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3.3.1 Sensorische Auswahl und Orientierung

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Als sensorische Auswahlsensorische Auswahl bezeichnet man die Filterung der eingehenden Sinnesreize. Nicht alles, was unsere Sinnesorgane erreicht, wird von den sensorischen Zentren des Gehirns so weit verarbeitet, dass es unserem Bewusstsein zugänglich wird. Vielmehr werden Sinnesreize vorverarbeitet, hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit eingestuft und nur zum Teil der vollständigen Verarbeitung und der Wahrnehmung zugeführt.

Jedes Sinnessystem nutzt hierbei unterschiedliche Objekteigenschaften als Basis für die Auswahl. Das SehsystemSehsystem macht sich die visuellenvisuell Eigenschaften unserer Umwelt zunutze. So ziehen große, schnell bewegte, auffällig farbige aber auch ungewohnt aussehende Objekte automatisch AufmerksamkeitAufmerksamkeit auf sich. Taucht ein auffälliges oder unbekanntes Objekt auf, verschiebt sich unsere Aufmerksamkeit automatisch dort hin. Biologisch gesehen ist das sehr sinnvoll. Man muss zunächst einmal feststellen, ob eine Bedrohung naht oder ob sich eine wichtige und beachtenswerte Information präsentiert. Dinge, die wir schon oft gesehen haben, deren Bedeutung wir gut kennen und die in der aktuellen Situation nicht unerwartet sind, ziehen unsere automatische Aufmerksamkeit nicht oder nur ganz kurz auf sich. Anders ist es, wenn wir uns gerade für ein Objekt besonders interessieren. In dem Fall bestimmen MotivationsMotivation- und Zielaspekte die Ausrichtung der Aufmerksamkeit, wobei oft andere Sinnesreize ausgeblendet werden. Das Sehsystem greift also auch auf VorwissenVorwissen zurück, das als sensorisches Wissen gespeichert ist (vgl. 6.3.2).

Auch das Hörsystem wählt Reize zur Weiterverarbeitung aus. Dabei sind neben Lautstärke und Tonhöhe zeitliche Rhythmen und MusterMuster wichtig und natürlich in Kommunikationssituationen die Sprachlaute. Auf der Basis des Richtungshörens, das einmal durch die Form der Ohren möglich wird (vorwiegend Unterscheidung von oben und unten, vorne und hinten), zum anderen durch den Abstand zwischen den Ohren, kann die auditorischeauditorisch AufmerksamkeitAufmerksamkeit auch auf bestimmte Stellen im Raum gerichtet werden, sodass wir das, was an diesen Stellen ist, verstärkt wahrnehmen. Das kann unser Gesprächspartner sein oder beispielsweise Musik, der wir zuhören, während wir die Umgebungsgeräusche etwas unterdrücken (vgl. 2.5.1 sowie das Praxisfenster in Kap. 2). Allerdings können Kinder bis zum Ende der Grundschulzeit das lange nicht so gut wie Jugendliche und Erwachsene. Da ihre Ohren und ihr Kopfumfang und damit der Abstand zwischen den Ohren noch wachsen, kann das Gehirn noch nicht endgültig festlegen, welche akustischen Eigenschafen zu welcher Raumrichtung gehören. Damit ist die Möglichkeit der auditiven Fokussierung und der Ausblendung störender Nebengeräusche im Kindergarten- und Grundschulalter viel geringer als bei Jugendlichen und Erwachsenen. Ähnlich wie das visuellevisuell System reagiert auch das Hörsystem auf laute, unbekannte, unerwartete oder auffällige Geräusche (u.a. auch auf unseren eigenen Namen) und sorgt dafür, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die entsprechende Geräuschquelle richten. Kinder können aufgrund der mangelnden Fokussierung solche Geräusche nicht ausblenden. Geräusche aus allen Raumrichtungen werden vollständig verarbeitet und der bewussten Wahrnehmung zugeführt. Da das vom auditorischen System autonom entschieden wird, lässt sich der Prozess nicht willentlich unterdrücken. Wird von Kindern etwa im Unterricht gefordert, sich nicht bei jedem Geräusch umzudrehen, sondern sich auf die Arbeit zu konzentrieren, dann können sie der Anweisung durchaus folgen. Sie können mit bewusster Willensanstrengung verhindern, sich dem Geräusch durch Umdrehen und Hinschauen zuzuwenden. Die exogene, also von außen sichtbare Aufmerksamkeitsverschiebung wird unterdrückt. Dennoch findet automatisch die endogene, rein innerliche Aufmerksamkeitszuwendung statt und unterbricht den Arbeitsprozess. Für manche, insbesondere jüngere Kinder ist es anstrengender, das Umdrehen zu unterdrücken, als sich schnell umzublicken und dann weiterzuarbeiten.

Die Aufmerksamkeitsleistung unserer taktilen Wahrnehmungtaktile Wahrnehmung wird insbesondere beim bewussten Tasten deutlich. Dann richten wir unsere AufmerksamkeitAufmerksamkeit auf einen bestimmten Bereich unserer Körperoberfläche, nämlich die Hände oder sogar noch präziser, auf die Fingerspitzen. Wir können unsere Aufmerksamkeit aber ebenso gut auch auf andere Bereiche unseres Körpers richten, den Wasserstrahl der Dusche genießen oder die Sonne auf unseren Armen und sind uns der anderen taktilen Reize, z.B. der Fußsohlen auf dem Boden, der Kleidung auf unserem Körper, nicht oder kaum bewusst. Unerwartete Berührungen dagegen ziehen automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich. Dann richten wir unseren Blick auf die Stelle, die berührt wurde (und auch unsere auditive Aufmerksamkeit, aber das ist von außen nicht sichtbar). Bei plötzlichen Berührungen ist es wichtig, die Quelle der Sinneswahrnehmung und eine möglicherweise damit verbundene Gefahr schnellstens zu erkennen. Immerhin ist der Auslöser der Empfindung ganz nah bei uns.

Beim Geruchs- und GeschmackssinnGeruchs- und Geschmackssinn gibt es keine räumlich gerichtete AufmerksamkeitAufmerksamkeit wie bei den anderen Sinnessystemen. Aber wir können unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Gerüche oder einen Geschmack richten, etwa beim Abschmecken von Speisen. Nehmen wir unerwartet einen intensiven, unangenehmen Geruch wahr, so richten wir unsere Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung der anderen Sinne darauf aus, die Quelle des Geruchs ausfindig zu machen, und tun anschließend in der Regel alles, um der Quelle möglichst fern zu bleiben oder sie zu beseitigen.

Aus dem oben Gesagten geht hervor, dass wir zum einen bei intensiven, auffälligen, unerwarteten und potentiell gefährlichen Reizen unsere AufmerksamkeitAufmerksamkeit unwillkürlich auf die Quelle des Reizes richten. Dann verarbeiten wir das, was sich uns sozusagen aufdrängt. Zum anderen können wir unsere Aufmerksamkeit aber auch auf ein bestimmtes Objekt, bestimmte Objekteigenschaften (etwa eine Farbe) oder auf eine bestimmte Stelle im Raum richten. Das tun wir beispielsweise dann, wenn wir jemanden suchen, von dem wir wissen, dass er ein Kleidungsstück in einer bestimmten Farbe trägt oder wenn wir einen Gegenstand näher betrachten wollen, der für uns gerade interessant oder wichtig ist.

Mit den beiden unterschiedlichen Formen der sensorischen Selektion sind unterschiedliche NetzwerkeNetzwerk im Gehirn befasst. Die unwillkürliche Reaktion auf auffällige, intensive, unbekannte und bisher unbeachtete Reize, wird von Arealen kontrolliert, die relativ weit unten, also ventral im Gehirn liegen. Daher wird dieses Netzwerk häufig als ventrales Aufmerksamkeitsnetzwerk bezeichnet. Zu diesem Netzwerk gehört der Übergang zwischen TemporallappenTemporallappen und ParietallappenParietallappen (temporoparietal junction) und der ventrale frontale Cortexfrontaler Cortex (vgl. Corbetta & Shulman 2002, Vossel, Geng & Fink 2014). Sobald über ein Sinnessystem ein unerwarteter, auffälliger oder potentiell bedrohlicher Reiz wahrgenommen wird, sorgt das ventrale Aufmerksamkeitssystem dafür, dass wir unsere Wahrnehmung und die gesamte AufmerksamkeitAufmerksamkeit in die entsprechende Richtung lenken. Diese Aufmerksamkeitsverschiebung kann verdeckt bleiben, in der Regel aber ist die Aufmerksamkeitsreaktion damit verbunden, dass sich Augen, Kopf und Körper dem Reiz zuwenden. Sehr schön lässt sich die Hinwendungsreaktion beobachten, wenn beispielsweise in einem Klassenzimmer während des Unterrichts unerwartet jemand in den Raum kommt. Alle Augen richten sich auf die sich öffnende Tür und niemand widmet sich mehr dem Unterrichtsgeschehen oder der aktuellen Aufgabe. Gehirn und Körper werden darauf vorbereitet, im Bedarfsfall schnell zu reagieren: Alle bisherigen Handlungen und Denkvorgänge werden gestoppt, die Wahrnehmungsschwelle der Sinne wird gesenkt, sodass sie auch kleine Änderungen in der Umgebung sofort bemerken und der Muskeltonus im ganzen Körper wird erhöht, um schnell reagieren zu können, z.B. auszuweichen oder etwas abzuwehren. Diese Reaktion ist ein sehr wichtiger Schutzmechanismus, der dafür sorgt, dass wir Gefahren erkennen und ihnen ausweichen. Entsprechend seiner Aufgabe wird das Netzwerk auch als Alerting-NetzwerkAlerting-Netzwerk bezeichnet. Der hauptsächliche NeurotransmitterNeurotransmitter (Botenstoff) in diesem System ist das NoradrenalinNoradrenalin, also eines der Stresshormone, die es uns erlauben, schnell zu reagieren, falls das nötig ist (vgl. Posner & Fan 2008).

Das zweite System zur Steuerung der sensorischen AufmerksamkeitAufmerksamkeit liegt dorsal, also weiter oben im CortexCortex und ist mit der top-down Komponente der sensorischen Auswahlsensorische Auswahl befasst. Hier wird die Aufmerksamkeit nicht über die WahrnehmungsarealeWahrnehmungsareale von äußeren Reizen gesteuert, sondern es werden die Wahrnehmungsinhalte ausgewählt, die gerade für eine bestimmte Aufgabe relevant sind. Da dieses System die bewusste Orientierung hin auf ein Objekt oder ein Geschehen steuert, wird es als Orienting-NetzwerkOrienting-Netzwerk bezeichnet. Der NeurotransmitterNeurotransmitter AcetylcholinAcetylcholin spielt eine wichtige Rolle in diesem NetzwerkNetzwerk (vgl. Posner & Fan 2008). Beteiligt an diesem System sind das frontale Augenfeld und der intraparietale Sulcus. Das frontale Augenfeld steuert willkürliche Augenbewegungen und die räumliche Orientierung und repräsentiert die Position aktuell interessierender Objekte und Blickziele. Der intraparietale Sulcus ist sozusagen ein Interface zwischen Wahrnehmung und Motorik: Informationen aus verschiedenen Sinnessystemen laufen hier zusammen, aber auch komplexere, bereits verarbeitete und abgeleitete Informationen sind abgebildet, z.B. die Anzahl von Objekten oder die soziale Bedeutsamkeit von Reizen (vgl. Grefkes & Fink 2005, Sui et al. 2015). Zugleich werden von hier aus Bewegungen, etwa der Augen und des Kopfes, aber auch Arm- und Handbewegungen gesteuert. All diese Bewegungen beziehen sich auf äußere Objekte und sind eng mit Aspekten der Wahrnehmung verknüpft.

Je nach Situation richten wir mit Hilfe dieser AssoziationsarealeAssoziationsareale unsere AufmerksamkeitAufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt im Raum oder ein bestimmtes Objekt (selektive oder fokussierte Aufmerksamkeit) oder „verteilen“ sie. Dabei können wir die sensorische Aufmerksamkeit aufteilen, etwa beim Autofahren auf die Straße achten und gleichzeitig unserem Beifahrer zuhören. Wir können sie sogar gleichmäßig verteilen, z.B. über das gesamte Sehfeld, wenn wir etwas suchen oder nicht wissen, aus welcher Richtung etwas auf uns zukommt.

Die bewusste Fokussierung der AufmerksamkeitAufmerksamkeit auf bestimmte Objekteigenschaften ebenso wie die auf bestimmte Bereiche im Raum und damit auf bestimmte Objekte, die sich in diesem Bereich befinden, hat eine neurologische Basis. Die NervenzellenNervenzellen in den WahrnehmungsarealenWahrnehmungsareale, die Sinneseindrücke an einer bestimmten Position im Raum oder bestimmte Objekteigenschaften (Tonhöhe, Farbe, Schärfe einer Speise usw.) verarbeiten, zeigen eine erhöhte Antwortbereitschaft, wenn man diesen Eigenschaften Aufmerksamkeit zuwendet. Grundlage dafür ist die sog. BahnungBahnung, die die Bereitschaft der Nervenzellen auf einen Reiz zu reagieren, verbessert. Die Nervenzellen, die auf andere Bereiche im Raum oder andere Objekteigenschaften reagieren, werden dagegen über Inhibitionsmechanismen gehemmt. Bei der Bahnung erhalten Nervenzellen über einen Teil ihrer DendritenDendriten, sozusagen die Antennen oder Impulsempfänger der Nervenzelle (vgl. 2.2), Signale in Form von Neurotransmittern, die die elektrischen Eigenschaften der Nervenzellen etwas verändern. Die Änderung ist nicht so groß, dass die Nervenzellen diesen Impuls als Sinneseindruck interpretieren, AktionspotentialeAktionspotential ausbilden und damit Signale an andere Nervenzellen weitergeben (zur Kommunikation zwischen Nervenzellen vgl. 2.2). Aber sie stehen kurz davor, ein Aktionspotential zu generieren. Sie sind sozusagen darauf vorbereitet, sofort zu reagieren, wenn ein passendes Signal von dem jeweiligen Sinnessystem kommt. Bei der InhibitionInhibition erhalten die Nervenzellen dagegen über andere Dendriten solche NeurotransmitterNeurotransmitter, die die Antwortbereitschaft der Nervenzellen vermindern: Die Zellmembran der Neurone wird so beeinflusst, dass sie schwächer und langsamer auf Impulse reagieren, die sie von anderen Nervenzellen erhalten. Dadurch reagieren sie oft gar nicht auf einen schwachen oder mittelstarken Sinnesreiz, auf den sie ohne diese Inhibition antworten würden. Für diese Prozesse der Bahnung und Inhibition gibt es spezielle Verbindungen zwischen den die Aufmerksamkeit steuernden Hirnarealen und den Wahrnehmungsarealen.

Die bewusst auf Objekte oder bestimmte Ausschnitte der Umgebung gelenkte AufmerksamkeitAufmerksamkeit ist ein Teil dessen, was man unter KonzentrationKonzentration versteht: Wir entscheiden uns dafür, in eine bestimmte Richtung zu schauen, um etwa ein Buch zu lesen. Zugleich entscheiden wir uns dagegen, uns anderen Objekten zuzuwenden oder uns von anderen visuellen, akustischen oder sonstigen Reizen in der Umgebung ablenken zu lassen. Wie exemplarisch in der Formulierung „um ein Buch zu lesen“ deutlich wird, gehört neben der willentlichen Fokussierung der Wahrnehmung eine Zielsetzung, z.B. im Sinne eines Handlungsziels, zu dem, was unter Konzentration verstanden wird. Hier kommt eine weitere Form der Aufmerksamkeit ins Spiel.

Didaktik und Neurowissenschaften

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