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1.1.2 Direkte Aufnahme
ОглавлениеDie Gegenposition zur DistanzierungDistanzierung bildet die direkte Aufnahme. Sie ist in der Erziehungs- und Bildungstheorie seit den 1990er-Jahren in der Regel als „eine selektive und sporadische RezeptionRezeption“ (Müller 2005: 85) zu finden. Dabei rückt u.a. der Gedanke des Anreicherns der „Bildungstheorie um empirisches Wissen“ (Müller 2005: 88) in den Fokus, verbunden mit dem Ziel, einem „Bedeutungsverlust“ der Bildungstheorien (Müller 2005: 89) entgegenzuwirken. Die Neurowissenschaften werden hier, anders als von Vertreterinnen und Vertretern der unter 1.1.1 referierten Position, nicht z.B. aus Sorge um den Bedeutungsverlust der eigenen Disziplin abgelehnt, sondern im Gegenteil als Ressource betrachtet, um die eigene Relevanz zu erhöhen.
Eine Auswertung der erziehungswissenschaftlichen Publikationen mit Bezügen zu den Neurowissenschaften veranlasst Becker (2006: 11) dazu, von einer „zunehmenden Rezeptionsbereitschaft“ ab den 1990er-Jahren zu sprechen:
Erste Rezeptionsversuche finden sich seit Anfang der 1990er-Jahre insbesondere im Bereich der Bildungstheorie und der pädagogischen Anthropologie, seit Ende der 1990er-Jahre lassen sich zudem verstärkte Rezeptionsbemühungen hinsichtlich schulpädagogischer, insbesondere unterrichtsmethodischer Fragestellungen beobachten. (ebd.)
Hirnforschung und Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft sowie Didaktik haben „mit dem Lernen einen gemeinsamen Gegenstand“ (Müller 2005: 74, kursiv im Original). Preiß prägt, wie weiter oben schon erwähnt, Ende der 1980er-Jahre, den Begriff der NeurodidaktikNeurodidaktik und regt u.a. seinen Schüler Friedrich dazu an, sich mit „Applikationen [von Wissensbeständen der Hirnforschung] in der Didaktik“ (Müller 2005: 75) auseinander zu setzen. Friedrich (1995) betrachtet sowohl die hier unter 1.1.1 beschriebene DistanzierungDistanzierung, also das Ablehnen und Ausblenden der Neurowissenschaften, als auch eine unreflektierte Akzeptanz als Gefahr: Das Sich-Verschließen vor den Erkenntnissen der Hirnforschung belasse, bildlich gesprochen, den Ball im Feld der Neurowissenschaften und zwar dann, wenn er von der Erziehungswissenschaft und Didaktik zu übernehmen wäre. Das führe dazu, dass sich Nicht-Experten für das institutionalisierte Lernen zuständig fühlten und „kenntnisfrei über pädagogische Sachverhalte“ äußerten (Müller 2005: 75). Viele Befürworterinnen und Befürworter der direkten Aufnahme beurteilen dies kritisch und sehen sich mit ihrer Expertise für pädagogische Sachverhalte in der Pflicht, tätig zu werden und sich sozusagen vor Übergriffen zu schützen – obschon, zumindest bei einer engen Auslegung, die Entlehnung von Wissensbeständen aus den Neurowissenschaften auch als Übergriff gedeutet werden könnte.
Bei unreflektierter Akzeptanz der Neurowissenschaften bestehe die Gefahr darin, „Begriffe und Erkenntnisse im Sinne einer Modeerscheinung […] naiv zu übernehmen“ (Müller 2005: 76). Aber nicht nur mangelndes Verständnis für neurowissenschaftliche Forschung, sondern auch fehlende pädagogische und didaktische Expertise können zu falschen Schlüssen und trivialen Applikationsversuchen führen. In der Tat stellt die Übertragung von einer Disziplin in die andere eine Herausforderung dar, die als Prozess sorgsam gestaltet werden muss. Gleiches gilt für die Übersetzung von Wissenschaft in die Praxis, die, damit ein Anwendungsbezug zum Praxisfeld möglich wird, oftmals dazu zwingt, Hochkomplexes auf eine einigermaßen griffige Formel zu bringen und in verständlicher Sprache zu kommunizieren.
Kritiker von Applikationsbemühungen greifen aus Neurodidaktiken mitunter Passagen heraus, die, zumindest isoliert betrachtet, den Vorwurf der Trivialität stützen. Beispielsweise schreibt Grein (2013: 8) in ihrer NeurodidaktikNeurodidaktik, dass „[z]wei Faktoren für das Lernen eine bedeutsame Rolle [spielen]: einmal das Gehirn bzw. genauer der CortexCortex […] und zum anderen die Neuronen […].“ Aus zwei Gründen mag diese Aussage in Kritikeraugen naiv oder trivial erscheinen: Zum einen besagt sie, dass es zum Lernen ein Gehirn braucht, was in etwa genauso erhellend ist, wie die Feststellung, dass Lungen recht vorteilhaft sind, wenn man gerne atmen möchte. Zum zweiten sind beide genannten Faktoren, nämlich „einmal das Gehirn […] und zum anderen die Neuronen“ (ebd.) unter dem einen Faktor namens Gehirn bereits subsummiert. Analog braucht man zum Atmen die Lungen samt ihren Lungenbläschen, ohne die Bläschen wäre Atmen ein ebenso fruchtloses Unterfangen wie der Versuch, ohne Neuronen im Gehirn lernen zu wollen. Die Tatsache, dass stellenweise solche eher wenig gehaltvollen Aussagen in Neurodidaktiken zu finden sind, muss aber nicht unbedingt als Naivität interpretiert werden, sondern kann – dies ist als Denkimpuls, nicht als Rechtfertigung oder Ausrede gemeint – auch als ein Hinweis darauf gewertet werden, wie schwierig dieses Unterfangen des Übersetzens auf mehreren Ebenen im Grunde ist.
Ähnlich verhält es sich mit dem Kritikpunkt der geringen Spezifität und hohen Allgemeingültigkeit von manchen Neurodidaktiken: Entweder, die NeurodidaktikNeurodidaktik bezieht sich nur auf einen umgrenzten Gegenstandsbereich, z.B. das Sprachenlernen, bzw. auf einen Bildungsabschnitt (frühe Kindheit, Schulzeit, Erwachsenenbildung, Lernen im Alter) oder sie leitet aus den Forschungsergebnissen eher allgemeingültige „Lehren für die Didaktik“ ab (Müller 2005: 77). Dieser „eher moderaten neurodidaktischen Position“ (ebd.) werden u.a. Preiß und Friedrich zugeordnet, die daneben auch speziell zum Bereich der frühen mathematischen Bildung entwickelnd und publizierend tätig waren (u.a. 2004, 2009).
Im Jahr 2009 erschien die erste Auflage des „Handbuch[s] für den Schulerfolg“, in dem der Professor für zelluläre Neurobiologie Korte u.a. die „sieben Säulen des kindlichen Lernens“ (Korte 2011: 31ff.) herausarbeitet und in gut verständlicher Sprache viel Wissenswertes aus seinem Fachgebiet und angrenzenden Teildisziplinen darstellt. Obschon der Titel nicht ausdrücklich auf eine NeurodidaktikNeurodidaktik schließen lässt und das Buch sich vorrangig an Eltern, richtet,1 enthält es doch zahlreiche, mithin recht konkrete Hinweise, die als pädagogisch oder didaktisch einzuordnen und auch unterrichtsmethodisch nutzbar sind. Beispielsweise rät der Autor, komplexe Aufgaben zu untergliedern (vgl. ebd.: 55), Neues mit bereits Bekanntem zu verknüpfen (vgl. ebd.: 79), Lernen durch Lehren zu ermöglichen (vgl. ebd.: 251) und Methodenwechsel einzuplanen, um damit die Neugierde zu wecken und die Aufmerksamkeit zu erhöhen (vgl. ebd.: 296). Mit Kortes Buch liegt ein weiteres Beispiel für eine moderate Position der direkten ApplikationApplikation vor. Zugleich steht seine Erwähnung an dieser Stelle stellvertretend für jene Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler, die das Übersetzen der Erkenntnisse in das Feld der Erziehung und Bildung selbst übernehmen.
Eine weniger gemäßigte Position vertritt u.a. die Schulpädagogin Arnold, die einen „Paradigmenwechsel“ (2002: 129) fordert und letztlich ein hohes Konkretisierungsniveau anstrebt. Sie nimmt Bezug auf zu jener Zeit aktuelle Erkenntnisse der amerikanischen Gehirnforschung und fordert Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen, nämlich auf Ebene der Lehrkräfteausbildung, der des „gehirngemäße[n] Lernen[s]“ (Arnold 2002: 235) und der der Curriculumsentwicklung. In Aspekte einer modernen NeurodidaktikNeurodidaktik stellt Arnold Kriterien zusammen, die sich ihr zufolge „direkt aus der Gehirnforschung ableiten lassen“ (ebd.: 236). Dazu zählen u.a. „Emotionen als ‚Türöffner‘ “ (ebd.), die Relevanz von „unmittelbarer Gegenwartserfahrung“ (ebd.: 238), die Multiple Intelligences nach Gardner (vgl. ebd.: 239) und der Einfluss der eigenen Persönlichkeit auf das Lernen (vgl. ebd.: 241). Darauf aufbauend zieht sie didaktische Schlüsse in Form von „acht gehirnmäßigen Elementen“, darunter Angstfreiheit, sinnvolle Inhalte, Wahlmöglichkeiten und unmittelbare Rückmeldung (ebd.: 242). Müller (2005: 77f.) kritisiert, dass Arnold sehr schnell zur Frage nach Schlussfolgerungen übergehe ohne die eigene Position zu analysieren.
Als Gegenbeispiel führt er die Allgemeine Pädagogin Scheunpflug an, ebenfalls eine Vertreterin der Aufnahme von Erkenntnissen aus der Gehirnforschung. Sie stellt fest, dass „die Psychologie oder die Soziologie [schon lange] erklärte Bezugswissenschaften der Erziehungswissenschaft“ seien (Scheunpflug 2000: 47). Anders verhalte es sich mit der Biologie, deren „Erkenntnisse […] für die Pädagogik rezipiert und [ebenfalls] fruchtbar gemacht werden“ sollten (ebd.). Scheunpflug strebt einen „Kompromiss zwischen Genauigkeit und Verständlichkeit“ (ebd.: 48) an und äußert sich „didaktischen Rezeptologien“ (Müller 2005: 81) gegenüber skeptisch. Dennoch formuliert auch sie im Sinne einer didaktischen Aufschlüsselung neurowissenschaftlicher Wissensbestände zum Zwecke der ApplikationApplikation mehrere Folgerungen, die sie für plausibel erachtet. Schnittmengen finden sich mit anderen neurodidaktisch ausgerichteten Arbeiten, z.B. bei dem Hinweis auf den Einfluss von Emotionen auf Lernprozesse oder bei der Bestätigung der Sinnhaftigkeit des Nutzens unterschiedlicher Lernzugänge.
Allen erwähnten sowie weiteren Vertreterinnen und Vertretern des in diesem Teilkapitel umrissenen Rezeptionsmusters ist gemein, dass sie zumindest einen Teil der von den Neurowissenschaften generierten Befunde für relevant erachten, diese aufschlüsseln und in Lehr-Lern-Kontexten nutzbar machen wollen, wobei das lineare Modell des „Import[s] neurowissenschaftlichen Wissens in die Didaktik“ (Müller 2005: 83, kursiv im Original) zur Anwendung kommt.
Vertreterinnen und Vertreter dieses Vorgehens haben vor allem dazu beigetragen, ausgewählte Befunde ins Licht der Aufmerksamkeit jener zu rücken, die auf unterschiedlichen Ebenen, z.B. in der Bildungspolitik, in Bildungsinstitutionen, in der Lehrkräfteausbildung etc. bis hinein in die Familien, Erziehung und Bildung gestalten. Dieser Beitrag ist, ohne die Begrenzungen des linearen Ansatzes negieren zu wollen, zu würdigen und stellt gewissermaßen wissenschaftshistorisch – falls der Begriff in diesem Zusammenhang als zulässig erscheint – einen wichtigen Meilenstein dar.
Die Kritik an dieser Position setzt bei der Linearität des Vorgehens an, die das neurodidaktische Unterfangen letztlich auf eine Entlehnung von Wissen reduziert, was dazu führt, dass nicht wirklich der Versuch unternommen wird, einen wechselseitigen Dialog in Gang zu bringen. Das Ziel der direkten ApplikationApplikation ist vielmehr das Vorlegen einer „neurowissenschaftlich ausgewiesene[n] Didaktik“ (Müller 2005: 83) oder, je nachdem worin Ausgangspunkt und Ziel liegen, der Versuch einer zumindest augenscheinlichen wissenschaftlichen Absicherung von didaktischen ÜberzeugungenÜberzeugungen, Beliefs oder methodischen Konzepten bzw. unterrichtlichen Impulsen. Diese Intention verfolgten, um ein konkretes Beispiel, in diesem Fall aus der Fremdsprachendidaktik, zu nennen, Vertreterinnen und Vertreter der Suggestopädie. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der beeindruckende Lernerfolge in Aussicht stellt und mit Suggestion zur Steigerung der Gelingenszuversicht der Lernenden sowie dem Induzieren von Entspannungszuständen durch klassische oder barocke Musik arbeitet. Musik soll außerdem als ein „Katalysator für die LangzeitspeicherungLangzeitspeicherung von Wissen“ wirksam werden (Jäncke 2008: 203). Um die Glaubwürdigkeit des Ansatzes und den Marktwert zugehöriger Produkte zu erhöhen, wurden neurophysiologische und neuropsychologische Befunde entlehnt. Die direkte Anwendung ist in diesem und ähnlichen Fällen sehr kritisch als Legitimationsversuch durch Befunde der Hirnforschung, als Bemühen um Aktualität und als Erhöhung der Attraktivität durch den Anstrich der Wissenschaftlichkeit zu deuten. Sie stellt ein Beispiel für die – ohne Euphemismus formuliert – „Instrumentalisierung neurowissenschaftlicher Wissensbestände“ (Müller 2005: 84) dar. Dabei ist in der Regel in solchen Fällen das Vorgehen höchst selektiv, d.h. es wird ausschließlich nach Befunden gesucht, die die eigene Position stützen und diese werden isoliert dargestellt, was ethisch fragwürdig erscheint, dem Ansehen der eigenen Disziplin schadet und mitunter auch die Glaubwürdigkeit neurowissenschaftlicher Evidenz in Mitleidenschaft zieht (vgl. Sambanis 2015: 157). Auch die Vorläufigkeit mancher Befunde – die Neurowissenschaften sind überaus forschungsaktiv, das Feld ist hochdynamisch und die Erforschung des Lernorgans Gehirn noch lange nicht abgeschlossen2– wird in solchen Fällen selten in der gebotenen Weise berücksichtigt. Im Hinblick auf die Suggestopädie kommt daher der Musikneurologe Jäncke (2008: 233–234) zu folgendem Schluss: „Die von der Suggestopädie und verwandten Methoden propagierte Wirkung von passivem Musikhören auf das Lernen (vielfältiger Inhalte) hält keiner ernsten wissenschaftlichen Überprüfung stand. […] Auch die immer wieder propagierte Wirkung des passiven Hörens von Barockmusik auf das Lernen ist wissenschaftlich nicht bestätigt.“3
Auf der Basis der mit der direkten ApplikationApplikation in den zurückliegenden Jahren gewonnenen Erfahrungen ist es möglich, Überlegungen zu einer Weiterentwicklung der neurodidaktischen Vorgehensweise anzustellen. Als Ansatzpunkt dafür soll das dritte Rezeptionsmuster dienen.