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1. Verortung und Zielsetzung

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Der vorliegende Band ist das Ergebnis intensiver Recherche und Auseinandersetzung mit Forschungsbeständen verschiedener Disziplinen, darunter im Besonderen die Neurowissenschaften sowie die Didaktik, die Psychologie und die Erziehungswissenschaft. Durch das Zusammenführen von Wissensbeständen soll, Schlaglichter setzend auf Fragen, die für die Gestaltung von Lehr- und LernprozessenLernprozesse relevant erscheinen, der Versuch unternommen werden, Erkenntnisse zugänglich zu machen und zusammen zu bringen. Das Referieren in verständlicher Sprache, jedoch ohne unzulässige Vereinfachungen, bildet eine der Zielsetzungen des vorliegenden Bandes.1

Verschiedene Aspekte dessen, was unter Lernen subsumiert wird, sind in den zurückliegenden Jahren erforscht worden, und unterschiedliche Disziplinen, darunter die Neurowissenschaften, haben mit ihren jeweiligen Herangehensweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung dazu beigetragen, dass das Verständnis wachsen kann. Aber es ist nicht immer der Versuch unternommen worden, relevante Wissensbestände auch aufzuschlüsseln, sodass z.B. Studierende, Lehrkräfte etc. in geeigneter Form davon erfahren konnten. Ebenso ist es nicht immer gelungen, Knotenpunkte herzustellen, bei denen Evidenzen2 unterschiedlicher Disziplinen zusammengeführt wurden. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Komplexität des Unterfangens. Bereits angesichts der Fülle an neurowissenschaftlichen Publikationen jährlich – die Zahlen variieren zwischen 40.000 und etwa dem Doppeltem (vgl. Sambanis 2015: 155) – wird erkennbar, dass eine Orientierung in diesem Feld und die Kenntnisnahme von Evidenzen und Gegenevidenzen eine immense Herausforderung darstellt. Hinzu kommt die Frage, wie Befunde angemessen aufgeschlüsselt werden können, damit sie auch für die Praxis des Lehrens und Lernens nutzbar werden, ohne unzulässige Verzerrungen oder Verkürzungen zu erfahren.

Die Neurowissenschaften zeichnen sich als eine forschungsaktive Disziplin mit mehreren Teildisziplinen und Ebenen dadurch aus, dass sie, einfach formuliert, zumeist anders forschen als […] [z.B.] die Fremdsprachendidaktik, in einer anderen Forschungstradition stehen und eine beachtliche Menge an Publikationen und spezifischen Erkenntnissen hervorbringen, die oftmals nur nachvollziehbar sind, wenn der Rezipient zumindest mit üblichen Vorgehensweisen, Arten der Datengenerierung und typischen Studiendesigns in dieser Disziplin vertraut ist. (ebd.)

„The time for evidence-based education has arrived“, konstatieren Sigman et al. (2014: 497), denn nach wie vor stellt Schule „the largest learning experiment ever attempted“ (ebd.) dar, d.h. es wird vieles gemacht, wie es schon immer gemacht wurde oder Neues beherzt implementiert. Vor Innovationsentscheidungen liegt es eigentlich nahe und erscheint vernünftig, die Frage nach verfügbarem Wissen zu stellen, allerdings wird dieser Schritt mitunter übergangen oder bestenfalls hastig genommen. Der vorliegende Band möchte dazu anregen, rechtzeitig und konsequent die Frage zu stellen: Was wissen wir eigentlich schon?

Die Neurowissenschaften können einen spezifischen Beitrag zur „Aufklärung über die Natur des Lernens selbst“ leisten (Blakemore & Frith 2006: 197) und zwar durch „kontra-intuitive Erkenntnisse über das Lernen“ (ebd.: 21). „[…] neuroscience provides important insights for psychological and educational research by describing the general neurophysiological preconditions of successful learning“ (Stern et al. 2007: 32). Diese Einsichten sind für die Didaktik von zentraler Bedeutung, denn: „Education is about enhancing learning, and neuroscience is about understanding the mental processes involved in learning“ (The Royal Society 2011: V). Dennoch darf bei dem Versuch, eine Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik herzustellen, nicht in Vergessenheit geraten, dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zwar dazu beitragen, die beim Lernen ablaufenden Vorgänge und damit die neurophysiologischen Voraussetzungen von Lernen zu erfassen. Die Didaktik muss dann aber als „die Wissenschaft vom pädagogisch angeleiteten Lehren und Lernen“ (Friedrich 2009: 272) Antworten auf die Frage finden, wie das angestrebte learning enhancement unter Berücksichtigung der identifizierten neurophysiologischen Vorgänge sowie der Anforderungen an Unterricht und der gegebenen Kontextfaktoren erreicht werden kann. Aus unserer Sicht besteht die vordringliche Aufgabe darin, die Fragen nach dem Was wissen wir? und dem Was kann daraus auch unter Einbezug weiterer Wissensstände und Sichtweisen für das Lehren und Lernen geschlossen werden? aufzugreifen und in einer wechselseitigen Transferdiskussion zu verankern.

Bei dem Versuch, mögliche Antworten auf die Frage nach Konsequenzen für die Praxis zu finden, werden sich neue Fragen ergeben und mit ihnen der Wunsch, diese so beantworten zu können, dass auch sie zu einer „evidence-informed practice“ (Nevo & Slonim-Nevo 2011) beitragen können. Dies verweist auf die Prozessualität des gesamten Unterfangens: Evidenzbasierte Didaktik kann nicht statisch sein. Sie speist sich aus Forschungsfeldern, die sich durch Dynamik auszeichnen. Sie kann daher nicht beanspruchen, eine Art unerschütterlicher Heilslehre zu vermitteln.

Ein zeitgemäßes Verständnis von einer sich auch auf Erkenntisse der Neurowissenschaften stützenden Didaktik bedarf eines Weiterdenkens und teilweise auch Ablegens dessen, was gemeinhin mit dem Begriff NeurodidaktikNeurodidaktik assoziiert wird, nämlich, auf eine einfache Formel gebracht, das Ziehen von Schlussfolgerungen aus Befunden der Neurowissenschaften, oftmals ohne vorherige Auseinandersetzung mit möglichen Vorgehensweisen und ohne bewusste Entscheidung für ein Prozedere. Das eher intuitive und vor allem rein lineare Übertragen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, z.B. in die „Pädagogik als Anwendungsfeld“ (Müller 2009: 56), scheint zu kurz zu greifen und wird schon Ende der 1990er-Jahre in dem vielzitierten Artikel von Bruer (1997: 5) als „a bridge too far“ bezeichnet.

Seit einiger Zeit wird zum Umdenken aufgefordert: „knowledge needs to go in both directions“ (The Royal Society 2011: 18, kursiv im Original). Daraus ergibt sich beim Verbinden von Neurowissenschaften und Didaktik die Aufgabe, sich von dem linearen Modell zu lösen, den Blick zu erweitern, d.h., wie oben erwähnt, den Versuch zu unternehmen, Knotenpunkte im Wissensstand herzustellen. Anstelle einer einspurigen Kommunikationsführung, bei der die Gehirnforschung ihre Befunde anderen Disziplinen vermittelt, sollte es die NeurodidaktikNeurodidaktik als ihre Aufgabe verstehen, den Dialog zwischen den Neurowissenschaften, der Didaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Praxis anzuregen, weiter zu befördern und zu moderieren:3

[…] when asking how neuroscience can be useful to education it is insufficient to focus solely on our current understanding of brain function. Efforts to make change may be wasted if they are not accompanied by a reflection on how the translational process can be efficiently organized. (Sigman et al. 2014: 500)

Um darstellen zu können, wo sich der vorliegende Band verortet und wie versucht wird, den translationalen, reflektierenden und vermittelnden Auftrag zu erfüllen, werden im Folgenden zunächst kurz bisherige Entwicklungsströmungen und mögliche Positionen im Feld der bisherigen NeurodidaktikNeurodidaktik umrissen und vor diesem Hintergrund eine Positionierung vorgenommen.

Didaktik und Neurowissenschaften

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