Читать книгу Der Waisenjunge und der Kardinal - Michael Stolle - Страница 6

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Die Entscheidung

Pierre hatte die Einladung zur Teilnahme an der »Privatstunde«, von Bruder Hieronymus höchst widerwillig angenommen. Während er auf seinen Lehrer wartete, lehnte er sich niedergeschlagen an das Stehpult. Als die Dämmerung hereinbrach, lag der Raum in völliger Stille und sah noch düsterer aus als sonst.

Der vertraute Geruch von Tinte und Pergament vermischte sich mit den erdigen Düften des Gartens, die durch die geöffneten Fenster strömten. Es hatte heute stundenlang geregnet, überall stand Wasser auf den Wegen und auch Pierres Kutte roch nach muffiger Feuchtigkeit.

Pierre musste kurz eingedämmert sein, während er wartete, denn er erschrak, als er unerwartet die leichte Berührung einer Hand spürte. Er öffnete seine Augen und sah Bruder Hieronymus, der mit einer flackernden Öllampe in der Hand vor ihm stand. Sein Lehrer verzog sein Gesicht zu einem seltsamen Lächeln, das wohl einladend wirken sollte. Sein geöffneter Mund verströmte aber einen intensiven Geruch, eine ekelerregende Mischung aus saurem Wein, Knoblauch und fauligen Zähnen. Pierre würgte und versuchte schnell, die Luft anzuhalten.

Baden und Körperpflege galt bei vielen Mönchen als unchristlich, sogar ungesund und die meisten Schüler folgten gerne diesem Vorbild. Armand aber war pedantisch, wenn es um Sauberkeit ging. Pierre hatte deshalb begonnen, dem Beispiel seines besten Freundes zu folgen und verabscheute inzwischen den durchdringenden Geruch ungewaschener Körper.

Pierre begrüßte Bruder Hieronymus auf die ehrfürchtige Art und Weise, die von ihm erwartet wurde, obwohl es ihn größte Überwindung kostete. Dann schaute er schnell nach unten, um sein angewidertes Gesicht zu verbergen.

Sein Lehrer trat hinter ihn und legte dabei seine Hand um Pierres Taille, während er vorgab, seine ganze Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren, ihm ein neues dekoratives Ornament zu zeigen. Es sollte den Anfang eines Blattes aus kostbarem Pergament zieren.

Mit frisch gegerbtem Pergament und Goldtinte arbeiten zu dürfen, war ein Zeichen höchster Wertschätzung und für einen Moment vergaß Pierre den Arm um seinen Körper und konzentrierte sich auf die Aufgabe, die kostbare Tinte richtig aufzutragen. Er musste sehr vorsichtig sein und präzise arbeiten, denn Korrekturen konnten nur durch Abschaben der Tinte vom Pergament vorgenommen werden, wodurch die unermesslich kostbare Flüssigkeit verdorben und das Pergament brüchig wurde.

Dann fühlte Pierre, wie eine zweite Hand seinen Rücken hinunterfuhr, und sofort kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Verzweiflung packte ihn, und sein Herz begann zu rasen. Sein erster Impuls war zu fliehen – als ihm plötzlich eine Idee durch den Kopf schoss. Vielleicht war er verrückt, aber was konnte er verlieren?

»Bitte berühre Sie nicht meinen Rücken, Bruder Hieronymus!«, flüsterte Pierre beschämt und schüchtern. Bruder Hieronymus blaffte ihn an:

»Warum, mein Sohn? Es ist ein Zeichen besonderer Rücksichtnahme, dass ich mir die Mühe gebe, dich zu unterrichten! Nicht jeder Schüler hier hat das Privileg, überlege gut, was du im Leben erreichen möchtest.«

Pierre tat so, als ob er nach Worten suchte, und stammelte: »Es ist so beschämend, ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll … ich kam hierhin, weil ich unbedingt an diesem Unterricht teilnehmen wollte. Ich muss gestehen, ich war gerade bei Bruder Infirmarius auf der Krankenstation. Ich leide seit heute Morgen an Durchfall und fühlte mich so unwohl, dass ich sogar meine Kutte waschen musste, bevor ich hierher kam, aber …«, er stockte und fuhr dann, noch peinlicher berührt, fort: »Es will nicht wirklich aufhören.«

Pierre drehte sich um und Bruder Hieronymus sah einen großen nassen Fleck in der Höhe des Gesäßes seines Schülers.

Im Geiste dankte Pierre seinem Schutzengel dafür, dass er auf dem Weg zum Klassenzimmer ausgerutscht und geradewegs mit dem Hintern in einer Pfütze gelandet war.

Pierre fuhr flüsternd fort: »Der Bruder Infirmarius gab mir einen Trank und er ist zuversichtlich, dass es nicht ansteckend ist. Zumindest nicht sehr …« Pierre lächelte tapfer. »Aber um nichts in der Welt wollte ich Ihre Privatstunde verpassen, mon père.«

Er rückte etwas näher und richtete anbetende blaue Augen auf seinen Lehrer.

Bruder Hieronymus zog seine Hände sofort zurück und trat eilig einen großen Schritt zurück. Missmutig antwortete er: »Es ist sehr unklug von dir, mein Sohn, dass du trotzdem gekommen bist und dich nicht ausgeruht hast, wie Bruder Infirmarius es dir empfohlen haben wird. Ich suspendiere dich für heute und morgen vom Unterricht. Bete zu unserer Jungfrau Maria, dass sie dich heilen möge.«

Er schlug schnell ein Kreuz und floh aus dem Raum.

Pierre versuchte, sein Lachen zu unterdrücken, indem er sich die Faust auf den Mund drückte, aber Tränen der Freude und Erleichterung liefen über seine Wangen. Er brannte schon darauf, diese Episode mit Armand zu teilen.

Es wäre töricht gewesen, zu seiner normalen Routine zurückzukehren. Deshalb eilte Pierre schnell zur Krankenstation, wo er seine Geschichte von seinem Durchfall wiederholte und pflichtbewusst etwas von der bitteren Kräutermedizin schluckte. Bruder Infirmarius warf ihm einen langen fragenden Blick zu, aber da Pierre nicht als regelmäßiger Schulschwänzer bekannt war, stellte er keine großen Fragen. Er ermahnte ihn, später am Tag noch einmal von der Kräutertinktur zu trinken, sich auszuruhen und wiederzukommen, falls die Symptome anhalten sollten.

Um seine Geschichte glaubwürdiger zu machen, beschloss Pierre, das Abendessen auszulassen. Er steuerte den Schlafsaal der Jungen an, wo er sich auf seiner Strohmatratze niederließ und versuchte, einen Weg aus seinem Dilemma zu finden. Ihm war sehr wohl bewusst, dass er höchstens eine Woche Aufschub gewonnen hatte, und er zerbrach sich verzweifelt den Kopf, was er nur tun könnte. Armand hatte recht, entweder er akzeptierte die Annäherungsversuche seines Lehrers oder er würde dafür büßen müssen – im schlimmsten Fall sogar als Bettler auf der Straße landen. Er hatte kein Geld, keine Familie, und alles, was er besaß, waren seine beiden Kutten, eine für die Woche, eine für Sonntags.

Armand kam vorbei und fragte, was das alles zu bedeuten habe, aber Pierre war nicht in der Stimmung, ihm schon die Geschichte zu erzählen, im Nachhinein war es nicht mehr so lustig.

»Ich bin müde, treffen wir uns morgen am besten am üblichen Ort. Ich stecke in einem ziemlichen Schlamassel.«

Armand sah, dass etwas nicht stimmte, und nickte nur zustimmend. Er würde die Wahrheit schon aus seinem Freund rauskitzeln.

Später am Abend füllte sich der Schlafsaal mit den Schülern der Klosterschule. Einige Ältere machten zotige Bemerkungen über einen gewissen Jungen, der vom Unterricht befreit worden war, weil er sich noch in die Hosen machte. Wie zu erwarten hatte sich das Wissen über seinen angeblichen Durchfall schnell verbreitet. Aber Spott hin oder her, die anderen Jungen hielten trotzdem einen großen Abstand – was Pierre insgeheim lächeln ließ.

Die Nacht kam und der diensthabende Bruder kontrollierte noch einmal den Schlafsaal. Ruhe senkte sich über den Saal, aber Pierre konnte immer noch nicht einschlafen. Das Gesicht von Bruder Hieronymus und der Geruch seiner fauligen Zähne verfolgten ihn. Inzwischen war ihm auch die Kräutermedizin auf den Magen geschlagen und ihm war übel. Jetzt fühlte er sich tatsächlich krank.

Pierre warf sich auf seiner Strohmatratze hin und her, denn eine Heerschar von Bettwanzen hatte sich gerade entschlossen, ihre Abendmahlzeit auf seinem Körper einzunehmen. Ich brauche dringend neues Stroh, dachte er müde, aber vorerst konnte er nichts anderes tun, als den Ansturm dieser heimtückischen Biester zu ertragen – und sich zu kratzen.

Er lag auf dem Rücken und starrte schlaflos in die Dunkelheit. Dann hörte er das Rascheln von Stroh und Decken, das Getrappel der nackten Füße auf dem Steinboden, als einige Jungen ihre Betten verließen. Sie wussten, dass der nächste Mönch erst gegen Mitternacht kontrollieren würde. Einer der Schüler pinkelte in seinen Nachttopf und in der nächtlichen Stille hallte es durch den Raum wie ein Wasserfall.

Das ist wahrscheinlich Jean, dachte Pierre müde – er isst und trinkt immer wie ein Schwein. Einige Zeit später konnte er Silhouetten erkennen, die sich im Mondschein bewegten. Er hörte wieder das Rascheln des Strohs, dann kurz darauf das Stöhnen und andere Geräusche, die mit den Sünden des Fleisches zusammenhingen.

Pierre war weder überrascht noch war er wirklich beunruhigt. Da er sein ganzes Leben lang in der Klosterschule gelebt hatte, kannte er die nächtlichen Routinen und war erfolgreich damit gewesen, die Annäherungsversuche anderer Jungen abzuwehren, bis allgemein bekannt und akzeptiert war, dass er allein sein wollte.

Als er sich umdrehte, sah er plötzlich, wie Armand vorsichtig aufstand und etwas unter seine Decke stopfte, um das Bett besetzt aussehen zu lassen. Dann lief Armand mit nackten Füßen und Stiefeln in der Hand auf Zehenspitzen zur Tür des Schlafsaals. Die Tür öffnete sich geräuschlos und war überraschenderweise nicht verriegelt. Pierre kam zu dem Schluss, dass nicht nur jemand die Tür vor Kurzem geölt haben musste – der wachhabende Mönch musste auch ein gutes Schmiergeld bekommen haben.

Pierre seufzte und konnte ein paar eifersüchtige Gedanken nicht verdrängen. Er wusste, dass Armand sich nachts ab und zu mit jungen Frauen in der Stadt traf. Armand konnte kein Mädchen widerstehen, dessen war sich Pierre sicher.

Für mich gibt es nur Bettwanzen und Hieronymus, dachte er kläglich und plötzlich überkam ihn ein Gefühl der Wut und des Ekels. Ich tu’s nicht, ich gehe!, dachte er und fühlte sich gleich viel besser. Ich werde zur See fahren oder in die Armee gehen, was auch immer, aber ich werde mich nicht verkaufen, um einen warmen Platz im Klerus zu bekommen. Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte er sich erleichtert, eine große Last war von seiner Seele genommen.

Besser noch, er fühlte sich wieder lebendig. Abenteuer und ein aufregendes neues Leben warteten auf ihn. Er hatte bisher noch nie das Meer gesehen, nun würde er neue Länder entdecken, exotische Orte besuchen, vielleicht sogar bis nach Venedig und weiter in den Orient reisen. Die Klosterbibliothek besaß wunderschön gemalte Weltkarten, geschmückt mit Bildern von wilden Tieren und nackten Heiden und wann immer Pierre eine Gelegenheit gefunden hatte, hatte er sich heimlich in diese Abteilung geschlichen. Dort hatte er sich die wunderbaren Bilder angeschaut und mit den Fingern die Grenzen, Flüsse und Umrisse der Länder mit den sonderbarsten Namen verfolgt, die ihn zum Träumen brachten.

Pierre fiel fast unmittelbar nach seiner Entscheidung in einen tiefen und friedlichen Schlaf. Sobald seine Augen geschlossen waren, sah er all diese wunderbaren Orte und aufregenden fremden Städte in seinen Träumen und er schlief mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

***

Am nächsten Tag machte er Armand ein Zeichen, dass er mit ihm in ihrem geheimen Versteck im Garten sprechen wollte. Das Wetter hatte sich geändert, der Regen war abgezogen und alle Schüler und selbst die Mönche waren bester Laune, denn es versprach ein schönes und sonniges Pfingstwochenende zu werden.

Das Gras auf der Wiese war noch frisch vom Regen, nur ein paar verbliebene Regentropfen glitzerten wie Diamanten. Die Vögel hatten beschlossen, ihr Bestes zu geben, und die Bühne war eigentlich bereit für einen idyllischen Nachmittag. Aber Pierre hatte keine Augen für die Pracht, die die Natur um ihn herum so verschwenderisch zur Schau stellte.

Ungeduldig wartete er auf die Ankunft seines Freundes. Schließlich erblickte er Armand, wie dieser sich der Wiese näherte. Sein Freund blickte vorsichtig um sich, um sich zu vergewissern, dass er nicht beobachtet wurde, dann kletterte er auch auf den Baum.

Armand nahm sich – für Pierres Geschmack zu viel – Zeit, um bequem Platz zu nehmen. Dann durchsuchte er umständlich seine Taschen, bis er eine kandierte Pflaume fand, und steckte sie in den Mund. Er ignorierte Pierre, bis Pierre fast platzte. Endlich aber hatte er Mitleid mit seinem Freund:

»Komm schon, spuck’s aus. Man sieht meilenweit, dass du vor Neuigkeiten strotzt!«

Armand grinste ihn freundschaftlich an, knabberte an den Resten der ersten Pflaume und suchte mit klebrigen Händen nach der nächsten. Er bot sie Pierre an, der aber dankend ablehnte.

»Du musst wirklich krank sein«, kommentierte Armand trocken. »Ich habe noch nie gesehen, dass du etwas Süßes abgelehnt hast. Scheint ja um etwas wirklich Ernstes zu gehen. Schieß los!« Tatsächlich waren die letzten Worte schwer zu verstehen, denn Armand mampfte fröhlich die zweite kandierte Pflaume und seufzte vor Vergnügen. »Köstlich, du verpasst etwas!«

Pierre unterdrückte den Drang, ihn zu ohrfeigen, denn es war deutlich, dass Armand ihn auf den Arm nahm. Dabei hatte Pierre lange darüber nachgedacht, wie er die ganze Geschichte wortgewandt präsentieren könnte, um sicherzustellen, dass sein Freund ihn verstehen und auch unterstützen würde.

Seine sorgfältig einstudierte Rede war aber vergessen, als seine Gedanken zu der Begegnung mit dem Lehrer zurückkehrten, und er stotterte nur noch:

»Ich habe beschlossen, das Kloster zu verlassen, sofort … ich kann es einfach nicht ertragen«, und zu seinem großen Entsetzen rollten ihm unmännliche Tränen über die Wangen, Gott sei Dank von Armand ignoriert, wofür Pierre ihm sehr dankbar war.

Armand sah Pierre wie ein Häufchen Elend vor sich sitzen. Er runzelte die Stirn:

»Ich hatte schon befürchtet, dass du so reagieren würdest. Was genau ist passiert?«

Schnell erzählte Pierre die Geschichte der ’Privatstunde’ von Bruder Hieronymus. Zuerst hörte Armand ihm ernst und mit besorgtem Gesicht zu, aber als Pierre zum Höhepunkt kam und seinen genialen Einfall vom vorgetäuschten Durchfall erzählte, fiel Armand vor Lachen fast vom Baum. Pierre hatte sich inzwischen etwas entspannt und ahmte die scheinheilige Stimme von Bruder Hieronymus nach, die am Ende ihrer Begegnung allerdings immer schriller geworden war.

Der Lehrer war in der ganzen Klosterschule als Hypochonder bekannt.

»Das ist einfach wunderbar! Diese miese Kröte! Geschieht ihm recht!« Sein Freund keuchte vor Lachen und es dauerte eine Weile, bis sie aufhören konnten zu kichern und wieder ernst wurden.

»Was willst du jetzt unternehmen?«, fragte Armand schließlich sachlich und kehrte in die Realität zurück.

»In die königliche Armee eintreten oder Matrose werden!«, antwortete Pierre stolz. »Die meisten Jugendlichen beginnen schon viel früher, zu arbeiten«, sagte Pierre. »Ich werde einfach das Kloster verlassen und irgendwie werde ich schon meinen Weg finden …«

Doch bevor er seinen Plan weiterspinnen konnte, unterbrach ihn Armand: »Um dich einfangen zu lassen und im Handumdrehen ins Kloster zurückgebracht zu werden. Es wird wahnsinnigen Ärger geben, wenn du einfach verschwindest. Der Abt persönlich wird sich einschalten. Komm schon, wach auf, das hier ist kein Traum, du brauchst einen realistischen Plan!«

Pierre stutzte, Armand hatte recht, wie leider recht häufig, denn er hatte Erfahrungen außerhalb der Klostermauern sammeln können. Es war Pierre alles so einfach erschienen. Aber er fühlte sich trotzdem ermutigt; Armand hatte ihm immerhin nicht gesagt, er solle seinen Plan sofort vergessen.

Sie fingen an, über verschiedene Optionen und Strategien nachzudenken, aber nichts schien wirklich zu funktionieren. Pierre hatte im Waisenhaus des Klosters gelebt, seit er sich erinnern konnte, das hieß, sein ganzes Leben. Er musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wie man seinen Lebensunterhalt verdient, wie man reitet, dass er weder Geld noch andere weltliche Besitztümer besaß, dass er nicht einmal die Namen der Städte auf dem Weg zur Küste kannte. Seine Situation wurde umso deprimierender, je mehr sie die Details besprachen.

Was wie ein einfacher und aufregender Ausweg aus dem Elend und ein großes Abenteuer ausgesehen hatte, war zu einem komplizierten Rätsel geworden, das Pierre zutiefst deprimierte.

Armand konnte sehen, wie der eifrige Gesichtsausdruck seines Freundes verschwunden war; die blauen Augen, die vor Aufregung gebrannt hatten, verdunkelten sich und seine Schultern sackten ab, sein fröhlicher Freund war zu einem Häufchen Elend geworden. Es war also an der Zeit, die Stimmung seines Freundes zu heben, nachdem er ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte und mit der Entwicklung eines realistischen Plans zu beginnen.

»Was immer du machen willst, wir müssen zuerst deine wahre Identität herausfinden«, sagte er fast beiläufig.

»Ich bin das Waisenkind Pierre, Dummkopf, wer sonst?«, sagte Pierre und sah Armand an, als ob er verrückt wäre.

»Welcher Pierre?«, antwortete Armand. »Hast du dir diese Frage nie gestellt?«

Pierre zögerte und flüsterte: »Natürlich habe ich das, häufig sogar. Aber immer, wenn mir mögliche Antworten einfallen, sind sie gleich schlecht: Sohn einer Hure? Ein uneheliches Kind, zurückgelassen, ungewollt? Natürlich habe ich mir diese Frage immer wieder gestellt, aber um ehrlich zu sein, habe ich Angst davor, die Wahrheit herauszufinden, ich möchte sie lieber nicht wissen.«

»Du bist so naiv, dass es schon wehtut.« Armand schüttelte ungläubig den Kopf.

»Unsere Schule ist eine der besten und teuersten Schulen Frankreichs – wir stehen unter der direkten Schirmherrschaft des Erzbischofs von Reims, desjenigen Bischofs, der das alleinige Recht hat, die Könige Frankreichs zu salben. Glaubst du wirklich, dass unsere lieben Mönche dich aus einem Waisenhaus ins Kloster geholt und dir einen Platz an dieser Schule gegeben hätten, wenn weder Geld noch Einfluss im Spiel gewesen wären? Kannst du wirklich so viele Jahre hier gelebt haben und immer noch glauben, dass unser Abt so etwas tun würde, ohne eine saftige Entschädigung für seine Großmut zu erwarten?«

Pierre sah ihn verwirrt an. Er gab es nur ungern zu, aber natürlich hatte Armand Recht, das Kloster erwartete immer eine Gegenleistung – selbst Beerdigungen waren nicht umsonst. Den ärmsten Seelen wurden sogar die Segnungen der geheiligten Erde der Friedhöfe verweigert, wenn ihre Angehörigen das Geld nicht aufbringen konnten.

»Gut, du hast recht, aber was ändert das?«, fragte Pierre, trotzig und wütend.

»Alles!«, antwortete Armand. »Wenn wir wissen, woher du kommst, können wir Verwandte finden, zu denen du gehen und dich verstecken kannst, bis die Mönche die Suche aufgeben. Du bist viel zu jung und unerfahren, um ohne Geld und ohne einen vernünftigen Plan zu fliehen.«

Er suchte in seinen Taschen nach einer weiteren gezuckerten Pflaume, aber vergeblich. Er zog ein Gesicht und fuhr fort. »Ich dachte, ich hätte noch eine Pflaume, schade … wir haben Glück, dass wir noch mindestens zwei Wochen Zeit haben, um etwas zu planen. Am besten täuschst du die nächsten zwei Tage weiterhin deine Krankheit vor. Ich weiß zufällig, dass Bruder Hieronymus nächste Woche eine Diözese außerhalb von Reims besuchen will. Danach ist Pfingsten und traditionell dürfen wir dann das Kloster verlassen, um dem Gottesdienst in der großen Kathedrale beizuwohnen.«

Während seiner Rede wurden sie von einer Katze abgelenkt. Sie war ein schönes Tier, grau getigert lag sie unter dem Baum, gähnte und genoss die Wärme der letzten Sonnenstrahlen. Plötzlich änderte sich das Verhalten der Katze, sie wurde aufmerksam und zuckte mit dem Schwanz.

»Ich wette, sie hat gerade eine Maus entdeckt«, sinnierte Pierre. Sie kannten die Katze gut – sie war das Haustier von Bruder Infirmarius und tauchte oft im Klosterspital auf. Manchmal präsentierte sie dabei stolz eine tote Maus, die sie als besonderes Geschenk für ihren Wohltäter mitbrachte.

Die Katze sprang auf, stürzte sich auf ein unsichtbares Ziel und verschwand im Gebüsch. Armand hatte die Katze beobachtet und wie aus heiterem Himmel, schlug er Pierre mit der Hand auf den Rücken. Jubelnd rief er aus: »Das wars! Ich habe einen brillanten Plan, die Katze ist der Schlüssel! Ich kann mir nicht helfen, ich bin einfach genial.«

Pierre starb vor Neugierde, aber nichts konnte Armand dazu bewegen, seinen Plan zu erklären, obwohl Pierre ihn anflehte, ihm schmeichelte und schließlich sogar versuchte, ihn zu bestechen, indem er ihm einen Teil seines Abendessens versprach. Dies war ein Trick, der normalerweise immer funktionierte.

»Du wirst sehen, es wird lustig, wir werden uns prächtig amüsieren. Vertraue mir. Ich kann dir jetzt nicht mehr dazu sagen. Du bist viel zu direkt und ehrlich, es ist besser für uns beide, wenn du meinen Plan nicht kennst.«

Armand hielt inne und fügte rätselhafterweise hinzu: »Überraschung ist die Mutter der Kriegskunst, pflegt mein Vater zu sagen und er ist ein kluger Mann.«

Die Zeit war schnell vergangen und die Sonne schickte sich an unterzugehen. Das milde Licht warf schon lange Schatten, während die letzten Sonnenstrahlen durch das dichte Blattwerk der Bäume strömte, dabei bildeten sie goldene Muster, die auf dem Boden tanzten.

Aber sie hatten keine Zeit, um die Schönheit zu genießen, denn die Glocken begannen zur Compline zu läuten, eine Aufforderung, die sie unmöglich ignorieren konnten.

Armand lief hinüber zur Kapelle, um dem Gottesdienst beizuwohnen, und ein äußerst frustrierter Pierre ging langsam zurück in den Schlafsaal. Armand hatte grinsend darauf bestanden, dass er sich noch einmal den Hintern nass machen sollte, um seine fiktive Krankheit glaubhafter zu machen.

***

Pierre hatte sich gerade auf seiner Strohmatratze niedergelassen, als Bruder Infirmarius auftauchte.

»Hier ist also mein junger Patient«, bemerkte er in seiner gewohnt freundlichen und fröhlichen Art, aber seine klugen Augen blickten direkt in die Tiefe von Pierres Herz und Seele. Armand hatte Recht gehabt – Pierre wusste nur zu gut, er war ungeschickt, wenn es darum ging, etwas zu verbergen. Selbst er musste dies eingestehen.

In einem vertraulichen Plauderton fuhr Bruder Infirmarius fort: »Was machst du hier? Du bist doch nicht wirklich krank – oder?«

Pierre krächzte: »Mir geht es wirklich nicht gut.« Dabei versuchte er, überzeugend krank auszusehen. Inzwischen hatte er solche Angst, dass die Wahrheit ans Licht kommen könnte, dass er es wirklich geschafft hatte, wenn nicht krank, doch zumindest totenblass auszusehen.

»So etwas hast du doch noch nie getan«, sagte der Bruder und schaute ihn misstrauisch an und fuhr fort: »Seltsamerweise hast du Bruder Hieronymus erzählt, dass du auf meiner Krankenstation gewesen bist, allerdings, bevor du zu mir kamst – das ist schon etwas merkwürdig …«

Pierres blaue, flehende Augen waren weit geöffnet, und wie ein verängstigtes Tier blickte er zu Bruder Infirmarius auf, der lange innehielt.

Schließlich lächelte sein Peiniger. Er mochte Pierre gut leiden und sagte:

»Mach dir nicht zu viele Sorgen, ich muss gestehen, dass ich einfach vergessen habe, diesen seltsamen Zufall meinem lieben Bruder Hieronymus gegenüber zu erwähnen. Aber ich schlage vor, dass du morgen in der Kirche drei Rosenkränze betest und um Vergebung deiner Sünden bittest, wenn du zur Beichte gehst … und ich erwarte, dass du morgen früh wie gewohnt am Gottesdienst in unserer Kapelle teilnehmen wirst.«

Pierre drückte seine Hand, seine Kehle war wie zugeschnürt, er konnte vor Erleichterung nicht sprechen. Bruder Infirmarius lächelte nur, er hatte keine Antwort erwartet und wandte seinen Blick auf das kleine leere Fläschchen mit seiner Medizin, das neben der Matratze lag.

»Eigentlich hast du deine Strafe schon bekommen«, schmunzelte er. »Ich bin sicher, meine Kräuter haben dir gestern ganz schön zugesetzt.«

Mit einem leichten Glucksen über diesen Scherz verließ er den Schlafsaal und ließ einen äußerst erleichterten Pierre hinter sich.

Der Waisenjunge und der Kardinal

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