Читать книгу Der Waisenjunge und der Kardinal - Michael Stolle - Страница 9

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Ein Plan wird ausgeheckt

Pierre zitterte vor Aufregung und flüsterte: »Sieh mich nicht so komisch an! Ich kann damit leben, dass meine Eltern Diebe oder Ausgestoßene waren, aber«, und er sah Armand mit flehenden Augen an, »bitte lass uns Freunde bleiben. Das ist alles, was mir wichtig ist!«

Armand schaute ihn an, aber Pierre konnte diesen merkwürdigen Blick nicht deuten. Dann steckte sein Freund die Dokumente vorsichtig zurück in seine Weste:

»Glaube mir, was immer ich in diesen Dokumenten gefunden hätte, hätte unsere Freundschaft nicht verändert. Du bist mein bester Freund, und du wirst mein bester Freund bleiben, einfach weil du Pierre bist, ungeachtet des Namens, den du später einmal tragen wirst. Glaubst du mir das?«

Pierre konnte nicht sofort antworten, seine Erleichterung war einfach zu groß. Er umarmte Armand und nachdem er eine heimliche Träne verdrückt und sich geräuspert hatte, konnte er schon fröhlicher antworten: »Also gut, lass mich raten! Ich wette, mein Vater war der größte Galgenvogel von Reims?«

»Nicht wirklich«, erwiderte Armand.

»Schlimmer?«, sagte Pierre. »Vielleicht der größte Frankreichs?«

»Schon wieder falsch!«, sagte Armand. »Ist dir denn nie in den Sinn gekommen, dass dein Vater ein ehrenhafter Mensch gewesen sein könnte?«

»Klingt fast langweilig«, erwiderte Pierre, aber in Wirklichkeit fühlte er sich erleichtert, vielleicht ist die Wahrheit doch nicht so schlimm, dachte er und Hoffnung keimte in ihm auf.

Armands Tonfall änderte sich, er klang jetzt sehr ernst, fast besorgt: »Pierre, laut den Dokumenten hier, war dein Vater der Marquis de Beauvoir, Comte de Saumur, usw.«

Pierre saß da wie versteinert und versuchte, die Worte zu verstehen. Es konnte einfach nicht sein. Er hörte die Worte, aber sie machten keinen Sinn. Sein Vater ein Marquis? Unmöglich, er war eine arme Waise im Kloster gewesen, seit er sich erinnern konnte: Armand gaukelte ihm einen gefährlichen und verführerischen Traum vor, keinesfalls konnte das die Wahrheit sein.

»Lass mich erklären, was ich aus den Dokumenten ersehen kann und versuchen, dir das etwas besser zu erklären«, fuhr Armand langsam fort, da er sah, dass sein Freund wie versteinert vor ihm saß. »Es ist wichtig, dass du alles gut verstehst, denn«, er schaute seinen Freund aufmerksam an, der immer noch Schwierigkeiten hatte, sich auf Armands Worte zu konzentrieren, »ich fürchte, du kannst in Gefahr sein.«

»Ich, Gefahr? Warum? Unmöglich!«

Pierre schüttelte den Kopf. »Das ist alles Unfug, das kann alles nicht stimmen. Ich bin eine Waise, mein Vater ist kein Marquis, denn er hätte niemals zugestimmt, mich in ein Waisenhaus im Kloster zu stecken, als wäre ich das Kind eines Bettlers. Das macht keinen Sinn! Jemand macht sich einen Scherz auf meine Kosten. Nicht nur, dass ich keine Ahnung von adligen Gepflogenheiten habe, sondern sieh mich an«, fuhr er fort und zeigte auf seine fleckige Kutte, »sieht das in irgendeiner Weise adlig aus?

Pierre steigerte sich in eine Wut, sodass seine Stimme immer lauter wurde. Armand packte Pierre an den Armen, zog ihn zu sich heran und legte seine Hand über Pierres Mund und zischte ihm ins Ohr: »Halt die Klappe, du Dummkopf. Sie werden uns hier jeden Moment entdecken, wenn du weiter so rumschreist. Lass mich alles erklären, d’accord?«

Pierre schluckte, nickte und Armand nahm endlich die Hand von seinem Mund. Dann setzte er seine Erklärung fort:

»Dein Vater, der Marquis de Beauvoir, war ein sehr wohlhabender Mann, der große Ländereien an der Loire besaß. Er hatte einen jüngeren Bruder, Louis Philippe de Beauvoir, der auch einen Sohn hat, deinen Cousin Henri.«

In Pierres Kopf begann sich alles zu drehen. In nur zwei Minuten wurde er von einer Situation, in der er weder Vater noch Mutter hatte, zu einem Jungen mit einer vollständigen Familie, nebst Onkel und Cousin, katapultiert. Es war fast unheimlich.

Armand schaute sich weiter um, um sicherzugehen, dass sie nicht belauscht wurden. »Dein Vater hatte sich offenbar in eine Engländerin verliebt. Ihr Name war Margaret de Neuville, eine Protestantin«, und automatisch schlug Armand ein Kreuz, um das Böse abzuwehren, so wie es ihnen im Kloster eingebläut worden war.

»Sie heirateten und du bist das Ergebnis. Zum Glück hat deine Mutter sich vor ihrem Tod entschieden, den wahren Glauben anzunehmen und katholisch zu werden.« Armand holte tief Luft und fuhr fort. »Nach ihrem Tod, kurz nach deiner Geburt, erkrankte auch dein Vater. Er wusste, dass er bald sterben würde. An diesen Teil der Geschichte erinnere ich mich aus den Erzählungen meines Vaters: Es war allgemein bekannt, dass die Brüder der Familie de Beauvoir einander hassten, ganz Paris tratschte damals darüber. Dein Vater vermutete daher, dass dein Onkel alles versuchen würde, um der nächste Marquis zu werden, folglich war dein Vater um deine Sicherheit äußerst besorgt. Er schrieb einen Brief an den Erzbischof von Reims, den Vorgänger unseres jetzigen Bischofs, da sie anscheinend seit ihrer Jugend befreundet waren. Eine Kopie dieses Briefes ist hier bei den Dokumenten. Er bat den Erzbischof, dich in diesem Waisenhaus unter seinem Schutz zu verstecken, bis du erwachsen würdest und vom König in dein Erbe eingesetzt werden könntest.«

Pierre empfand ein eigenartiges Gefühl der Wärme und Dankbarkeit gegenüber dieser unbekannten Mutter, die ihren Glauben aufgegeben hatte, wahrscheinlich um ihn zu beschützen, und gegenüber seinem Vater, der alles getan hatte, um für seinen Sohn ein sicheres Versteck zu finden, als er wusste, dass sein Ende nahe war. Er schaute in den Himmel – ja, sie würden dort sein, irgendwo bei den Heiligen und wahrscheinlich auf ewig glücklich im Reiche Gottes.

Armand unterbrach diese Träumerei und fuhr mit sachlicher Stimme fort. »Dann traf dein Vater eine sehr gefährliche Entscheidung, zumindest in meinen Augen. Er verfügte in seinem Testament, dass du sein Alleinerbe bist – aber«, Armands Stimme wurde scharf, »er fügte einen Absatz hinzu, in dem er der Kirche und der Krone den größten Teil des Vermögens vermacht, das nicht durch Fideicommissum gebunden ist. Sprich, wenn du stirbst, bevor du das Erwachsenenalter erreichst, können die Kirche und die Krone ein reiches Erbe erwarten.«

»Was ist ein Fideicom …«, fragte Pierre, der Probleme hatte, das komplizierte Wort richtig auszusprechen.

»Es ist der Teil ihres Erbes, der an den Titel gebunden ist und nicht verschenkt oder verkauft werden kann«, antwortete Armand. Er lächelte. »Das ist der Grund, warum in meinem Fall nicht viel für das jüngste Kind übrig bleibt, der Großteil des Erbes meines Vaters geht automatisch an den ältesten Sohn.

»Aber das macht doch Sinn«, protestierte Pierre heftig in Verteidigung seines Vaters. »Er wollte mich beschützen und dafür sorgen, dass das Erbe an die Kirche geht, falls mein Onkel versucht, mir etwas anzutun!

«Solange er dem Erzbischof vertrauen konnte, ja«, erwiderte Armand, »aber jetzt hat Kardinal Richelieu die Zügel in Frankreich in der Hand und wo immer er die geringste Chance sieht, Geld für die Regierung oder die Kirche zu ergattern, ergreift er jede Gelegenheit. Wenn er von diesem Testament Kenntnis hat, können wir gleich einen Grabstein für dich bestellen.«

Pierre war schockiert. »Bist du sicher?«, fragte er schwach. »Wir müssen doch jeden Sonntag in der Kirche für seine Gesundheit beten!«

«Nun, wir sollten besser damit aufhören«, sagte Armand, der immer praktisch veranlagt war. »Ich könnte dir mindestens ein Dutzend Fälle nennen, in denen der Kardinal seine Finger im Spiel hatte. Mein Vater verfolgt das sehr aufmerksam, da er davon überzeugt ist, dass selbst eine Familie wie die unsere, heutzutage vorsichtig sein muss. Man kann nicht umhin, den Kardinal zu bewundern, er ist einfach brillant, aber so gefährlich wie eine Giftschlange!«

Pierre versuchte, diese Flut an Informationen zu verdauen, aber einmal mehr schien sein Gehirn Schwierigkeiten zu haben, alles zu verstehen und zu verarbeiten. Er vertraute aber auf Armands Wissen über die Welt der Politik. Da Pierre sein ganzes Leben in einer abgeschiedenen Klosterschule verbracht hatte, hatte er keine Ahnung vom wirklichen Leben außerhalb dieser Mauern. Nie hatte er Reims verlassen und die sonntäglichen Besuche in der Kathedrale und in der Stadt galten als die größten Ereignisse seines bisherigen Lebens – die einzigen Abenteuer, die er je erlebt hatte.

Pierre verstand instinktiv, dass er schnell aus dieser Enge, aus seiner beschränkten Welt, die so klein war wie ein Goldfischglas, herauskommen musste. Nicht nur, weil Armand ihm sagte, dass sein Leben in Gefahr sein könnte, sondern auch, weil er erwachsen werden musste. Und das sehr schnell! Wenn es stimmte, dass er ein Erbe und sogar ein Marquis war, dann musste er lernen, dieser neuen Rolle gerecht zu werden.

Armand konnte Pierres Gedanken nicht lesen, aber er war erstaunt, wie gelassen sein Freund die Nachricht aufgenommen hatte. Verblüfft wurde er Zeuge einer Veränderung seines Freundes; Pierre war nie nur ein durchschnittlicher Schüler in ihrer Schule gewesen. Er war sehr klug und hatte adeliges Aussehen und Auftreten – und ein Teil seines Charmes bestand darin, dass er sich dessen überhaupt nicht bewusst war.

Nun schien es, als hätte der Schmetterling den Kokon verlassen. Pierre strahlte ein neues Selbstvertrauen aus, er schien sich innerhalb weniger Minuten von einem sympathischen Jungen in einen aufstrebenden, jungen Mann verwandelt zu haben.

Himmel, welch eine Änderung, dachte Armand, wenn Marie ihn das nächste Mal sieht, sollte er besser aufpassen. Sie war bereits von dem bescheidenen Jungen mehr als nur eingenommen, jetzt wird es gefährlich

»Du bist also auch der Meinung, dass ich schnell fliehen sollte, nicht nur wegen Bruder Hieronymus«, erklärte Pierre aufgeregt. »Dann brauchen wir einen Plan!«

»Lieber einen guten«, antwortete Armand, »denn ich bin mir ziemlich sicher, dass du deinen lieben Onkel, deinen Cousin und die Spione von Richelieu in kürzester Zeit im Nacken haben wirst, noch bevor du dein Erbe einfordern kannst.«

Er blickte seinen Freund besorgt an: »Wenn ich nur daran denke, bekomme ich eine Gänsehaut. Du wirst bald siebzehn Jahre alt, aber du hast überhaupt keine Erfahrung. Weder wie man reist, arbeitet, kämpft noch wie man seinen Lebensunterhalt verdient. Wie soll das nur gut gehen?«

Pierre antwortete tapfer:

»Du hast ja recht, aber vielleicht musst du mir nicht alle Probleme auf einmal unter die Nase reiben? Ja, ich weiß, ich bin unerfahren, aber irgendwie weiß ich jetzt, dass meine Eltern mich von oben beschützen werden. Das klingt dumm, naiv und verrückt, aber ich fühle es. Lass uns einen Plan machen, wie ich hier schnell rauskomme. Wir müssen die Mönche ein oder zwei Tage lang täuschen, bevor sie begreifen, was passiert ist. Nach allem, was du mir erzählst, ist doch offensichtlich, dass ich Frankreich schnellstens verlassen muss. Zum Glück sind die spanischen Niederlande nicht allzu weit entfernt. Du sagtest, dass meine Mutter Engländerin war. Lass mich versuchen, nach England zu gehen und die Unterstützung ihrer Familie dort zu bekommen.«

Er lachte auf: »Klingt das nicht großartig, ’meine Familie’ – vielleicht habe ich ja Glück und der englische Teil meiner Familie ein weniger mörderischer Haufen?«

Pierre sah Armand an und fuhr beklommen fort: »Weißt du, was mich traurig macht?«

»Nicht wirklich«, antwortete Armand.

»Dass ich dich verlassen muss! Du bist mein einziger Freund, ich kann mich nur schlecht daran gewöhnen, dich bald nicht mehr zu sehen.« Pierres Stimme brach und er schaute schnell weg, um seine Gefühle zu verbergen.

»So ist das Leben nun einmal.« Armand sah seinen Freund an und lächelte ihm aufmunternd zu. »Es liegt an uns, einen Weg zu finden, uns wieder zu treffen.«

Sie wechselten das Thema und diskutierten angeregt über verschiedene Möglichkeiten, das Kloster zu verlassen. Das war nicht zu schwierig, denn die Schule wurde kaum bewacht. Da sie als eine der renommiertesten Schulen Frankreichs galt, hatte noch nie jemand versucht zu fliehen – es war schwierig genug, aufgenommen zu werden. Kein Mönch würde sich also Sorgen über eine kurze Abwesenheit machen.

Von Zeit zu Zeit kam es vor, dass ein Schüler auf die Verlockungen einer der schäbigen und natürlich strengstens verbotenen Tavernen hereinfiel – der Schüler wurde dann bestraft und etwa eine Woche lang in eine Zelle eingesperrt – aber das war schnell vergessen, solange der Schüler danach Buße tat und sich wieder an die Regeln hielt.

Es blieb aber die Frage für den besten Zeitpunkt und wie sie Pierres Abwesenheit für einen ganzen Tag verbergen konnten, um ihm zumindest genug Zeit zu geben, die Grenze zu erreichen.

Dann war da noch die wichtige Frage des Geldes, wie er überhaupt den Weg in die Spanischen Niederlande finden konnte, von welchem Hafen er nach England übersetzen konnte, wie man einen Platz auf dem Schiff finden und bezahlen konnte, welche Lebensmittel benötigt werden würden und natürlich musste Pierre neue Kleidung bekommen, da das Reisen in der Kutte der Klosterschule seine sofortige Entdeckung bedeuten würde. Welche Identität sollte Pierre annehmen?

Die Glocke für die Compline begann allzu bald zu läuten und sie eilten schnell zur Kapelle und versuchten, so natürlich wie nur irgendwie möglich auszusehen, obwohl ihre Köpfe rauchten und Tausende von unbeantworteten Fragen auf eine befriedigende Antwort warteten.

***

In dieser Nacht wälzte Pierre sich in allen Richtungen auf seinem Bett. Er hatte zwar kürzlich frisches Stroh bekommen und es war diesmal nicht das Ungeziefer, das ihn quälte, aber er konnte nicht einschlafen. Er versuchte sich seinen Vater und seine Mutter vorzustellen und ging dann die endlose Liste der Fragen durch, die er mit Armand besprochen hatte. Als die Stunden verronnen, wuchs in ihm plötzlich immer mehr die Angst, dass er am nächsten Morgen aufwachen und feststellen würde, dass alles nur ein verrückter Traum gewesen war, dass kein Erbe auf ihn wartete, sondern dass alles ein großer Irrtum war und dass er das gleiche, armselige Waisenkind sein würde wie zuvor.

Pierre wachte am nächsten Morgen auf, als ihn die Glocke zur Mette rief. Eine ganze Familie von Flöhen mussten ihn doch noch über Nacht entdeckt haben, denn sein Gesicht war von Flohbissen übersät. Normalerweise wäre er direkt zu Bruder Infirmarius gelaufen, Pierre entschied jedoch, dass es besser war, sich dessen wachsamen Augen heute nicht zu stellen. Also tauchte er sein Gesicht in kaltes Wasser und schleppte sich in die Kapelle. Erst später traf er Armand im Speisesaal und wunderte sich voller Neid, wie sein Freund nur so gut gelaunt und ausgeruht aussehen konnte. Armand hatte bestens geschlafen, das was sicher.

Bruder Hieronymus war zum Glück noch auf seiner Inspektionsreise und Pierre vermutete, dass er dabei vor allem ausgiebig die Qualität der Weine prüfen würde. Daher wurde der Unterricht von einem älteren Geistlichen namens Raphael erteilt. Der Mönch war keine Schönheit, er hatte eine Glatze, dazu eine auffällige rote Nase und einen beeindruckenden Bauch; alles Zeugnisse seiner Liebe zu gutem Essen und Wein. Bruder Raphael war so kurzsichtig, dass er nichts erkennen konnte, was sich außerhalb seiner unmittelbaren Umgebung abspielte. Seine wässerigen blauen Augen blinzelten verwirrt, was ihm ein etwas unsicheres, fast babyhaftes Aussehen verlieh. Bruder Raphael hatte keineswegs die Absicht, sich in irgendeiner Weise zu echauffieren. Schüler waren seiner akademischen Ausbildung ohnehin unwürdig und deshalb ließ er sie einfache biblische Sätze schreiben, die ihm gerade in den Sinn kamen.

Die Schüler verbrachten ihre Zeit also damit, so zu tun, als würden sie etwas hinkritzeln. In der Klasse herrschte ein Lärm, der unter der Aufsicht des strengen Bruders Hieronymus unerhört gewesen und strengstens bestraft worden wäre, aber all das schien Bruder Raphael nicht weiter zu stören.

Pierre und Armand nutzten die Gelegenheit, um sich freiwillig zur Arbeit im Garten des Krankenhauses zu melden. Ihr neuer Lehrer war unerfahren oder träge genug, um diesen Vorschlag ohne Misstrauen zu akzeptieren, und lobte sogar ihren Einsatz für den guten Zweck. Dies bedeutete eine einmalige Gelegenheit, ihre Pläne in Ruhe und ungestört von ihren neugierigen Mitschülern diskutieren zu können.

Der Samstagabend bot sich als idealer Zeitpunkt für Pierres Flucht an, da sonntags die straffe Routine und Aufsicht der Schule durch den üblichen Ausflug in die Kathedrale unterbrochen wurde und erst am Sonntagabend die Schlafsäle überprüft und Pierres Abwesenheit bemerkt werden würde. Sie mussten also einen Weg finden, seine Abwesenheit für den Samstagabend zu erklären. Hier wiederum bot sich an, dass Pierre sich freiwillig für die Nachtwache am Samstagabend in der Kapelle nach der Compline melden konnte, sodass seine Abwesenheit im Schlafsaal nicht auffallen würde.

Sie diskutierten angeregt, aber arbeiteten eifrig, da Bruder Infirmarius seine beiden unerwarteten, wenn auch sehr willkommenen, Helfer mit Argwohn beobachtete. Als Mann der Wissenschaft glaubte er nicht an einfache Wunder, und diese plötzliche Demonstration von Fleiß und Engagement für seinen Garten machte ihn stutzig.

Auch am Mittwoch war der normale Schulbetrieb noch nicht wieder aufgenommen worden. Es wurde kolportiert, dass Bruder Hieronymus krank geworden sei und frühestens am Freitag zurückkommen könnte, um seine Klasse zu unterrichten. Pierre kicherte, denn er hatte seine eigene Vision von der Krankheit von Bruder Hieronymus und stellte sich lebhaft vor, wie der Mönch schnarchend auf einem großen Weinfass lag.

Die Schüler lernten also wieder unter der Aufsicht von Bruder Raphael, als ein junger Mönch eintrat und den ehrenwerten Armand de Saint Paul auf dringende Bitte des Abtes bat, sich ihm anzuschließen. Pierre war überrascht und versuchte, einen Hinweis von seinem Freund zu erhaschen, aber Armand zuckte nur mit den Schultern und da er wusste, dass man den Abt nicht warten ließ, eilte er zur Tür, ohne zurückzuschauen.

Dies sollte das letzte Mal sein, dass Pierre seinen Freund sah.

***

Denn Armand erschien weder zum Gebet in der Kapelle noch zu den Mahlzeiten. Pierre wurde unruhig. Irgendetwas musste passiert sein. Verunsichert und voller Angst suchte er den Bruder Infirmarius auf. Unter den Mönchen wurde immer getratscht und der Bruder hatte hoffentlich etwas gehört.

Nach einigem Zögern schmolz Bruder Infirmarius unter Pierres flehenden Augen.

»Na gut, es ist ja kein Geheimnis. Ein Bote, ein Dienstmädchen einer Verwandten, ist eingetroffen und hat dem Abt einen Brief mit dem Siegel von Armands Vater überreicht. Der Marquis ordnete darin die sofortige Rückkehr deines Freundes an.«

»Sofortige Rückkehr?«

»Ich nehme an, dass ein nahes Familienmitglied ernsthaft erkrankt ist, um eine sofortige Abreise zu rechtfertigen. Unser Abt hat selbstverständlich zugestimmt. Armand ist in Begleitung des Dienstmädchens aufgebrochen, es heißt, die Kutsche des Marquis habe schon gewartet. Du wirst leider deinen Freund nicht so schnell wiedersehen.«

»Danke, mon père, vielen Dank«, stammelte Pierre und stürzte aus dem Saal voller Apparate und Tinkturen, in dem der Infirmarius ihn empfangen hatte.

Danach zog er sich in die verlassene Kapelle zurück, wo er vorgab, für Armand beten zu wollen. Er war zutiefst getroffen und fühlte sich, als hätte ihm jemand den rechten Arm abgehackt. Eine noch nie gekannte Leere und Traurigkeit füllte seine Seele. Pierre konnte noch nicht einmal eine Träne vergießen, er saß wie versteinert auf der harten Bank. Er war jetzt allein, ganz auf sich gestellt, ein Waisenkind ohne Freunde.

Armand hatte ihm gestern genau erklärt, wie er das Kloster verlassen sollte, und er hatte sogar darauf bestanden, Pierre etwas Geld zu geben. Aber Pierre war verzweifelt. Er hatte immer den Moment des Abschieds von Armand gefürchtet, aber dieses plötzliche Verschwinden seines Freundes ohne ein Wort des Abschieds tat ihm so weh, dass er es gar nicht in Worte fassen konnte.

Pierre schleppte sich durch die Routine der folgenden Tage und am Freitag kehrte zu allem Überfluss auch noch Bruder Hieronymus zurück. Der Mönch hatte schon von der plötzlichen Abreise Armands gehört und hatte diese Nachricht genossen, denn ihm war bewusst, wie sehr Pierre darunter leiden musste. Pierre war wie gelähmt und unfähig, sich auf irgendeine Aufgabe zu konzentrieren, und Hieronymus ließ ihn das mit seinem Stock spüren.

Endlich ging der Unterricht zu Ende und Pierre schickte sich an, mit seinen Klassenkameraden in das Refektorium zu gehen. Bruder Hieronymus rief ihn aber zu sich.

»Warte, mein Sohn, wir müssen reden.«

Pierre hörte die Worte und sein Herz sank.

Sobald der letzte Schüler das Klassenzimmer verlassen hatte, bedeutet ihm Bruder Hieronymus näher heranzukommen und er zischte ihn an:

»Ich kam am vergangenen Sonntag zufällig an der Kirche St. Rémy vorbei, mein Sohn. Ich traute meinen Augen nicht, als ich dich und deinen teuren Freund Armand im Gespräch mit einer jungen Dame weit entfernt von dem Kloster erblicken musste. Damit habt ihr gegen mehrere Regeln unseres Klosters verstoßen!«

Er machte eine Pause, um die Wirkung seiner Rede zu genießen, bevor er fortfuhr. »Natürlich war es meine christliche Pflicht, dieses Fehlverhalten unserem Abt zu melden.«

Pierre konnte nicht sagen, ob es die Anschuldigungen waren oder der schreckliche Geruch, den der Bruder verströmte, aber er begann sich krank zu fühlen und musste hart kämpfen, um sich nicht direkt vor dem Lehrer zu übergeben.

Bruder Hieronymus beäugte ihn mit Schadenfreude. Er freute sich über die Wirkung, die seine Ankündigung auf Pierre hatte – der Widerstand des Jungen schien zu schmelzen, er konnte sehen, wie der Junge um Haltung kämpfen musste.

Noch etwas Druck, dann bricht sein Widerstand zusammen. Bald gehört er mir, dachte Hieronymus jubelnd.

Laut fuhr er fort, indem er eine fromme Pose einnahm:

»Unser geliebter Abt hat in seiner Weisheit beschlossen, Nachsicht mit dir zu üben, da dies deine erste große Verfehlung ist. Aber du darfst weder Mittag- noch Abendessen im Refektorium zu dir nehmen und ich begleite dich zu einer Zelle, wo du Buße tun musst. Dort musst du eine Woche lang beten und fasten. Dies wird dir die Gelegenheit geben, deine Seele von den Versuchungen des Teufels zu reinigen.«

Er machte eine lange Pause. »Aber dir werden die üblichen Peitschenhiebe erspart bleiben, wenn du gehorchst und wahre Reue zeigst. Der Abt hat beschlossen, dass ich während dieser Woche dein spiritueller Führer sein werde, um dich auf den Pfad der Tugend unserer heiligen Kirche zurückzuleiten.«

Die Trompeten, die die Mauern von Jericho zertrümmerten, hätten keine andere Wirkung haben können. Das war es also.

Dachte Pierre. Damit habe ich keine Gelegenheit mehr, diesen Sonntag zu fliehen.

Nachdem sich sein erstes Entsetzen gelegt hatte, spürte er eine kalte Wut, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte.

Wenn Armand recht hat, bin ich der Marquis de Beauvoir. Ich werde keine Angst zeigen oder mich von diesem Drecksack einschüchtern lassen. Wenn nötig, werde ich ihn töten, um die Ehre meiner Familie zu bewahren. Dachte Pierre und ballte seine Faust, bis es wehtat.

Bruder Hieronymus war noch näher gerückt und hatte seine Hand gehoben, um Pierre freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen. Er schaute in Pierres Augen, aber das Lächeln erstarrte auf seinem Gesicht. Bruder Hieronymus hatte Angst und Tränen erwartet, Augen, die um Gnade flehten. Aber zu seiner großen Verblüffung schossen aus diesen schönen blauen Augen eisige Blitze und das Gesicht war zu einer hochmütigen Maske erstarrt.

Seine Hand schreckte zurück, und sein Gesicht wurde streng. »Lass uns gehen«, sagte er. »Und denke immer daran, dass ich keinen Ungehorsam dulden werde. Du hast gerade die Sünde des Stolzes begangen, und glaube mir, mein Sohn, unsere Kirche hat viele Mittel, um diejenigen zu brechen, die vom Weg des wahren Glaubens abkommen!«

Pierre schwieg zu dieser kaum verhüllten Drohung und folgte seinem Lehrer zu den Zellen, die den Schülern oder Mönchen vorbehalten waren, die Buße leisten mussten.

***

Pierre ließ sich niedergeschlagen auf das niedrige Bettgestell fallen, das mit schmuddeligen Decken bedeckt war. Dann sah er sich an, was sein neues Zuhause für die nächste Woche sein würde – oder länger. Er erblickte einen kleinen Schreibtisch und einen abgenutzten Betstuhl, dazu ein winziges vergittertes Fenster. Die kalkweißen Wände waren nackt, ein Kruzifix war der einzige Schmuck, es sei denn, jemand betrachtete den schmutzigen Nachttopf als weiteres Schmuckstück. Die Tür quietschte melancholisch, als Bruder Hieronymus sie schloss und verriegelte, wahrscheinlich mit mehr Sorgfalt und Lärm, als nötig gewesen wäre, nur um sicherzugehen, dass sein rebellischer Schüler gut verstand, dass der Schlüssel zur Freiheit von nun an allein in seinen Händen lag.

Pierre schaute sich seine Zelle näher an. Es wurde ihm aber sofort klar, dass es keine Möglichkeit gab, von hier zu entkommen, es sei denn, es geschah ein Wunder.

Pierre hatte bis jetzt Haltung bewahrt, aber hier in der Einsamkeit und der Dunkelheit der Zelle ließ der Zorn, der ihn aufrecht gehalten hatte, nach und die Verzweiflung übermannte ihn. Er betete kurz zu seinen Eltern, ihm beizustehen und dann gab er sich dem Gefühl völliger Verzweiflung und Elends hin.

Es wäre für jeden Gefangenen in der dunklen Zelle schwierig gewesen, die Zeit zu erahnen, wenn nicht regelmäßig die Glocken der Kapelle geläutet hätten, die die Mönche zu den regelmäßigen Gottesdiensten riefen, die in dem strengen Reglement des Klosters festgelegt waren. Als Pierre die Glocken der Compline läuten hörte, klopfte er laut an seine Tür. Nach einiger Zeit hörte er schlurfende Schritte, die sich näherten.

Ein griesgrämiger alter Mönch erschien:

»Du sollst schweigen und Buße tun«, schimpfte der Mönch. Er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass eingesperrte Schüler eine ständige Quelle von Schwierigkeiten waren. Pierre nahm eine demütige Haltung ein, und in bescheidenem Ton fragte er, ob der verehrte Bruder die außerordentliche Güte hätte, ihm ein Gebetbuch und eine Kerze zu bringen, da er die Nacht mit Beten und Buße verbringen möchte.

Der Mönch war sichtlich bewegt von dieser unerwarteten Bitte, die den Drang des Schülers zur Läuterung bewies. Der Schüler blickte ihn dabei mit engelsgleichen, blauen Augen an. Nach kurzer Überlegung fand der Mönch keinen Grund, Einwände gegen diese Bitte zu erheben und brachte Pierre sogar frisches Wasser und ein vollkommen unerwartetes und sehr willkommenes Stück Brot, wofür ihm Pierre ausgiebig dankte.

Als die Tür geschlossen war und das schlurfende Geräusch verschwand, benutzte Pierre die Kerze, um sein schmutziges Bettgestell mit Abscheu zu inspizieren, dann kaute er langsam und dankbar das Brot. Trotz seines Kummers musste Pierre grinsen, zumindest ein Teil seines Gebetes war sofort erhört worden. Dann beschloss er, dass es besser wäre, einige Gebete aus dem Buch laut lesen, um seine Buße glaubwürdig zu machen.

Er wusste nicht, ob es die Wirkung der monotonen Gebete oder die allgemeine Erschöpfung dieser verrückten Woche war, die sein Leben auf den Kopf gestellt hatte, aber er schlief fast sofort ein, während er noch immer auf dem Betstuhl kniete.

Der alte Mönch, der später noch einmal durch das Guckloch in der Tür in die Zelle schaute, war gerührt, als er diesen blonden Jungen sah, der wie ein schlafender Engel auf dem Pult in der Zelle ruhte, das Gebetsbuch noch fest in der Hand. Die meisten Schüler, die hierhergebracht wurden, waren aufsässig, manche sogar betrunken. Meistens polterten sie lautstark oder lagen die meiste Zeit faul und schlafend in ihrem Bett. Dieser Schüler hier war anders und er beschloss, dem Abt und seinem Lehrer einen positiven Bericht zu geben. Typisch für Hieronymus, dass er sich wieder einmal den Falschen für seine Strafen ausgesucht hat, dachte er.

Am Samstagmorgen kündigten quietschende Geräusche das Öffnen der Riegel und Scharniere der Zellentür an. Bruder Hieronymus erschien, um Pierre zu besuchen. Zu seinem Ärger fand er Pierre überraschend gut gelaunt vor. Sein Schüler verschmähte das trockene Brot, das er mitgebracht hatte, und der Mönch fand es schwierig, sich Pierre in der von ihm geplanten Weise zu nähern.

Oberflächlich betrachtet war Pierre ein Muster an Tugend und Gehorsam, aber irgendwie spürte Hieronymus, dass sein Wille noch nicht gebrochen war.

Pierre war allerdings kurz davor gewesen, einen Mord zu begehen, denn der ekelerregende Geruch des schlechten Atems vermischt sich in der Enge der kleinen Zelle mit dem starken Körpergeruch des Mönchs. Bruder Hieronymus war scheinbar der Überzeugung, dass Körperpflege das Werk des Teufels sei.

Der Tag verging ohne weitere Unterbrechungen und Pierre begann langsam, aber sicher zu verzweifeln. Heute war der Tag, den Armand für seine Flucht geplant hatte. Er saß in dieser Zelle fest und er wusste nicht, ob er einen weiteren Besuch von Bruder Hieronymus verkraften würde, ohne gewalttätig zu werden. Er wusste nicht ein noch aus und verzweifelt vermisste er Armand, seinen guten Rat, seinen gesunden Menschenverstand und seine Fröhlichkeit.

Er hatte vage gehofft, den wachhabenden Mönch in falscher Sicherheit wiegen zu können und bei der ersten Gelegenheit zu fliehen, aber als sich am Nachmittag die Tür öffnete, sank ihm das Herz, denn sein Bewacher war diesmal ein anderer Mönch. Pierre kannte ihn nur von den Gottesdiensten, er war vor allen Dingen jünger und wirkte aufgeweckter. Der Mönch brachte ihm einen Krug mit Wasser und eine Schale mit Brei. Pierre deutete dies als Zeichen, dass seine vermeintliche Buße erfolgreich gewesen war und dem Abt zur Kenntnis gebracht worden war.

Der Mönch zögerte einen Moment und räusperte sich, bevor er sprach. »Unserem gnädigen Abt wurde zur Kenntnis gebracht, dass du darum gebeten hast, heute Nacht die Nachtwache in der Kapelle zu halten. Man hat den hochwürdigen Abt darauf aufmerksam gemacht, dass du wahre Buße gezeigt hast, und der Abt hat deshalb beschlossen, dir diese Gunst zu gewähren. Wie der heilige Augustinus sagte: ’Vergebung ist die Vergebung der Sünden’. Er erlaubt dir, heute die Nachtwache abzuhalten, damit du in der heiligen Kapelle beten und deine Seele reinigen kannst. Bruder Raphael wird heute Abend kommen, um dich abzuholen und um mit dir zusammen die Nachtwache in der Kapelle zu halten.«

Tränen der Erleichterung sprangen Pierre in die Augen und der junge Mönch war tief bewegt von diesem Zeugnis echter Reue und Demut.

Pierre konnte sein Glück kaum fassen. Es war also nicht nötig, seinen neuen Aufseher oder den schleimigen Bruder Hieronymus außer Gefecht zu setzen. Er würde heute Abend einfach aus seinem Gefängnis herausspazieren!

Jeder in der Schule wusste, dass Bruder Raphael die Gewohnheit hatte, abends eine oder auch gerne zwei Flaschen Wein zu trinken. Nur bis zum Abt schien sich das nicht herumgesprochen zu haben. Nicht einmal ein Erdbeben konnte daher Bruder Raphael wecken, sobald er die letzte Flasche geleert hatte. Die meisten Schüler legten daher ihre nächtlichen Streifzüge in die verbotenen Tavernen von Reims genau auf diese Nächte, in denen Bruder Raphael die Aufsicht hatte.

Leider würde seine Abwesenheit nun schon am nächsten Morgen entdeckt, aber dies war seine einzige Chance zur Flucht. Ich muss hier raus, bevor ich einen Mord begehe, dachte Pierre, auch wenn die Ermordung von Bruder Hieronymus eigentlich ein Dienst an der Menschheit wäre.

Aber es wäre höchst unangemessen, in den Händen eines Henkers zu enden, denn das wäre wahrhaft kein glorreiches Ende für jemanden, der später ein Marquis sein möchte. So beschloss er seine Gedanken.

Die Stunden des Wartens verronnen viel zu langsam. Pierre sehnet sich danach, laut schreien zu können oder seine Frustration an dem Betstuhl auszulassen, denn die Warterei in der Dunkelheit war einfach unerträglich und dazu kam die nagende Angst, dass der Abt doch noch seine Meinung ändern könnte.

Pierre versuchte, sich an alle Einzelheiten der Anweisungen zu erinnern, die Armand ihm gegeben hatte, bevor er plötzlich verschwunden war. Glücklicherweise hatte er Armands Geld in seiner Kutte versteckt, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu durchsuchen.

Ich muss eine gute Geschichte erfinden, warum ich das Gewand der Klosterschule trage, überlegte er, vielleicht einen sterbenden Verwandten erfinden, aber es ist sicherer, zuerst nur nachts zu reisen, entschied Pierre zum Schluss.

Mit dem Optimismus der Jugend freute er sich auf ein großes Abenteuer und hielt es für kleinlich, sich Sorgen zu machen über alles, was ihm auf dem Weg nach England passieren könnte. Jetzt, wo er endlich durch eine Fügung des Schicksals seine Freiheit nahen sah, war er bereit, es notfalls mit der ganzen Welt aufzunehmen.

***

Es war schon dunkel, als sich endlich die Tür zu seiner Zelle öffnete. Pierre konnte mit Genugtuung riechen, dass Bruder Raphael zumindest die erste Flasche Wein bereits zum Abendessen getrunken hatte. Die kurzsichtigen Augen von Bruder Raphael versuchten vergebens, sich auf den Schüler zu fixieren, und der Mönch sah noch mehr denn je wie ein dicker, grauer Maulwurf aus – allerdings einer mit einer auffallend roten Nase im Gesicht.

Sie liefen gemeinsam zur Kapelle und sobald sie eintraten, kniete Pierre vor einem der Seitenaltäre in der Nähe des Ausgangs nieder. Pierre erklärte dem überraschten Mönch, dass er den heiligen Josef um seine Hilfe zu wahrer Buße anflehen wolle. Dann schwiegen sie, bis sie zusammen das lateinische Nachtgebet anstimmten. Pierre war erstaunt, dass Bruder Raphael die Texte nicht mechanisch herunterleierte, der Routine folgend, sondern der Mönch vertiefte sich tief gläubig in seine Gebete.

Die Zeit verging und Pierre wurde langsam ungeduldig. Inzwischen taten ihm die Knie höllisch weh, auch wenn dies ein unpassender Gedanke in einer heiligen Kapelle war, sein Rücken sehnte sich nach einem Stuhl oder einem Bett, und seine Augen brannten vor Müdigkeit und vom Rauch der vielen Kerzen.

Vorsichtig bewegte er seinen Kopf, um zu sehen, ob die Zeit reif war, um entwischen zu können, aber inzwischen war ein zweiter Mönch eingetreten und betete vor dem Altar der Jungfrau Maria. Das darf doch einfach nicht wahr sein, dachte Pierre müde und enttäuscht, wird das nie enden?

Er verharrte noch einige Zeit in kniender Pose und beschloss dann, sich flach auf den Bauch zu werfen, um so zu tun, als ob er sich in völliger Hingabe im Gebet befand.

Das fühlt sich so gut an, dachte er, endlich einmal den Rücken zu strecken. Pierre hörte, wie sich die Kapellentür schloss, und er hoffte, dass der andere Mönch die Kapelle inzwischen wieder verlassen hatte.

Er blickte sich vorsichtig um und zu seiner großen Erleichterung sah er, dass der andere Mönch tatsächlich gegangen war. Er stand schnell auf, aber sofort hörte er die Stimme von Bruder Raphael: »Warum stehst du auf, mein Sohn?

»Ich möchte jetzt gerne zu St. Anna beten, mon père«, antwortete Pierre. »Vor Kurzem fühlte ich mich unwohl und Bruder Infirmarius riet mir, ich solle zur Heiligen St. Anna zu beten. Und in Gedanken fügte er hinzu: Ihr Altar ist auch noch näher am Ausgang …

Die Kerzen waren weiter runtergebrannt und ihre Rauchfahnen erfüllten die Luft der Kapelle, als Pierre ein Geräusch hörte, das für seine Ohren reine Musik war: Bruder Raphael hatte zu schnarchen begonnen.

Jetzt oder nie, entschied Pierre. Langsam und vorsichtig kroch er zum Ausgang und ganz langsam und vorsichtig öffnete er die Tür der Kapelle. Er wusste nur zu gut, dass die Scharniere quietschten, und er durfte auf gar keinen Fall seinen Aufpasser wecken, der im Schlaf unschuldig lächelnd, auf die Bank gesackt war.

»Auf Nimmerwiedersehen!«, sprach Pierre leise und quetschte sich langsam durch den engen Türspalt. Dann schloss er die schwere Tür mit der gleichen Sorgfalt und sog die Nachtluft ein, die die wunderbaren Düfte und Verheißungen des nahenden Sommers in sich trug.

Pierre fühlte sich wie neugeboren, bereit, die ganze Welt zu umarmen – Freiheit und Abenteuer warteten endlich auf ihn!

Ein heller Mond stand am Himmel, was ein gemischter Segen war. Das helle Licht machte es viel leichter, den Weg zu finden, den Armand ihm erklärt hatte, aber es bestand damit auch die Gefahr, viel schneller entdeckt werden zu können.

Immer um Deckung bemüht, schlich Pierre vorsichtig durch den Garten. Jeder Klosterschüler wusste, dass man ohne große Mühe auf die Bäume im Kräutergarten klettern konnte und von dort über die Mauer des Klosters springen konnte.

Pierre kletterte auf den großen Apfelbaum, den die Mönche in diesem Teil des Gartens liebevoll gepflanzt und beschnitten hatten, und sprang dann auf die Mauer. Im Nu kletterte er hinunter, dankbar dafür, dass viele Steine in der Mauer nachgegeben hatten und es leicht machten, in den Spalten Halt zu finden.

Nun befand er sich auf der Straße und er versuchte sich an die Anweisungen zu erinnern, die Armand ihm gegeben hatte. Reims mochte zwar wichtig sein, doch war die Stadt nicht groß und es gab noch viele Gärten innerhalb der Stadtmauern. Die Innenstadt war durch breite Gräben und den Fluss geschützt. Es war daher unmöglich, die Stadt zu verlassen, ohne die gut bewachten Stadttore passieren zu müssen.

Armand hatte ihm geraten, die Gärten als Deckung zu benutzen und sich dann direkt zu einer der Tavernen zu begeben, die er von seinen Besuchen kannte. Diese Taverne wurde von einem Ehepaar geführt. Mit einem Augenzwinkern hatte Armand erklärt, dass sich die Ehefrau sowohl um die Taverne als auch um das Wohlbefinden zahlungswilliger Gäste kümmerte, denn der Ehemann war meisten außerhalb der Stadt in seinen Weinbergen beschäftigt.

Armand wusste, dass ihr Mann an diesem Sonntag mit seinem Wagen voller Weinfässer die Stadt verlassen wollte. In einem kleinen Dorf weiter im Norden der Champagne wurde ein Fest zu Ehren eines der örtlichen Heiligen gefeiert und er hoffte, dort gute Geschäfte machen zu können.

Zum Glück kannte Pierre Reims gut von ihren sonntäglichen Besuchen, denn die Straßen waren dunkel und verlassen, nur das wütende Bellen ein paar wachsamer Hunde unterbrach die Stille. Alle Fensterläden waren schon fest geschlossen, denn die gestandenen Bürger lagen um diese Zeit in ihren Betten. Pierre konnte nur hoffen, dass die dummen Köter nicht die Nachtwache durch ihr Bellen alarmieren würden. Er duckte sich noch mehr in die Dunkelheit der Schatten der Häuser, die die engen Gassen säumten.

Sein Glück hielt an, und er kam unentdeckt bei der Taverne an und sah, dass noch Licht durch die Ritzen der Fensterläden sickerte. Armand hatte ihn aber instruiert, auf gar keinen Fall in die Taverne zu gehen, sondern in den Hof dahinter, wo sich auch eine Scheune befand. In der Scheune würde er einen beladenen Wagen finden, wo er sich unter einer Plane verstecken musste.

Da der Wirt und seine Frau gute Beziehungen zu den Stadtwachen unterhielten, die regelmäßig vorbeikamen, um ein Glas Wein zu schnorren, sollte eine Durchsuchung des Wagens am Tor schnell und nur oberflächlich erfolgen.

Pierre war froh, dass alles bis jetzt reibungslos verlaufen war, und dachte dankbar an Armand, der diesen Plan ausgetüftelt hatte. Die Strapazen der letzten Tage und dieser Nacht fingen aber an, ihren Tribut zu fordern. Er fühlte sich todmüde und sehnte sich verzweifelt danach, sich hinzulegen und etwas zu schlafen zu können.

Behutsam öffnete er die Tür der Scheune und glitt in das Innere. Innen war es aber rabenduster, wie soll ich bloß den Wagen finden?, dachte er verzweifelt.

Pierre streckte seine Hände aus und versuchte, sich seinen Weg zu ertasten, langsam ging er Schritt für Schritt in die Scheune hinein.

Aber schon nach ein paar Schritten stieß er gegen etwas Hartes, vermutlich eine Krippe an der Wand. Er rieb seinen schmerzenden Kopf und machte vorsichtig einen Schritt weiter. Schon fanden seine tastenden Finger einen neuen Gegenstand. Er berührte ihn, er fühlte sich seltsam warm und weich an, fast wie ein Mensch. Bevor Pierre weiter über diesen Fund spekulieren konnte, griff eine Hand aus der Dunkelheit nach ihm und verschloss seinen Mund. Der Unbekannte hielt ihn fest wie ein Schraubstock, ohne Hoffnung auf eine Flucht.

Pierre spürte nicht einmal mehr den schweren Schlag, der ihn dann zu Boden schlug.

Der Waisenjunge und der Kardinal

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