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Prolog

Ein munteres Feuer prasselte in dem imposanten Marmorkamin der Bibliothek. Ein Schauer goldener Funken löste sich von einem glühenden Holzscheit und verschwand tanzend im Kamin. Das knackende Geräusch hallte durch die Bibliothek des Gebäudes, das jeder in Paris einfach als »le Palais du Cardinal«, kannte.

Le Palais war der neue Palast Seiner Eminenz, des Kardinals Richelieu, dem verehrten – allerdings ebenso häufig verhassten – Premierminister Frankreichs.

Die Bibliothek wurde nicht nur durch das lodernde Feuer erhellt, unzählige Kerzen waren verschwenderisch auf Tische, Regale und auf den Schreibtisch aus polierter Eiche gestellt worden. Dieser beherrschte einen Raum von wahrhaft beeindruckenden Proportionen. Der massive Schreibtisch war beladen mit Pergamentrollen, gekritzelten Notizen, ledergebundenen Büchern zu verschiedenen Themen, einem Gebetbuch und einer juwelenbesetzten Bibel – so wie es im Allerheiligsten des mächtigsten französischen Ministers und zugleich höchsten Geistlichen Frankreichs zu erwarten war.

Wie üblich arbeitete Kardinal Richelieu bis spät in die Nacht. Wie eine scharlachrote Spinne saß er im Zentrum eines Netzwerks der Macht, ein Netzwerk, das er über Jahre eifrig gesponnen und immer weiter perfektioniert hatte. Harte Arbeit, Genie und auch ein Quäntchen Glück hatten ihn von der Position des unbekannten Bischofs von Luçon an die Macht katapultiert, um der zweite – böse Zungen würden sogar sagen, der erste – Mann im Staate zu werden.

Seine dunklen Augen sahen wachsam und neugierig in die Welt, aber die dunklen Ringe um seine Augen waren ein deutliches Zeichen von Schlafmangel. Das hagere Gesicht wurde von einer markanten römischen Nase dominiert und seine Haut hatte einen ungesunden, wächsernen Teint. Die ehemals eleganten Hände – einst eine Quelle seines Stolzes – ähnelten immer mehr knöchernen Krallen, eine Folge seines Rheumatismus, der sich unbarmherzig durch seinen Körper fraß.

Auf seinem Schreibtisch standen Kerzenständer aus massivem Gold, verschwenderisch besetzt mit funkelnden Diamanten und Rubinen. Gemälde des Königs von Frankreich, aber auch verschiedener Heiliger in ihrem Martyrium prangten auf den wenigen freien Wänden, die nicht von Bücherregalen bedeckt waren.

Das Martyrium der Heiligen auf den Gemälden sah bedrückend realistisch aus. Sie schienen sich in ihrem Schmerz zu bewegen, eine Folge der gespenstigen Wirkung des flackernden Lichts und der zuckenden Schatten, die das Feuer und das Kerzenlicht warfen.

Das Feuer im Kamin wurde auf Befehl Seiner Eminenz Tag und Nacht am Brennen gehalten, denn die Nächte in Paris waren zu Beginn des Frühlings noch recht kühl und der Kardinal brauchte Wärme. Seine Gesundheit war schon immer schwächlich gewesen und es war ein offenes Geheimnis am Hofe, dass sie sich in den letzten Jahren verschlechtert hatte. Viele Jahre lang schon hatte es Kardinal Richelieu nicht vermocht, mehr als zwei oder drei Stunden pro Nacht zu schlafen. Deshalb zog er es vor, weiter zu arbeiten, bis ihn die Müdigkeit überwältigte. Die Arbeit half ihm, den unerbittlichen Schmerz zu vergessen, der in den letzten Jahren zu seinem ständigen Begleiter geworden war und ihn unbarmherzig quälte.

Zur Verzweiflung seiner Sekretäre und aller seiner Bediensteten wurde auch von ihnen erwartet, dass sie immer zur Verfügung standen und dem Kardinal zu jeder Tages- oder Nachtzeit – wann immer es Seiner Eminenz beliebte – dienen sollten.

Kardinal Richelieu saß hinter seinem Schreibtisch, noch immer in der scharlachroten Robe gekleidet, die er getragen hatte, als er den heutigen Kronrat geleitet hatte. Er las gerade die letzten vertraulichen Nachrichten, die per Sonderkurier aus Lissabon eingetroffen waren, und plötzlich spielte ein zufriedenes Lächeln auf seinen dünnen Lippen.

Seine dunklen Augen brannten vor Freude, während er die Reflexe des Kerzenlichts beobachtete, die sich auf den Kerzenständern und seiner goldenen Bibel widerspiegelten. Der Kerzenschein ließ die Rubine und Diamanten aufglühen. Richelieu liebte das Gold und die Macht – und er verehrte den Erfolg.

Seine Gedanken kehrten zu der Depesche zurück, die er gerade gelesen hatte. Das Königreich Portugal stand kurz davor, sich von Spanien zu lösen und die Unabhängigkeit zu fordern. Er hatte es geschafft – er hatte dem König von Spanien gerade einen tödlichen Schlag versetzt. Fast hatte er Mitleid mit diesem degenerierten Spross der Habsburger, dem Resultat von Generationen von inzestuösen Ehen, der wie eine Mumie in seinem dunklen, kerkerartigen Schloss in der Nähe von Madrid saß. Ein König, der einfältig genug gewesen war, um das größte Erbe, das Europa je hatte bieten können, in nur einer Generation zu vergeuden.

Kardinal Richelieu hatte nicht einmal zwei Jahrzehnte benötigt, um Frankreich zum mächtigsten Königreich Europas zu machen – und es wurde von Tag zu Tag stärker.

Sein diensthabender Sekretär trat ein und kündigte an, dass Bruder Joseph aus dem Dominikanerorden trotz der späten Stunde mit ihm sprechen wolle.

»Ist es dringend?«, fragte der Kardinal, zögernd, zur Routine des Tagesgeschäfts zurückzukehren.

»Ich fürchte, ja, Eure Eminenz, Bruder Joseph möchte Sie sofort sehen, aber er hat mich verstehen lassen, dass er der Überbringer einer guten Nachricht ist!«

Richelieu nickte zustimmend und nur Sekunden später trat ein Mönch mittleren Alters ein, kniete vor dem Kardinal und küsste den Ring auf der knochigen Hand, die ihm entgegengestreckt wurde.

»Du warst erfolgreich«, bemerkte der Kardinal beiläufig, anstatt zu fragen.

»Ja, Eure Eminenz, ich habe das Versteck der Person, die wir gesucht haben, entdeckt, und«, hielt er inne, um Luft zu holen, das Gesicht geprägt von Ehrfurcht, »ich habe mit eigenen Augen die Dokumente einsehen können, die unseren Verdacht bestätigen.«

»Damit kann der Kampf beginnen«, sprach der Kardinal, wobei sein wacher Verstand bereits verschiedene Optionen abwägte. Er blickte Bruder Joseph an und fügte salbungsvoll hinzu: »Und wir werden dafür sorgen, dass es nur einen Sieger geben wird: unsere heilige Mutter, die Kirche«,

Stillschweigend und nur in Gedanken fügte er hinzu … und natürlich meine eigene Schatzkammer.

Der Unterhalt des größten europäischen Netzwerks von Spionen und Agenten war ein kostspieliges Unterfangen und der Kardinal brauchte Geld – der einzige Aspekt seines Lebens, der sich in all den Jahren nie geändert hatte.

Die Jagd war eröffnet.

Der Waisenjunge und der Kardinal

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