keinerlei Ärger machen würden.

Die Hexe bedeutete ihnen kurzangebunden sich hinzusetzen und stellte Brot und Schinken auf den Tisch. Sie hatten gerade mit ihrer Mahlzeit begonnen, als eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, den Raum betrat. Sie hielt ihre Augen niedergeschlagen und trug sackartige Kleider, aber all dies konnte ihr schönes Gesicht und ihr seidiges Haar nicht verbergen. »Meine Güte, wenn ihr Körper unter diesen hässlichen Klamotten auch so verführerisch ist …«, dachte Armand und schluckte.

Die Hexe beobachtete die beiden jungen Männer misstrauisch und war erst beruhigt, als sie sah, dass die beiden sich anscheinend voll und ganz auf ihr Abendessen konzentrierten, anstatt zu versuchen, die Aufmerksamkeit der jungen Schönheit zu erregen, die gerade den Raum betreten hatte.

Das Mädchen stellte schweigend zwei Krüge Bier auf den Tisch, ohne die Fremden anzuschauen.

Dann drehte sie sich, um die Küche zu verlassen, aber dabei rutschte sie aus, verlor das Gleichgewicht und fiel fast in Pierres Schoss. Sie richtete sich aber sofort wieder auf, entschuldigte sich mit leiser Stimme – mehr bei der Hexe als bei den beiden Besuchern- und verließ den Raum in großer Eile.

Pierre saß wie gelähmt in fassungslosem Schweigen. Das Mädchen hatte ihm ins Ohr geflüstert: »Trinke nicht zu viel Bier … gefährlich.« Er fragte sich nun, ob dies wirklich passiert oder ob er in einem seltsamen Albtraum gefangen war.

Armand warf ihm einen überraschten Blick zu, da Pierres Gesprächsfluss – ohnehin schon nicht gesprächig und eigentlich nur aus »Ja«, und »Nein, Meister«, bestanden hatte – völlig verstummte. Er konnte sehen, dass sein Freund tief in Gedanken versunken war.

Armand konzentrierte sich also auf die frugale Mahlzeit und freute sich auf den Käse, der im Gegensatz zum versalzenen Schinken fast genießbar aussah. Er würde gut zu dem frischen Bier passen – eine willkommene Abwechslung nach all dem Wasser, das sie während ihrer Reise trinken mussten.

Die Hexe war in der Küche geblieben, aber plötzlich rief das Mädchen von draußen und nach kurzem Zögern verließ die alte Frau die Küche. Sie blieben aber immer noch unter der Aufsicht ihres beeindruckenden Hundes, der in einer Ecke lag und nur friedlich blieb, solange sie sich nicht bewegten.

Da sie nun unter sich waren, flüsterte Armand: »Was für eine charmante und großzügige Gastgeberin. Sie erinnert mich leider an diese seltsamen Figuren in den Märchen, von denen mir meine Amme immer erzählt hat. Sehr spannend Geschichten, leider gingen sie alle immer schlecht aus.«

Dann hob er seinen Krug, um einen tiefen Schluck Bier zu nehmen.

Pierre ergriff seine Hand und machte ein Zeichen, das Bier wieder auf den Tisch zu stellen. Er wollte gerade erklären, was das Mädchen in sein Ohr gemurmelt hatte, als die Hexe wieder die Küche betrat. Armand setzt den Krug schnell ab, schickte aber einen fragenden und sehr neugierigen Blick zu Pierre.

Die alte Hexe trat näher und erkundigte sich fast freundlich, ob ihnen das Bier geschmeckt habe.

»Oh ja«, antwortete Pierre, als ob er seine Sprache wiederentdeckt hätte, »es ist einfach köstlich! Er nahm einen Schluck und schmatze mit den Lippen.

»Wir werden die Krüge mit in die Scheune nehmen. Mein Herr trinkt immer Bier, bevor er schlafen geht – jetzt trinken wir aber lieber nur einfach Wasser.«

»Oh, ihr könnt später gerne mehr haben«, antwortete die Hexe und entblößte ihren Gaumen zu einem zahnlosen Lächeln. »Vergesst das Wasser, seid meine Gäste. Trinkt, ihr müsst sehr durstig sein!

Pierre sah sie an und schien sich plötzlich an etwas Wichtiges zu erinnern.

»Oh, der Herr möge mir verzeihen, wir haben vergessen, vor dem Abendessen zu beten«, rief er aus und schlug sich auf die Stirn. »Wir müssen das sofort nachholen, ansonsten straft uns der Herr!« Pierre machte das feierliche Zeichen des Kreuzes und lud die anderen mit einer Geste zum Mitmachen ein.

Die Hexe war sichtlich verwirrt, besonders als Pierre begann, den Gebetsgesang zu imitieren, den sie nur vom sonntäglichen Gottesdienst kannte. Er benutzte Latein und hoffte, dass Armand ihn verstehen würde, während er laut und inbrünstig betete: »Lasst uns dem Herrn danken, der die schöne Jungfrau gesandt hat, um uns zu warnen, dass die giftige Flüssigkeit, die vor uns steht, unserem Körper mehr schaden könnte als unserer Seele.

Armands Latein war alles andere als gut, aber die Mönche hatten ihm genug Latein eingebläut. Er begriff daher sofort und antwortete auf Latein: »Ja, danke dem Herrn, wir werden nicht trinken!«

Die alte Hexe war von dieser Zurschaustellung tiefster Gläubigkeit sehr beeindruckt und schluckte nun sogar ihre Behauptung, todmüde zu sein. Sie bot ihnen aber kein Wasser an, sondern bestand darauf, ihnen für die Nacht noch einen weiteren Krug ihres selbst gebrauten Biers zu geben.

Pierre und Armand gaben vor, diesen Wandel zu überraschender, geradezu überströmender Freundlichkeit nicht zu bemerken und dankten ihr ausgiebig für ihre Gastfreundschaft, ihr ausgezeichnetes Essen und das Bier, das ihnen sicherlich hervorragend munden würde.

Von der Hexe und ihrem riesigen Hund begleitet, zog die kleine Gruppe los, um die Pferde der Jungen zu holen, und anschließend marschierten sie zu einem kleinen Stall. Dieser Stall war die Heimstätte einer dürren, melancholischen Kuh, nebst einiger Ziegen, deren Geruch Pierre lebhaft an Bruder Hieronymus erinnerte. Dazu konnten sie im trüben Licht ein Dutzend Kaninchen und ein paar verirrte Hühner erblicken. Letztere flohen laut und aufgeregt gackernd, sobald sie den Stall betraten.

Ihre Gastgeberin – immer noch seltsam besorgt um ihr Wohlergehen – schien zufrieden zu sein, dass sie sich dort über Nacht einrichteten. Bevor sie ging, befahl sie dem Hund, den Ausgang zu bewachen. »Er wird euch gut beschützen«, murmelte sie und verzog ihren zahnlosen Mund zu einem schiefen Lächeln. Pierre und Armand blickten sich an, auf diese Art von Schutz hätten sie gut verzichten können.

Die Tür wurde geschlossen, und sie hörten das Geräusch des quietschenden Bolzens, mit dem die Tür von außen verriegelt wurde.

Armand sah Pierre an, als sich die Tür geschlossen hatte. »Das gefällt mir überhaupt nicht – sag mir, was soll das?«

Pierre wiederholte die Botschaft des Mädchens und Armand pfiff durch die Zähne. Zu seinem Unbehagen setzte sich der riesige Hund in Bewegung, er hatte den Pfiff als Aufforderung verstanden, näher zu kommen.

Er richtete seine großen dunklen Augen erwartungsvoll auf die Jungen und sein heißer Atem strich unangenehm nahe über ihre Köpfe.

»Das ist lecker, trink, sei ein guter Hund!«, rief Pierre aufmunternd und stellte den Krug direkt unter die Nase des Hundes. Zu ihrer großen Überraschung begann der Hund, die Flüssigkeit laut schlabbernd aufzulecken, und er hatte nichts dagegen, als sie den zweiten Krug hinstellten.

Als auch der zweite Krug leer war und kein weiteres Bier mehr nachgeschenkt wurde, gab der Hund ein zufriedenes Rülpsen von sich und trollte sich zurück zum Ausgang. Pierre bemerkte allerdings, dass sein Gang recht schwankend war.

»Hm, wir sind also direkt in eine Falle getappt«, nahm Armand das Gespräch wieder auf, aber scheinbar weder besonders besorgt noch beunruhigt.

»Schauen wir mal, wie das Bier auf unseren Freund hier wirkt. Auf jeden Fall müssen wir abwarten, bis es ganz dunkel wird und der Weiler schläft, um zu sehen, wie wir entkommen können. Es muss einen Weg geben! Etwas Merkwürdiges geht hier vor sich. Ich frage mich vor allen Dingen, was dieses Mädchen im Schilde führt. Sie ist eine atemberaubende Schönheit, hast du das bemerkt? Komisch, dass ein so hässlicher Besenstiel wie diese Hexe, eine so reizende Tochter in diesem verlorenen Teil der Welt hat. Was für eine Verschwendung!«

Natürlich hatte Pierre das Mädchen bemerkt, aber das hatte ihn nur noch mehr verwirrt. Er war davon überzeugt gewesen, dass seine glühende Liebe zu Marie ihn für jedes andere Mädchen blind machen würde. Das seltsame Mädchen mit dem schönen Gesicht hatte ihn aber nicht gleichgültig gelassen. Er konnte dies aber nicht so einfach mit Armand besprechen, obwohl Armand sein bester Freund war. Für Armand was es das Natürlichste in der Welt, möglichst viele Mädchen zu begehren. Er hätte Pierre nur ausgelacht – aber Pierre fühlte sich schuldig und sein Gewissen meldete sich.

Der Stall war aus rohen Holzbrettern gezimmert mit jeder Menge von Rissen und Spalten, durch die Licht von außen eindringen konnte, aber das Licht im Stall schwand nun schnell. Als die Sonne unterging, wurde das spärliche Licht im Inneren immer dunkler. Sie saßen unbehaglich in der Stille, unterbrochen nur vom Muhen der Kuh, dem Meckern der Ziegen und dem Schnauben und Mampfen ihrer Pferde. Dazu kamen andere, leisere Geräusche, die Pierre unbehaglich den huschenden Pfoten von Mäusen oder Ratten zuschrieb – er hoffte sehr, es seien Mäuse.

Der Hund lag hingestreckt vor der Tür und begann zu schnarchen – das Bier war also tatsächlich mit Schlafkräutern versetzt worden. Zumindest hatten sie den Hund so auf elegante Weise aus dem Weg geräumt.

Als es ganz dunkel geworden war sagte Armand:

»Nun, ist es an der Zeit, etwas zu unternehmen. Wir müssen schauen, wie wir aus diesem Schuppen entkommen können. Los geht«s.«

Vorsichtig bewegte er sich an den Wänden entlang und drückte auf die Holzbretter, in der Hoffnung, ein morsches oder loses Brett zu finden. Er war noch mit seinen Erkundigungen beschäftigt, als Pierre, der an der Tür Wache hielt, leise pfiff.

Sie holten ihre Waffen aus den Satteltaschen und stellten sich auf beiden Seiten der Tür auf, bereit, zuzuschlagen. Die Tür ging einen Spalt auf, aber als sie gerade losspringen wollten, wurde ihnen klar, wer da gekommen war.

Es war das Mädchen, das sie gerettet hatte. Sie hielt ein Windlicht in der Hand, schaute noch einmal sorgfältig hinter sich und schloss dann schnell die Tür.

»Wo seid ihr?«, rief sie leise.

Plötzlich erschien Armand hinter ihr und hielt sie mit seinen starken Armen fest.

»Da sind wir, meine Schöne, jetzt erkläre mir bitte, was hier eigentlich vor sich geht!«

Sie antwortete nicht, sondern küsste ihn lang und ausgiebig. Armand war sprachlos.

Er entließ sie aus seinen Armen. »Der erste Teil der Erklärung war ausgesprochen gut«, sagte er, »Aber vielleicht kannst du uns doch noch ein bisschen mehr erklären?«

»Meine Tante schläft tief und fest, ich habe ihr heute Abend etwas Schlafmittel in die Suppe getan«, kicherte sie und setzte das Windlicht ab. »Wir haben also Zeit und ich werde alles erklären. Aber was ist bloß mit dem Hund passiert?«

»Unser Freund dort trinkt gerne Bier«, antwortete Armand. »Könnte sein, dass er morgen starke Kopfschmerzen haben wird!«

Das Mädchen lachte, schmiegte sich in Armands Arme und begann mit seiner Erzählung.

»Ich habe euch am Fluss gesehen, als ihr gebadet habt.«

Zum Glück war es dunkel im Stall, denn Pierre war errötet und wusste nicht, wo er vor Verlegenheit hinschauen sollte. Sie hatte Armand und ihn also nackt gesehen.

»Ich muss gestehen, ihr habt mir gut gefallen.« Ein weiteres Kichern folgte.

Dann wurde sie wieder ernst und erklärte weiter:

»Vor zwei Tagen ist ein Bote an unserem Weiler angekommen. Er versprach eine gute Belohnung für jegliche Information über einen blonden Jungen, fast ein Erwachsener, der gesucht wird im Namen des Königs. Dieser junge Mann sei aus dem Kloster von Reims geflohen – wahrscheinlich in Begleitung eines anderen jungen Mannes mit dunklen Haaren. Beide seien überdurchschnittlich groß, Kleidung unbekannt. Der Bote zog dann weiter, aber natürlich waren wir alle sehr aufgeregt. So etwas kommt bei uns nicht alle Tage vor.«

»Als ich euch gesehen habe, dachte ich mir sofort, dass ihr die beiden Gesuchten sein müsst. Zu uns kommen nie Fremde, der Fluss ist die Grenze zu den Spanischen Niederlanden. Als ich sah, dass ihr bei meiner Tante angeklopft habt, wusste ich, dass ihr in Gefahr seid. Meine Tante würde ihre eigenen Kinder an den Teufel verkaufen. Ich musste euch also warnen, gut, dass ihr das sofort begriffen habt.« Sie machte eine dramatische Pause:

»Und hier bin ich nun, um euch zu befreien!«

»Wer hat den Befehl unterzeichnet?«, fragte Armand: »Hat der Bote das auch gesagt?«

»Der Befehl wurde im Namen des Königs und seines rechtmäßigen Vertreters, des Gouverneurs und des Erzbischofs von Reims, verlesen.«

»Hmmh«, sagte Armand eher zu sich selbst, »Ich möchte wetten, dass der Kardinal auch seine Finger in dieser Sache hat, denn warum werde ich auch erwähnt …«

***

»Warum willst du uns helfen, du könntest viel Geld verdienen«, fragte Pierre ungläubig und unterbrach Armands Gedanken.

»Du fragst zu Recht, alles im Leben hat seinen Preis«, antwortete das Mädchen und lächelte sie an.

»Ich stelle eine Bedingung. Ich werde nächste Woche einen langweiligen, viel älteren Mann heiraten. Ich habe zugestimmt, denn es ist meine einzige Gelegenheit hier wegzukommen, ich kann meine Tante nicht mehr ertragen. Ich will hier nicht mehr leben. Mein Zukünftiger ist nicht reich, aber er wird gut für mich sorgen. Ich möchte diese Nacht mit euch verbringen, bevor ich seine treue Ehefrau werde.«

Pierre traute seinen eigenen Ohren nicht. Armand lachte nur und antwortete,

»Das klingt für mich nach dem besten Angebot, das mir je gemacht wurde. Zu Ihren Diensten, meine schöne Dame«, und er küsste sie leidenschaftlich auf ihre Wangen.

Pierre stand peinlich berührt auf, um die beiden allein zu lassen, als sie leise sprach:

»Meine Bedingung war, die Nacht mit euch beiden zu verbringen! Abgemacht ist abgemacht!«

Ein Gefühl grenzenloser Panik durchströmte Pierre. Ihm wurde gleichzeitig heiß und kalt, warum konnte er sich nicht wie im Märchen unsichtbar machen? Er hatte noch nie mit einem Mädchen geschlafen. Das war einfach zu viel verlangt, das konnten die beiden nicht ernst meinen!

»Ich … ich kann nicht!«, quiekte er, und selbst für seine eigenen Ohren klang das unmännlich – sogar kindisch. Armand und das Mädchen lachten leise.

»Du musst ihm verzeihen, er ist noch eine Jungfrau«, erklärte Armand mit einer Abgeklärtheit, für die ihn Pierre hasste, »aber ich denke, er wird schnell lernen. Da du ihn heute am Fluss nackt gesehen hast, konntest du ja selbst beurteilen, ob er reif genug ist …«

Pierre fand das nicht sehr witzig.

»Machen wir es uns erst einmal bequem«, fuhr Armand in bester Laune fort und holte eine Decke aus ihrem Gepäck. Pierre saß da, immer noch vor Angst wie gelähmt, als er zuschaute, wie sein Freund das gemeinsame Lager für sie richtete. Er fühlte sich wie ein Gefangener, der zuschauen musste, wie sein Galgen errichtet wurde.

Armand zog sein Hemd aus, und jetzt, wo Armand das Mädchen näher sehen konnte, erkannte er, dass sie schon eine junge Frau war. Sie löste den Knoten und ließ ihre wunderbaren Haare auf ihre Schultern fallen. Das dämmerige Licht verwischte Farben und Formen, aber allein der Anblick ihrer Silhouette mit ihren langen Haaren begann ihre Wirkung auf Pierre zu entfalten. Sein Puls begann zu rasen.

Armand entkleidete die junge Frau sanft und zog dann seine Hose aus – und gab Pierre ein Zeichen, dass er das Gleiche tun sollte. Unbeholfen begann Pierre sich zu entkleiden, als er plötzlich fühlte, dass ihre weichen Hände ihn berührten.

Er ließ sich nun von der jungen Frau entkleiden und dann führen, vergaß die Welt um sich herum und glitt vollends in diesen aufregenden Traum – zu seiner eigenen Überraschung genoss er ihren gemeinsamen Liebesakt in vollen Zügen.

Er gab sich den Wellen der Erregung hin; er hatte sich nicht einmal vorstellen können, dass es ein Gefühl von solcher Intensität geben könnte.

Er hörte Armand Stöhnen und dann ihre Antwort und es störte ihn nicht mehr – im Gegenteil, er wurde immer erregter, bis er buchstäblich explodierte. Er bedauerte nur, dass es so schnell gegangen war.

»Ich habe doch gesagt, dass er ein guter Schüler sein wird«, sagte Armand lachend. »Er gibt vor, schüchtern zu sein, aber ich habe immer vermutet, dass sich hinter dieser Maske der Unschuld ein kleiner sinnlicher Teufel verbirgt! Stille Wasser sind tief – das hat mein Freund soeben wieder einmal bewiesen!«

Das Mädchen gab beiden einen kurzen Kuss. »Ich würde es so gerne wiederholen«, seufzte sie, »aber es ist höchste Zeit für euch, zu gehen. Die Grenze ist nicht weit weg von unserem Dorf und wenn ihr jetzt losreitet, schafft ihr es bis zum Morgengrauen, bevor meine Tante aufwacht und das ganze Dorf weckt.«

Pierre fühlte sich wunderbar, aber völlig erschöpft und todmüde. Er hatte nur einen Wunsch: in einen tiefen Schlaf zu sinken und sich mit der Decke in das weiche Stroh zu kuscheln. Er schloss nur für eine Sekunde die Augen und war im Nu eingeschlafen. Armand grinste und packte allein, aber sobald er fertig war, zog er die Decke weg und stupste seinen Freund mehrmals mit dem Fuß an – aber Pierre reagierte nicht.

Also musste Armand zu drastischeren Mitteln greifen. Er erinnerte sich, bei der Kuh einen Eimer mit Wasser gesehen zu haben. Er grinste zufrieden, salutierte spöttisch vor der immer noch traurig schauenden Kuh und ging auf Zehenspitzen zurück zu seinem Freund.

Für Pierre schien es, als seien nur Sekunden vergangen, seit er die Augen geschlossen hatte, als ihn der kalte Guss traf und ihn brutal weckte. Er wollte heftig schreien, doch Armand schloss ihm den Mund mit seiner Hand.

»Keine Zeit zum Schlafen, mein Freund«, sagte er. »Unsere – besser gesagt, unsere gemeinsame – Freundin hat mir den kürzesten Weg zur Grenze erklärt und wir müssen sofort aufbrechen, sonst bist du bald wieder in den Armen von Bruder Hieronymus – du hast die Wahl. Ich nehme an, Hieronymus hätte sich übrigens äußerst gerne unser kleines Gastspiel hier angesehen.«

Pierre warf ihm einen wütenden Blick zu, aber die Wahrheit der Worte seines Freundes war nicht zu bestreiten. Er war immer noch müde, aber das kalte Wasser hatte ihn geweckt und vorsichtig führten sie die Pferde aus dem Stall.

Zum Schluss verriegelten sie noch die Stalltür von außen.

»Stell dir nur das dumme Gesicht vor, das unsere liebenswerte Gastgeberin machen wird, wenn sie ihren pennenden Hund findet und feststellt, dass sich ihre wertvollen Geiseln in Luft aufgelöst haben«, flüsterte Armand und die beiden Freunde mussten sich sehr anstrengen, nicht laut zu lachen.

***

Über Generationen hinweg erzählten die Bewohner dieser Region ihren Kindern und Enkeln die düstere Geschichte zweier junger Männer, einer blond wie ein Engel, einer dunkel wie der Teufel, die in ein abgelegenes Dorf geritten waren. Ihre Pferde hatten Feuer gespien und der Himmel hatte sich bei der Ankunft verdunkelt. Über Nacht aber waren sie dann spurlos verschwunden. Die Männer aber hatten den scharfen Hund, der sie bewachen sollte, mit einem Zauber belegt, ein deutliches Zeichen dafür, dass einer von ihnen der Teufel persönlich gewesen sein musste!

Keine acht Monate nach seiner Heirat würde der Ehemann der schönen jungen Frau stolz die Geburt von Zwillingen verkünden, einer blond, einer braunhaarig – ein weiteres Wunder. Gottes Wege waren wahrhaft unergründlich.

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Die beiden Freunde folgten dem Fluss, bis sie zur Furt am Fluss kamen. Die junge Frau hatte ihnen diese Stelle verraten, denn die Einheimischen hielten diesen Ort geheim. Dieser Übergang erlaubte ihnen, mit allen möglichen Waren die Grenze zu überqueren, ohne die Aufmerksamkeit der Behörden zu erregen. Den Menschen hier war es egal, ob ihr König Franzose, Spanier, Holländer oder Deutscher war, solange er nur weit genug wegblieb, sie ihre Felder in Frieden bestellen konnten und sie von den gierigen Steuereintreibern unbehelligt blieben.

Die folgenden Tage folgten wieder der Routine von Reiten, Jagen oder dem Versuch, etwas zu essen und einen nächtlichen Unterschlupf zu organisieren. Manchmal fanden sie einen Bauern, der sich erweichen ließ. Oft genug jedoch wurden sie verjagt und mussten vor wütenden Hunden oder spitzen Heugabeln fliehen.

In den ersten beiden Tagen nachdem sie die Grenze überquert hatten und in Sicherheit waren, war es eine wohltuende Erleichterung, wieder zu einer Art Normalität zurückzukehren. Das Abenteuer mit der Hexe hatte sie doch mehr durcheinandergebracht, als sie offen zugestehen wollten, aber nach ein paar Tagen fanden sie das Leben ziemlich eintönig. Sie vermissten die Spannung des Abenteuers.

Pierre träumte insgeheim noch immer von seiner ersten Erfahrung mit dem Mädchen. Er war überzeugt, dass er seine Gefühle sehr gut verbarg, bis Armand kommentierte:

»Du denkst an sie, nicht wahr? Ich auch. Sie war wunderschön, einfach großartig. Wie schade, dass wir sie so schnell verlassen mussten.«

»Woher wusstest du, dass ich an sie gedacht habe?« Pierre war überzeugt gewesen, Armand täuschen zu können.

»Du hast nicht viel anderes getan, seit wir Frankreich verlassen haben.« Armand lachte. »Du wirst nie lernen, dich zu verstellen – aber um ehrlich zu sein, ich habe auch die ganze Zeit an sie gedacht.«

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Sie vertrieben sich die Langeweile, indem Armand mit seinem Unterricht fortfuhr. Pierre musste so gut werden, dass er in einem Kampf Mann zu Mann bestehen konnte. Nachdem sie die Grundschritte wieder und wieder geprobt hatten, war es an der Zeit, Pierre einige der raffinierteren Tricks mit dem Degen zu zeigen. Pierre lernte schnell und eifrig und Armand war stolz auf seinen Schüler.

Pierre war anfänglich sehr zögerlich gewesen, eine Waffe zu benutzen oder zu berühren. Aber nach und nach hatte er begonnen, das Gefühl des Degens in seiner Hand zu lieben und versuchte, eins mit ihm zu werden.

»Pierre, ein guter Kämpfer benutzt seine Waffe nicht – die Waffe ist ein Teil von ihm.« Pierre hatte gut zugehört und bald verstand er, was Armand damit sagen wollte.

Seit sie die französische Grenze überschritten hatten, reisten sie bei Tageslicht, denn hier endete die Macht des Kardinals. Von Zeit zu Zeit konnten sie sogar die Hauptstraßen benutzen, um schneller nach Calais zu gelangen, da sie nicht genau wussten, wann Marie dort ankommen würde. Sie hatten aber keinerlei Zweifel, dass Marie ihr Versprechen halten würde. Sie durften diese einmalige Gelegenheit, den Ärmelkanal zusammen mit ihr zu überqueren, auf gar keinen Fall verpassen.

Nach den vielen Nächten, die sie in Scheunen oder im Freien verbracht hatte, lockte sie die Vision eines echten Bettes mit einer weichen Matratze aus Stroh. Daher war die Versuchung groß, als sie am späten Nachmittag das einladende Schild eines Gasthauses entdeckten.

Sie beschlossen also, einen Teil ihrer spärlichen Mittel zu investieren, um endlich mal wieder ein anständiges Essen und ein richtiges Bett genießen zu können.

Aber manche Ideen sind im Nachhinein doch nicht so gut …

Der Waisenjunge und der Kardinal

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