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1.1.1 DistanzierungDistanzierung

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In den o.g. Disziplinen sowie in weiteren finden sich Vertreterinnen und Vertreter, die den Neurowissenschaften skeptisch bis verschlossen gegenüber stehen.1 Der Wert, teils auch die Aussagekraft und Finalität (vgl. Schirp 2003: 304) oder Genauigkeit neurowissenschaftlicher Studien wird von ihnen infrage gestellt. Oftmals wird die Relevanz der eigenen Disziplin für die Erkenntnisgewinnung hervorgehoben und argumentiert, dass die Hirnforschung keine Erkenntnisse erbrächte, die nicht durch Studien innerhalb der eigenen Domäne mit mindestens ebenso hoher Genauigkeit und Aussagekraft zu erreichen seien. Ein Vertreter dieser Argumentationslinie ist der Psychologe Bowers (2015), der im Zuge seiner die Meriten der experimentellen Psychologie unterstreichenden Argumentation feststellt, dass „understanding the brain […] irrelevant to designing and assessing teaching strategies“ (Bowers 2015: 601) sei. Er begründet seine Distanznahme u.a. dadurch, dass aus seiner Sicht die Hirnforschung zum Feld der education nichts beizutragen habe, „above and beyond what psychology has already established“ (Bowers 2015: 602) oder jenseits dessen, was die Erziehungswissenschaft und Pädagogik2 sowie jede erfahrene Praktikerin und jeder erfahrene Praktiker ohnehin schon längst wisse (vgl. Schirp 2003: 304).

Oft bestätigen neurowissenschaftliche Erkenntnisse die von anderen Disziplinen generierten Befunde bzw. von Praktikerinnen und Praktikern gewonnene Erfahrungen. Von Neuro-SkeptikerNeuro-Skeptikern wird die Bestätigung auf neurowissenschaftlichem Weg als obsolet betrachtet und nicht als eine Verdichtung des Kenntnisstandes beurteilt (vgl. z.B. Bowers 2015: 603). Der „Tendenz nach betrachtet man Hirnforschung als eine Gefahr“ (Müller 2005: 91) für das eigene wissenschaftliche Fachgebiet, dessen Eigenständigkeit und Relevanz. Aus manchen neuro-skeptischen Argumentationen spricht die Sorge, mit der eigenen Disziplin in den Schatten einer populären und zudem noch sehr medientauglichen Wissenschaft zu geraten.3

Die große Popularität der Neurowissenschaften (vgl. u.a. Becker 2006, Heinemann 2012) seit der durch den Senat der USA ausgerufenen Decade of the Brain (1990–2000), gefolgt von der Decade of the Mind (vgl. Sambanis 2015: 153), bricht zwar trotz neuro-skeptischer Stimmen nicht ein, aber in letzter Zeit kann ein gewisser Rückgang des Interesses bzw. der Akzeptanz beobachtet werden. Dafür scheinen zwei Gründe maßgeblich zu sein: zum einen die (Omni-)Präsenz der Neurowissenschaften bis hinein in die Alltagswelt, die nach der anfänglichen, durch die Entdeckung der bildgebenden Verfahren ausgelösten Faszination zu einer Sättigung oder gar Übersättigung geführt hat und zum anderen die Kritik an der bisweilen zweifelhaften Art der Übertragung von Erkenntnissen bzw. an den Neurowissenschaften selbst.4

Die Neurowissenschaften entwickelten sich seit den 1990ern zu einer „populäre(n) Wissenschaft“ (Heinemann 2012: 42), die in viele Forschungs- und auch Lebensbereiche hineindrängte bzw. hinzugezogen wurde: Hirnforschung und Rechtsprechung (Haben wir einen freien Willen und wo zeigt er sich?), Hirnforschung und Religion (Warum sind gläubige Menschen resilienter?), Hirnforschung und Partnersuche (Partnerwahl mit Hirnscan?), Neurogastronomie (Können durch Aromen biochemische Prozesse ausgelöst und z.B. Stimmungen beeinflusst werden?) und natürlich gehirngerechtes Lernen – was wie ein Widerspruch in sich klingt, denn womit, außer mit dem Gehirn, sollte man denn lernen? In der Tat kann man sich fragen: Wo wird die Hirnforschung eigentlich noch nicht bemüht und was kommt noch alles? (Sambanis 2015: 154)

Die DistanzierungDistanzierung von den Neurowissenschaften wird u.a. durch die Vorläufigkeit mancher Befunde begründet (vgl. Müller 2005: 91), durch die Frage nach deren Geltungsbereich, der Relevanz ihres Beitrags sowie teilweise durch eine Problematisierung im Hinblick auf die Kompatibilität neurowissenschaftlicher Befunde mit denen anderer Disziplinen bzw. mit der Praxis. Häufig werden von Skeptikern Beispiele aufgegriffen, bei denen sehr beherzt oder vorschnell (teilweise von Befunden, ohne Berücksichtigung von bereits vorliegenden Gegenbefunden) auf andere Bereiche, z.B. die Gestaltung von Unterricht, geschlossen wurde.

Auch die mitunter ungenügende Bewusstmachung der Tatsache, dass das „Wissen der Hirnforschung über Entwicklung und Lernen […] oftmals ein „negatives“ Wissen ist“ (Müller 2009: 59), d.h. dass es sich um Wissensbestände handelt, die nicht am gesunden Gehirn gewonnen wurden, sondern an Gehirnen mit Beeinträchtigungen, wird als Argument gegen eine Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Befunde ins Feld geführt.

Die von Skeptikern vorgebrachten Argumente können keineswegs generell als trivial betrachtet werden, aber sie müssen nicht zwangsläufig zu einer Ablehnung der Neurowissenschaften und zu einem Sich-Verschließen ihren Befunden gegenüber veranlassen. Bowers (2015: 601) bemängelt, educational neuroscience sei unwarrented, misleading und trivial. Im Zuge der Konzeption eines Neuansatzes zur Aufschlüsselung neurowissenschaftlicher Evidenz für die Didaktik kann dieses Urteil, selbst wenn es auf den ersten Blick tendenziell recht pauschal abwertend anmutet, nicht leichtfertig übergangen werden, zumal es vom Autor minutiös untermauert wird.5 Vielmehr sollte es zur kritischen Auseinandersetzung anregen und zu der Frage veranlassen, wie es gelingen könnte, Fehlinterpretationen, mangelnde wissenschaftliche Absicherung und Trivialität als mögliche Störfaktoren ernst zu nehmen und im Bemühen um Qualität nach Kontrollmaßnahmen zu suchen (vgl. 1.1.3).

Didaktik und Neurowissenschaften

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